Serie: Die anlaufenden Filme in deutschen Kinos vom 1. Juni 2017, Teil 4

Claudia Schulmerich

Frankfurt am Main (Weltexpresso) - Unsereiner hat vor Literaturverfilmungen immer ein gerüttelt Maß Angst. Denn Worte und das Lesen unterliegen einem anderen Sog als es die Filmleinwand kann. Darum wird ja regelmäßig die Verfilmung eines Buches bedauert, selten wird sie als interessanter angesehen als die literarische Vorlage, noch seltener als kongenial, und so was wie diesmal ist ein genialer Ausweg.

Denn die von Eugen Ruge in Verschachtelungen, Rückblenden und verschiedenen Erzählsträngen dargebotene, über ein Jahrhundert und diverse Kontinente verteilte Familiengeschichte der Powileits, erosiert und explodiert hier an einem einzigen Tag, dem 90ten Geburtstag des Hausherrn und Großvaters Wilhelm Povileits (Bruno Ganz). Daß Familienfeste die beste Gelegenheit sind, familiäre Strukturen bloß zu legen, daß solche Feiern durch ihre rituelle Abläufe besonders geeignet sind, die Verlogenheit und Hohlheit hinter der Fassade zu zeigen, das ist schon längst ein besonders beliebtes Mittel in Filmen, wo dann am Schluß nur noch die nackten Charaktermasken übrig bleiben und zerschlissene, zerrissene Beziehungen.

Aber Regisseur Matti Geschonneck schafft etwas ganz Neues, was ohne das Drehbuch vom immerhin schon 85jährigen Wolfgang Kohlhaase nicht gelungen wäre. Er kocht die ziemlich verwickelte Familiengeschichte vom Dritten Reich, den Exilen in Mexiko und der UdSSR, dem Aufbau der .DDR, dem Leben dort und dem geheimen Leben der Familienmitglieder auf den 1. Oktober 1989 ein, eben den 90sten Geburtstag vom Stammvater Wilhelm, ein Tag, der schon gefährlich dicht am 9. November 1989 liegt. Aha.

Das ist das eine. Das andere wirkt strafverschärfend, daß das Feiern eines solchen Ehrentages zu Hause eine andere Dimension annimmt, wenn der Gefeierte auch öffentliche Ämter oder in diversen Organisationen eine Rolle spielte. Da überlagern die Familiengeschichte noch weitere Geschichten von Partei, Öffentlichkeit, Nachbarn, Freunden, so daß ein eigentlich unübersehbares Netz von Gefühlen, Beziehungen, Zwistigkeiten, ja Liebe und Haß aufscheint, das wir aber sofort entschlüsseln können, wenn wir uns auf das Gesicht des Geburtstagskindes konzentrieren. Ja, Bruno Ganz führt uns sicher durch das Gestrüpp, ohne selbst aufs Glatteis zu fallen, denn solche Rollen arten leicht auch in Oberfläche und Klamauk aus.

Stattdessen wird sein Geburtstag ein Synonym für die Auflösung vom Bisherigen und dem notwendigen Weiterleben danach. In diesem Geburtstag wird alles vorweggenommen, was ja auch real schon vorhanden war und sich am 9. November entlud: ein Staat entvölkert sich und verschwindet, eine Familie verliert sich in der Geschichte und die Auflösung von beiden verschränkt sich und tut weh. Aber es wird etwas Neues kommen.

Es beginnt der Geburtstag des Großvaters, des verdienten Mitglieds der Partei und bis heute überzeugten Stalinisten, eben doch Tage zuvor, als Vater Kurt (Sylvester Groth) nach seinem Sohn Sascha (Alexander Fehling)  sieht, der sich von seiner Frau Melitta und dem Kind gerade getrennt hat und ein Examen vor sich hat. Deutlich vermittelt der Sohn dem Vater, einem überzeugten Sozialisten, der aus dem Exil in Sibirien nicht nur entsetzliche Erfahrungen mitgebracht hatte, sondern auch seine schöne, dem Alkohol ergebene russische Frau Irina (Evgenia Dodina), daß er abhauen wird in den Westen.

Das eben wird am Ehrentage dann dazu führen, daß  „Warten auf Godot“ gespielt wird, denn dem Großvater soll die Flucht des Enkels in den Westen zumindest heute verschwiegen werden. Daß ist das Tolle an diesem Film, daß wir mit der Interpretation des Geschehens auch unsere eigenen Vorstellungen über die DDR, unsere Gefühle über deren Auflösung, unsere Wertung der Haltungen der beiden Bevölkerungen und das gemeinsame Weiterleben  immer mitsehen, mitempfinden müssen. In diesem Sinn sind wir entfernte Verwandte dieses Wilhelm, wenn wir ihn morgens, schon herausgeputzt, aber durchaus renitent gegenüber dem, was kommt, erleben. Wenn Bruno Ganz das achte Mal auf die Blumengebinde reagiert mit: „Bringt das Gemüse auf den Friedhof!“, lachen wir das achte Mal und noch weiter, denn der Satz verkörpert die Haltung eines, dem die Gesten nichts bedeuten, wohl aber der Inhalt, nämlich die Gestaltung der DDR und ihr Zustand.

Ohne Sentimentalität, aber mit Wärme erleben wir, wie es in der DDR mit einem verdienten Genossen zuging, wo sich echte Ehrerbietung und die innere kritische Haltung, wann diese Holzköpfe endlich verschwinden,  bei den Jubilaren die Waage halten. Die Leute kommen und gehen, essen Schnittchen, trinken, sind auswechselbar und wieder nicht, denn jeder bringt seine eigene Geschichte mit, die der Film kurz mit Licht erfüllt. Diese im Film vorgeführte Einheit von Raum und Zeit, ganz nach klassischen Vorgaben, erzeugt eine Geschlossenheit und Dichte, die konterkariert wird durch die Auflösungserscheinungen von Familie und Staat.

Was diesem Film zur Ehre gereicht, das ist, daß er dies nicht – wie fast immer - aus den Augen des Siegers der deutschen Geschichte: Westdeutschlands tut, sondern die Gründe für das Scheitern der DDR zeigen kann, aber auch die Wehmut, was alles mitverloren wurde. Der Filmkurt ist dafür das beste Beispiel.

P.S.I: Wie immer kommen die Hausfrauen, die Großmütter, Mütter und Ehefrauen ein einem zu kurz. Hier ist es Hildegard Schmahl, die als Charlotte Powileit die ganze Familie zusammenhält und schon immer im voraus weiß, worin ihr Mann gleich versagen wird, der undankbar ihre Bemühungen und Herrschaftsansprüche zurückweist. Wie im wirklichen Leben.


P.S.II Übrigens eine gute Gelegenheit, das Original von Eugen Ruge zu lesen, der für IN ZEITEN DES ABNEHMENDEN LICHTS aus dem Rowohlt Verlag den Deutschen Buchpreis 2011 erhielt. Nachdem auch Uwe Tellkamp für seine DDR Familiensaga DER TURM (Suhrkampverlag) den Deutschen Buchpreis 2008 erhalten hatte, bringt Ruge eine notwendige Ergänzung über eine ganz andere Familie in der DDR, deren Angehörige lange die DDR mitaufbauten, bis…
Wir warten auf weitere literarische Gesellschaftsromane aus DDR und BRD, die in Familiengeschichten auch das jeweilige Land charakterisieren, was beispielsweise Martin Walser seit jeher exzellent konnte.