Ein Gedächtnis der Stadt Frankfurt dokumentiert unter: „Vom Aufbrechen und Ankommen“
Heinz Markert
Frankfurt am Main (Weltexpresso) – Das Historische Museum Frankfurt hat für das Jahr 2015 eine transkulturelle Autorenschaft von Geflüchteten, Studierenden der Goethe-Universität, von 'aeWorldwide' und 'Teachers on the Road' zusammengefügt. 'Die Bibliothek der Alten ist ein künstlerisches Erinnerungsprojekt von Sigrid Sigurdsson *). Mit einer Laufzeit von 105 Jahren (2000-2105) ist es ein generationenübergreifend angelegtes „Offenes Archiv“ **), das sich dem alternativen Gedächtnisprotokoll der Stadt zurechnet.
Die Autorenschaften bilden eine Dreiheit. Eine erste Autorenschaft geht an den Bundesverband der Migrantinnen e.V., eine zweite an den Club Voltaire und eine dritte an das kooperative Projekt „Vom Aufbrechen und Ankommen“, verbunden mit der intensiven biografischen Auseinandersetzung mit der Asylsituation, geknüpft auch an die akademische Interessenvermittlung 'Academic Experience Worldwide (ae)' und an 'Teachers on the Road' (mit Ulli Tomaschowski, dem Gründer). Letztere Initiative schon besprochen in Weltexpresso mit: '„Moses e.V.“, „Teachers on the Road“ und „Al Karama“'.
Migrantinnen
Die Beschreibung der Situation des Bundesverbandes konstatiert: 'über Migrantinnen, speziell über türkische und kurdische Frauen, kursieren viele stereotype Bilder und Vorurteile'. In der Bibliothek der Alten stellen die Repräsentantinnen des Bundesverbands 'die ganze Bandbreite ihrer Aktivitäten und Tätigkeitsfelder sowie über die Geschichte des Bundesverbandes' dar. Der Verband fügt sich in die Bibliothek der Alten, denn er wurde 2005 aus einer Selbsthilfegruppe heraus gegründet.
Der Verein fördert die politische Integration und Partizipation der Migrantinnen, ihre umfassende Teilhabe in allen gesellschaftlichen Teilbereichen, sowie bemüht er sich ausdrücklich um den 'Ausbau des interkulturellen Dialogs und Austausches'. Frauen aller Nationen sollen sich 'besser kennenlernen', sich 'näher kommen' und langfristige Kontakte knüpfen. Ausdrücklich heißt es: 'Was wir nicht wollen sind Parallelgesellschaften'.
Es finden sich 'niedrigschwellige Angebote' in verschiedenen Stadtteilen Frankfurts, so in Ginnheim (Nachbarschaftsbüro) und Niederrad (Caritas). Abgesehen von der Förderung von Information und Partizipation 'engagiert sich der Verein gegen rassistische
Ressentiments und gegen die öffentlich-mediale Konstruktion von Stereotypen, deren Gegenstand zumeist Frauen sind'. Ein Teilprojekt erstellt auch ein Weibliches Wörterbuch.
Club Voltaire
Die Autorin und Publizistin Barbara Bromberger wird für den Club Voltaire die über 50jährige Geschichte des Clubs nachzeichnen. Der Club Voltaire gilt als der wohl älteste politisch-literarische Club seit dem Bestehen der Bundesrepublik. Er ist mit dem Namen des Mitgründers Heiner Halberstadt, der noch heute regelmäßig mitwirkt, eng verbunden. Die - gemäß Darstellung des Clubs Voltaire e.V. - 'legendäre Wirtin der Clubkneipe', Else Cromball, feiert in diesen Tagen ihren 80. Geburtstag. Der Club ist zu Beginn der 1960er Jahre 'als Treffpunkt für Arbeiter und studentische Jugend, für Linke und kritische Intellektuelle entstanden, die teilweise aus den eher anpassungsbereiten Organisationen der Sozialdemokratie und der Gewerkschaften hinausgedrängt wurden...'. Für den Autor dieser Zeilen ist zentral in Erinnerung ein offenes Geständnis am Nachbartisch geblieben, mit dem ein Club-Voltaire-Gänger während der kampfgeprägten Zeit der Sechziger die Not und den Reiz der Einsamkeit in der laufenden zwiegeschlechtlichen Beziehung ansprach.
Der Club entsprach einem 'Bedürfnis junger Leute' nach einer dem lähmenden politisch-kulturellen Hauptstrom entzogenen Gegenöffentlichkeit - 'zwischen Banken, Edel-Italienern, Feinkostgeschäften und Boutiquen', im seitlichen Umfeld der Frankfurter Freßgass'. Das war die bestimmende Ausgangslage für seine Gründung. Prägend für den Club war auch die zu jeder Stunde vertretene intellektuelle Programmatik Voltaires: „sich“, wie es Kant dann knapp formulierte, „seines Verstandes ohne Leitung eines anderen zu bedienen“. Der Club Voltaire ist in Frankfurt zu einer nicht wegzudenkenden Institution geworden, weswegen ihm das Stadtsäckel auch noch nicht die geringe Unterstützung entzogen hat.
Die Publizistin Barbara Bromberger fasst alles sichtend und bewertend zusammen, was sich in und rund um den Club an dokumentarischen Belegen angesammelt hat. Auch Zeitzeugen werden befragt. Unter anderen waren Christa Wolf und Anna Seghers Vertreterinnen jener aufgeklärten Zunft, die den Club Voltaire beehrten. Der Club blieb stets unterfinanziert.
Das Kooperationsprojekt „Vom Aufbrechen und Ankommen“
Dieses Projekt ist verbunden mit :
-
Puneh Henning, Stipendiatin für Migration und kulturelle Vielfalt des hmf, Projektleiterin „Vom Aufbrechen und Ankommen“
-
Ann-Cathrin Agethen, Studierende der Goethe-Universität, Projektleiterin „Vom Aufbrechen und Ankommen“
-
Ulli Tomaschowski, Teachers on the Road, Co-Autor für „Vom Aufbrechen und Ankommen“
-
Merle Becker, Acadamic Experience Worldwide (aeWorldwide), die Initiative für die Interessenvertretung der hochqualifizierten Geflüchteten. Diese werden in jeweiligen Tandems von Studierenden und Geflüchteten zusammengebracht.
*) 'Bis zum Jahr 2105 entsteht ein alternatives Stadtgedächtnis 'aus Erinnerungen und Berichten von Menschen unterschiedlicher Alters- und Berufsgruppen, mit verschiedenen Interessen und verschiedener Herkunft'. Als ein „Offenes Archiv“ wird es zum Konvolut, zum fortgeführten Bündel, 'das über die Jahre beständig wächst und in dem Lebensgeschichten und Forschungsarbeiten, Filme und Fotografien, Dokumente und Tonbänder, Bücher, Zeichnungen und andere Erinnerungsdinge gesammelt werden'. (komprimiert nach dem Faltblatt des hmf )
**) Im Unterschied zu den alteingeführten Archiven, die 'häufig jedoch erstarren und nur von wenigen Menschen gelesen und reflektiert werden, bieten die in den 1970er Jahren konzipierten und seit den 1980er Jahren realisierten „Offenen Archive“ einen sich beständig erneuernden Vorgang an.' - 'Am Ende steht ein [offen-archivarisch] begehbares Bild, das um ein geschichtliches Thema kreist, dessen Fäden von den Teilnehmern selbst gesponnen werden. Die Zeit kann hier zum Raum werden'. (komprimiert nach dem Faltblatt des hmf )
„Aufbrechen und Ankommen“ ist mit einem Experiment verbunden. Denn was sich am Ende des Säkulums als Erkenntnis herstellt ist nicht antizipierbar. Es ist daher ein wissenschaftlich begleitetes Experimentum-Mundi-Projekt der Geschichtsschreibung.
Foto: © Heinz Markert
Info:
Für Besucher/innen des begehbaren Archivs: 'Jeden Dienstag ist von 14-17 Uhr ein Autor/ eine Autorin der Bibliothek der Alten vor Ort, um interessierten Besuchern das Projekt und einzelne Beiträge zu zeigen. Im Rahmen der Bibliothek der Alten finden regelmäßig Ausstellungen und Veranstaltungen statt, in denen einzelne Autor / innen ihre Beiträge vorstellen'.
historisches museum frankfurt (hmf), Fahrtor 2, 60311 Frankfurt am Main, Tel. (069) 212 35599