Serie, Teil 14, WOANDERS GELESEN, hier Hessische Lehrerzeitung (HLZ) 7/8 2014: LERNORT MUSEUM

Rainer Roth

 

Walldorf/Hessen (Weltexpresso) - In Walldorf gibt es einen Lehrpfad, der von einer jährlich wechselnden Abiturklasse der Bertha-von-Suttner-Schule in Mörfelden-Walldorf betreut wird. Er erzählt die Geschichte des KZ-Außenlagers Walldorf, die Jahrzehnte lang verleugnet wurde, eine Geschichte, die nicht zuletzt von einer Schulklasse dieser Gesamtschule wieder lebendig gemacht wurde.



Wer weiß schon, wenn er von Frankfurt aus in Urlaub fliegt, dass die Fundamente der ersten Rollbahn des Flughafens ab August 1944 unter Beteiligung von 1.700 aus dem KZ Auschwitz angeforderten jüdischen Mädchen und Frauen gelegt wurden? Wer weiß schon, dass die 1.700 Frauen für die Firma Züblin arbeiteten, einen Baukonzern, der in Frankfurt gerade für voraussichtlich 1,3 Milliarden Euro mit Hilfe polnischer und bulgarischer Subunternehmen die Europäische Zentralbank errichtet? Wer weiß schon, dass zur Unterbringung der Frauen in Walldorf direkt am Flughafen ein KZ eingerichtet wurde, das der SS unterstellt war?



An die SS als damaligen Subunternehmer zahlte Züblin damals vier Mark pro Tag für jede Frau. Der Konzern fühlt sich bis heute nicht dafür verantwortlich, dass die „Arbeitskleidung“ mancher Frauen im Winter 1944 aus Sommerkleidchen bestand. Sie trugen sie im August 1944, als sie in Viehwaggons herangekarrt wurden. Auch dass sie sich gegen die Kälte mit dem Papier von Zementsäcken schützten, interessierte nicht. Ob sie Schuhe hatten, auch nicht. Hunger war der tägliche Begleiter. Prügelstrafen erwarteten die, die eine Kartoffel aus der Küche entwendeten. Einige Frauen wurden zu Tode gequält.

 

Bis heute hört man von Züblin auch nicht ein einziges Wort des Bedauerns. Als die Alliierten näher rückten, wurden die Frauen ins Vernichtungslager Ravensbrück transportiert. Nur 200 überlebten.



Cornelia Rühlig, die Stadthistorikerin, und eine Schulklasse machten sich in den 1990er Jahren auf die Suche nach Überlebenden. Eine Klassenfahrt führt nach Ungarn, wo noch einige der Frauen leben. Die Schulklasse bittet Züblin um ein Zeichen der Wiedergutmachung. Sie erhält keine Antwort.



Im November 2000 treffen 19 der ehemaligen KZ-Häftlinge in Walldorf ein. Sie kamen auf Einladung der Stadt aus Ungarn, Schweden, Israel und den USA. Sie erzählten, was sie erlebt hatten. Die Frauen wurden in Auschwitz für den Arbeitseinsatz selektiert. Sie durften nicht zu jung sein und nicht zu schwach. Die 13-jährige Vera Dotan entkam dem Gas nur, weil ihre Mutter sie für älter ausgab. 2008 besuchte sie mit ihrer Enkeltochter die Stätte ihres Leidens und den Geschichtslehrpfad in Walldorf (siehe Foto). Die Schülerinnen und Schüler lernen die Geschichte Deutschlands auf eine erschütternde Art kennen und sie leiden mit.



All das haben Malte Rauch, Berhard Türcke und Eva Voosen in einem bewegenden Film dokumentiert. Auch die Worte von Dr. Petersen, des Abgesandten der Firma Züblin, der angesichts der schrecklichen Schilderungen und der bohrenden Fragen freundlich versicherte, dass er nicht mehr tun könne als zuhören. Firmen hätten eben ihre eigenen Regeln. „Wir setzen Maßstäbe“, heißt es auf der Website des Konzerns. Wenn die Geschichte der ersten Rollbahn nicht durch die Medien gegangen wäre, wäre Herr Petersen gar nicht erst erschienen.



Magda Hollander-Lafon war eine der Frauen des KZ-Außenlagers Walldorf. Sie lebt in Frankreich. Als sie vom Ausspruch eines französischen Faschisten erfährt, dass in Auschwitz nur Läuse vergast worden seien, entschließt sie sich, ihre Erinnerungen in einem Buch niederzulegen. In Frankreich wurde sie für dieses Buch ausgezeichnet. Es erreichte eine hohe Auflage und wurde in mehrere Sprachen übersetzt, darunter im September 2013 ins Deutsche.



In Deutschland dagegen ist es ziemlich still. Magda Hollander-Lafon kommt im September 2014 auch in die Rhein-Main-Region, um ihr Buch vorzustellen. Aus diesem Anlass soll auch der Film „Die Rollbahn“ gezeigt werden. Schülerinnen und Schüler der Bertha-von-Suttner-Schule Mörfelden-Walldorf haben ihre Teilnahme zugesagt. Genaue Angaben folgen in der nächsten HLZ.



INFO:

Der 90-minütige Film eignet sich hervorragend für Schulklassen, die sich auf lebendige und eindrucksvolle Art mit einer Geschichte befassen wollen, die noch nicht vergangen ist. Er kann als DVD über Diese E-Mail-Adresse ist vor Spambots geschützt! Zur Anzeige muss JavaScript eingeschaltet sein! für 20 Euro bestellt werden. Mehr über den Film erfährt man unter www.basisfilm.de/rollbahn/11_pm_rollb.pdf.



Magda Hollander-Lafon: Vier Stückchen Brot. Eine Hymne an das Leben. Verlag adeo 2013, 144 Seiten, 12,99 Euro