Neuauflage des Buches über die Diskriminierung und Ausgrenzung jüdischer Schülerinnen und Schüler in Frankfurt, Teil 3/3
Claudia Schulmerich
Frankfurt am Main (Weltexpresso) - Man kann so ein Buch nicht in einem Zug durchlesen, sondern muß zwischendurch Luft holen, so sehr schneidet der Inhalt einem diese ab, wenn man sich vorstellt, daß an der eigenen Schule, in die man gegangen ist, so etwas passiert wäre. Die Banknachbarin in der Schule abgeholt, weggebracht ins Nirgendwo? Der Nachbarsjunge zu Hause, einfach weg? Wie hätte man reagiert?
Heute kann man sich das nicht anders vorstellen, als daß man protestiert hätte, deutlich 'nein' gesagt hätte und vor allem nachgefragt hätte, wo die Mitschülerinnen und Mitschüler geblieben wären, die auf einmal in den Schulen und in den Wohnungen nebenan verschwunden waren. Und wir geben nicht auf zu glauben, daß auch damals die Bürger Frankfurts mehr hätten tun können gegen die Entmenschlichung, die vor ihren Augen stattfand.
Dieses Buch ist deshalb so wichtig und für Schulen einfach perfekt geeignet, weil in ihm die zu Wort kommen, denen damals das Wort entzogen wurde. Das verstehen auch kleinere Kinder gut. Denn entscheidend ist auch, daß nicht erst, „wenn sie groß“ sind, junge Menschen mit dieser deutschen Vergangenheit konfrontiert werden, sondern wir alle wissen, daß wir damit jeden Tag leben müssen und leben können. Darum sind solche Aktionen wie STOLPERSTEINE so wichtig, weil sie im Alltag täglich vor unseren Füßen liegen. Man kann nicht stündlich über Auschwitz weinen, aber wir können unser öffentliches Leben so einrichten, daß nicht vergessen wird und auch nicht verziehen.
Noch stärker als das Buch hat uns deshalb das Plakat erschüttert, das vom StadtschülerInnenrat Frankfurt/Main herausgegeben in der Tat an jede Frankfurter Schule gehört. Mit der Überschrift NAZI-MORDE heißt es: „Wir fordern an den Schulen Gedenktafeln für die von den Nazis ermordeten jüdischen Kindern und für die ermordeten Kinder der Sinti und Roma“ und dann sind auf dem 80 x 60 Zentimeter großen Plakat 1300 !!! Namen abgedruckt, nämlich die Liste der von den Nazis aus Frankfurt/Main deportierten Kinder und Jugendlichen, von denen über 90 Prozent in den KZs und Vernichtungslagern vom NS-Staat ermordet wurden.
Wenn man das sieht, kann man nur noch schlucken und es erweist sich erneut, daß das größte Grauen in der Konkretheit steckt. Hier im Haus, dort drüben in der Wohnung, um die Ecke in der nächsten Straßen, überall haben sie Juden herausgeholt und in die Lager deportiert. Und die Frankfurter Bevölkerung? Nach allem, was man hört, wütete der Nationalsozialismus in Frankfurt besonders heftig. Warum? Darum muß sich die Stadtgeschichte einfach stärker kümmern, denn der damalige Alltag ist weiterhin wenig erforscht und die Zeitzeugen sterben dahin.
Auf dem Plakat ist übrigens über die kleingedruckten Namen in Rot und in Großbuchstaben GEGEN VERGESSEN UND VERDRÄNGEN gedruckt. Wir finden das tröstlich, daß sich der Frankfurter SchülerInnenrat dieser Verbrechen annehmen und die Forderung nach Gedenktafeln offensiv vertreten. Warum gibt es die nicht längst? Warum haben die bisherigen Nachkriegsgenerationen das nicht gefordert? Das fragt man sich erschrocken, weil man selbst dazugehört. Natürlich, man selbst hatte sich darum gekümmert und jeden Erwachsenen als Kind und Jugendliche hochnotpeinlich nach seiner Vergangenheit im Nationalsozialismus befragt, aber es wäre tatsächlich eine gemeinsame Aktion an jeder Schule nötig gewesen und zwar nicht im Jahr 2016, sondern direkt nach 1945. Die Leute waren mit anderem beschäftigt? Ach ja. Das Weggucken und Verdrängen war ja noch im Gang und das Wirtschaftswunderleben erst mühsam zu erarbeiten. Also wollen wir froh sein, daß heute Schüler solche Tafeln fordern.
Es beginnen die NAMEN mit Abraham, Elfriede, unter ALTER ist das Geburtsdatum verzeichnet, hier 26.8. 25 und daneben wie alt sie waren, als sie umgebracht wurden, hier: 17 Jahre, bei LAGER steht Minsk. Überhaupt ist allein das Lesen der untereinander stehenden Lager eine neue Erschütterung. Wir haben uns angewöhnt – und der 27. Januar leistet dem Vorschub, wenn man das Symbolische daran übersieht – das Grauen vor allem mit dem KZ Auschwitz zu verbinden. Wie viele Lager es gab kann man auf diesem Plakat ersehen und eben auch, daß der Verbleib vieler der Schüler und Schülerinnen ungewiß ist. Dann steht 'unbekannt' dort.
Das so notwendige Plakat, das nicht nur in Schulen hängen sollte, sondern auch in städtischen Einrichtungen, endet mit Zuntz, Miriam, die am 15.5. 34 geboren wurde und mit 8 Jahren in Auschwitz ermordet wurde. Das Grauen findet keine Worte.
Kommentar:
Nur noch mit Scham liest man die letzten Seiten. Dort fragen die aus Frankfurter Schulen deportierten Überlebenden an, daß man ihnen bestätigen möge, daß sie ihrer jüdischen Abstammung wegen, also aus rassischen Gründen der Schule verwiesen wurden, bzw. nicht aufgenommen wurden. Aus den Antworten ab Seite 171: "Es ist uns im übringen nicht bekannt, daß jüdische Schüler wegen ihrer Abstammung 1933 von der Schule verwiesen wurden."(1961) - "Ob für die Juden 1941 tatsächlichkeite Möglichekit bestand, eine andere Schule zu besichen, ist uns hier nicht bekannt."(1954) - "Das Kollegium der Herderschule bestätigt, daß eine zwangsweise Verweisung von der Schule nicht vorgekommen sei." (1957) Diese Antworten setzen noch eins drauf. Und genau diese Antworten müßten heute an den Schulen überprüft werden und zu neuer Einschätzung führen.
Foto: (c) Heinz Markert
Info:
'Berichte gegen Vergessen und Verdrängen von 100 überlebenden jüdischen Schülerinnen und Schülern über die NS-Zeit in Frankfurt am Main', „Der Weg in die Schule war eine tägliche Qual“, herausgegeben von Benjamin Ortmeyer, Protagoras Academicus, 4. Auflage 2016, ISBN 978-3-943059-22-9