Wie die Stadt Frankfurt die DDR-Bürger willkommen hieß und beim Aufbau Ost half

 

Stefan Röttele, Siegrid Püschel und pia

 

Frankfurt am Main (Weltexpresso) – Die Einheitsfeiern werfen den Blick nach vorne und arbeiten auch historisch auf. Der Fall der Mauer war ein welthistorisches Ereignis, dessen Auswirkungen in Frankfurt nämlich bereits am Folgetag spürbar wurden. 10.000 DDR-Bürger kamen allein am ersten Wochenende in die Mainmetropole.

 

Die Stadtverwaltung – vor allem das Ausgleichsamt – zeigte sich angesichts dieser Ausnahmesituation flexibel und gastfreundlich. Später übten Mitarbeiter aus dem Sozialamt der Stadt Frankfurt Solidarität, indem sie in der Partnerstadt Leipzig am Aufbau des Sozialstaats nach westdeutscher Prägung mitwirkten.

 

9. November 1989, die Mauer fällt. Tags darauf macht sich das auch in Frankfurt bemerkbar. Roland Frischkorn, heute Vorsitzender des Sportkreises Frankfurt, damals junger Referent im Sozialdezernat von Christine Hohmann-Dennhardt, erinnert sich noch gut: „Es war am frühen Morgen. Ich war an diesem Tag als erster ins Büro gekommen, deshalb nahm ich auch den Telefonanruf entgegen. Es war jemand vom Ausgleichsamt in der Barckhausstraße. In der mit Trabis zugeparkten Straße hatten sich hunderte Ostdeutsche versammelt, die zuvor die Nacht durchgefahren waren. Er fragte mich, was zu tun sein. Ich überlegte nicht lange, sondern entschied: auszahlen!“

 

 

Nicht auf einen Ansturm gefasst

 

Das Ausgleichsamt, heute in der Stadtverwaltung nur noch eine Kennziffer einer Unterabteilung im Frankfurter Jugend- und Sozialamt, war in den Jahren nach dem Krieg und während der deutschen Teilung ein eigenes Amt mit über einem Dutzend Mitarbeitern. Diese waren zunächst dafür zuständig, Rechts- und Besitzfragen in Zusammenhang mit den im Zweiten Weltkrieg verlorenen deutschen Ostgebieten und der deutsch-deutschen Teilung zu klären. Der Einfachheit halber war es auch verantwortlich dafür, DDR-Bürgern, die in den Westen flüchteten oder ausreisten, ein Begrüßungsgeld in Höhe von 100 D-Mark auszuzahlen. Auf einen Ansturm wie dem am 10. November 1989 war das kleine Amt nicht vorbereitet.

 

 

Mischung aus Geduld und Neugier

 

Die Mauer war an einem Donnerstag gefallen, es war Freitag und die Stadtkasse hatte früh geschlossen. „Also bin ich losgezogen, um Geld zu besorgen“, erzählt Frischkorn. Bis heute erinnern er und die Mitarbeiter des Ausgleichsamts sich an die Stimmung der Menschen, die da warteten: Feierlaune gemischt mit Schüchternheit und Neugier anstatt Ungeduld. Die Verwaltung reagierte schnell auf den Ansturm: Ganz unbürokratisch wies der einzige Mitarbeiter, der für die Auszahlung zuständig war, seine Kollegen ein. Das ganze Amt zog an einem Strang, alle zusammen kümmerten sich um die Auszahlungen.

Unkonventionelle Lösungen

 

Allein an diesem ersten Wochenende nach dem Mauerfall sollen über 10.000 Menschen aus der DDR nach Frankfurt gekommen sein. Nicht nur Geld war gefragt, auch Schlafplätze wurden benötigt – nicht jeder hatte schließlich Westverwandtschaft, Freunde oder Bekannte in der Stadt. Der Rektor der Bettinaschule, die nahe der Barckhausstraße ihren Sitz hat, stellte die Schulturnhalle zur Verfügung. Sozialdezernentin Christine Hohmann-Dennhardt einigte sich über die kurzfristige Sondernutzung mit ihrer Kollegin, der damaligen Schuldezernentin Jutta Ebeling. Die Besucher aus der DDR konnten in der Turnhalle übernachten und wurden vom Deutschen Roten Kreuz mit Essen, Handtüchern und Zahnbürsten versorgt.

 

 

Neues Land, neue Aufgaben

 

Der Ansturm derjenigen, die sich den Westen anschauen wollten, hielt noch für einige Wochen an. Mit der unverhofften Reisefreiheit begann ein Prozess, der knapp ein Jahr später in der Deutschen Einheit münden sollte. Mit zunehmender Konkretisierung kamen neue Aufgaben. Diesmal stellte sich die Frankfurter Sozialverwaltung in den Dienst der deutsch-deutschen Zukunft. Nicht in Frankfurt, sondern in der Partnerstadt Leipzig. Norbert Radgen, heute Leiter des Sozialrathauses Bornheim, war einer der fünf, die damals als Delegation nach Leipzig entsandt wurden. „Anfangs ging es nur darum, eine Fortbildung zu leiten. Ich wusste überhaupt nicht, was auf mich zukommen würde“, stellt Radgen klar. Am Ende dauerte sein Einsatz im Osten ein ganzes Jahr.

 

 

Deutsch und doch unbekannt

 

Der Osten war Neuland für den damals jungen Familienvater. „Ich hatte bis dahin kaum eine persönliche Beziehung zur DDR. Mit einem Kumpel war ich einmal über die Transitstrecke nach Berlin gefahren. Da kam mir alles ziemlich beklemmend vor. Wirklich gesehen von dem Land hatte ich aber nichts.“ Das sollte sich ändern. Immer im zweiwöchigen Wechsel mit einem Kollegen pendelte er nach Leipzig, das erste Mal im Frühjahr 1990. „Meine Frau hat später mal gesagt: So schwarze Hemdkragen wie in dieser Zeit hattest du vorher und nachher nie wieder.“ Die Abgase der Braunkohle, mit der in der DDR fast ausschließlich geheizt wurde, hingen damals überall in der Luft.

 

Im Zuge der Wirtschafts- und Währungsunion sollte auch die Sozialunion vollzogen werden. Doch entsprechende Strukturen mussten erst aufgebaut, die künftigen Behördenmitarbeiter erst auf das Bundessozialhilfegesetz hin geschult werden. Das war Radgens Aufgabe. Frankfurt teilte sich damals die Arbeit mit Hannover, das ebenfalls Partnerstadt Leipzigs war. „Wir waren für das Soziale, die Hannoveraner für das Jugendamt zuständig.“

 

 

Aufmerksame Schülerinnen

 

An seine erste Schulungseinheit in einem Leipziger Feierabendheim erinnert sich der Frankfurter bis heute: „Das waren zu 99,5 Prozent Frauen, und sie waren sehr aufmerksam. Sobald ich etwas sagte, gingen die Köpfe nach unten. Alles, aber wirklich alles wurde mitgeschrieben. Diskussionen gab es nicht. Im Laufe der Zeit habe ich dann gemerkt: Da fehlt ja ganz viel. Immer wenn ich Abkürzungen verwendet habe, sah ich in den Gesichtern viele Fragezeichen. Also bin ich näher auf das Gesetzgebungsverfahren eingegangen, habe erklärt, wie das Sozialgesetzbuch entstanden ist und so weiter. Ganz schwierig wurde es immer dann, wenn ich vom Ermessensspielraum gesprochen habe. Die Sozialgesetzgebung gesteht dem einzelnen Mitarbeiter damit eigene Entscheidungen, aber auch eine eigene Verantwortung zu. So viel wie in kaum einem anderen Verantwortungsbereich. Damit konnten die meisten zunächst nichts anfangen. Und ich hatte nichts, auf dem ich aufbauen konnte. Ich kann mich an eine Teilnehmerin erinnern, die bis dahin in einem Viehbetrieb gearbeitet hatte.“

 

 

Von den Menschen im Osten viel gelernt

 

Ganz wichtig sei es ihm dennoch gewesen, den Menschen auf Augenhöhe zu begegnen. „Ich habe sehr viel von den Menschen dort gelernt.“ Zum Beispiel sei es selbstverständlich gewesen, dass im Winter zum Heizen jeder eine Schippenladung mit Kohlen von daheim mit ins Amt gebracht habe. Für eine zusätzliche Zahlung von 25 Ostmark hätten viele zudem ihr Büro selbst geputzt. „Ich habe auch gelernt, bei allem zweimal hinzuschauen. Das lag daran, dass ich mir zur Aufgabe gemacht habe, immer zu erklären, wie ich zu meiner Meinung komme.“

 

Besonders enge Kontakte zwischen Lehrern und Schülern habe es allerdings nicht gegeben. „Die Mitarbeiter dort mussten ja auch alle auf ihre Vergangenheit hin überprüft werden. Ich habe teilweise nicht gewusst, wem ich trauen kann. Die alten SED-Netzwerke funktionierten zu diesem Zeitpunkt noch.“ Und so blieben die Frankfurter nach Feierabend eher unter sich, zeitweise teilten sie sich sogar eine Gemeinschaftsunterkunft in einem Altenpflegeheim im Außenbezirk Grünau. Damals herrschte Wohnraummangel in Leipzig. „Das war schon kurios, weil da dann auch Pfleger herumliefen. In der Innenstadt konnte ja niemand wohnen damals. Da wuchsen teilweise die Birken aus den Häusern.“ Die gemeinsamen Abende seien allerdings „unglaublich wichtig“ gewesen für den fachlichen Austausch. „So konnten wir unsere Erlebnisse des Tages aufarbeiten.“ Natürlich, schiebt Radgen nach, habe man auch mal Bier getrunken und Fußball geschaut.

 

 

Die einen kamen zurück, die anderen blieben

 

Radgen hatte schon früh entschieden, dass er nach einem Jahr nach Frankfurt zurückkommen werde. „Meine Kinder waren einfach noch zu klein. Ich habe das mit meiner Frau so besprochen. Das war der Deal. Ich konnte mir das damals auch einfach nicht vorstellen, nach drüben zu gehen.“ Andere blieben auch nach dieser Übergangszeit im Osten, Walter Köhl, bis dahin in Frankfurt stellvertretender Amtsleiter, übernahm sogar die Leitung des Sozialamts in Leipzig. Aber auch Radgen hat bis heute zu einigen Leipzigern Kontakt. Mit einer Kollegin einer Außenstelle des Leipziger Sozialamts tausche er sich noch regelmäßig aus. Gelegentliche Lehrgänge führten ihn auch kurzzeitig wieder zurück. „Und wenn ich heute nach Berlin will, fahre ich immer über Leipzig. Das ist eine wunderschöne Stadt geworden.“

 

 

Info:

Bei dem Erzählcafé „Von wegen Amtsschimmel – flexibel und solidarisch begegnete die Frankfurter Verwaltung dem Fall der Mauer“ kommen weitere Protagonisten der Frankfurter Leipzig-Mission zu Wort. Termin: Mittwoch, 30. September, 19 Uhr, im Haus am Dom, Domplatz 3. Der Eintritt ist frei.