f beatricebabyDie anlaufenden Filme in deutschen Kinos vom 8. Juni 2017, Teil 6

Filmheft

Paris (Weltexpresso) - So viele Geburten waren sicher noch nie in einem Spielfilm zu sehen. Aufnahmen, die uns zeigen, wie wichtig und entspannend erfahrende Hände für die Gebärenden sind, eine Arbeit, die immer als privat nur von den Betroffenen als hilfreich wahrgenommen wird. Aber es geht unter der Hand auch darum, wie gut oder wie schlecht die personelle Ausstattung in den Krankenhäusern für Geburtshilfen ist. Die Redaktion

Wie kamen sie darauf, die Geschichte einer Hebamme zu erzählen?

Ich wurde bei der Geburt von einer Hebamme gerettet. Sie gab mir ihr Blut und schenkte mir dadurch das Leben. Dies tat sie mit Diskretion und Bescheidenheit. Als mir meine Mutter vor zwei Jahren davon berichtete, begann ich sofort nach ihr zu suchen, obwohl ich nicht mal ihren Namen kannte. Die Aufzeichnungen des Krankenhauses, in dem ich zur Welt kam,
wurden vernichtet, somit gab es keinerlei Spuren. Meine Mutter erinnerte sich, dass die Geburtshelferin schon älter war, das heißt sie ist inzwischen vermutlich verstorben.

Ich habe mich daher entschlossen ihr auf meine Weise Tribut zu zollen, indem ich diesen Film ihr und all den namenlosen Frauen widme, die im Schatten bleiben und ihr Leben in den Dienst von anderen stellen, ohne dafür jemals Dank zu empfangen.

Ein außerordentliches Ereignis begab sich, als ich vor ein paar Monaten für meine Heirat ein Geburtszertifikat, und nicht die übliche Kopie, benötigte. Ich hatte gerade den Film fertig geschnitten und musste zu meiner Verwunderung feststellen, dass nicht mein Vater, sondern die Hebamme meine Geburt im Rathaus angemeldet hatte. Nicht nur hatte sie mich gerettet und die ganze Nacht neben mir gewacht, sie hatte darüber hinaus auch meine Geburt offiziell verkündet, als wollte sie damit unterstreichen, dass ich gesund und lebendig war. Ich halte dies für eine wundervolle Geste und wiederhole immer wieder ihren Namen, Yvonne Andre. ́ Ihr verdanke ich alles.

EIN KUSS VON BEATRICE ist jedoch kein autobiographischer Film. Ich wollte nicht meine Geschichte erzählen, das war nur ein Vorwand, mich mit dem Thema zu beschäftigen. Zuerst um besser zu verstehen, was mit mir in der Geburtsnacht geschah, und später um ein genaueres Bild vom Beruf der Hebamme zu bekommen, traf ich mich mit einer ganzen Reihe
von Geburtshelferinnen. Nach und nach schälte sich die Geschichte von Claire heraus. Ich wollte eine Hebamme porträtieren, die sich der unmittelbaren Anforderungen ihrer Zeit bewusst ist und sich an einem Wendepunkt in ihrem Leben befindet.


Claire ist sowohl ein komplexer als auch ein unflexibler Charakter...

Sie ist eine engagierte Frau, die für andere lebt. Ihren Prinzipien und Werten will sie unbedingt treu bleiben. Beruflich akzeptiert sie nicht, was die Gesellschaft ihr aufzwingen möchte. Die kleine Entbindungsstation, in der sie die ganze Zeit gearbeitet hat, soll zu Gunsten einer 'Babyfabrik' verschwinden. Claire lehnt den Job, den man ihr anbietet, ab. Sie
will keine Kompromisse eingehen. Claire ist integer und weiß, was ihre Erfahrung wert ist. Es geht ihr nicht allein um das Geld, selbst wenn sie Gefahr, läuft ihren Job zu verlieren. Claire würde eher ihre Wohnung verkaufen, als im Job Quoten zu erfüllen. Auch in ihrem Privatleben legt sie die gleiche Überzeugung an den Tag: Ihr Sohn ist ausgezogen, sie hat
keinen Partner, aber sie bleibt aufrecht, geradezu halsstarrig. Das Auftauchen von Beátrice wird ihr Leben gründlich auf den Kopf stellen.


Béatrice ist das genaue Gegenteil von Claire; man kommt nicht umhin an La Fontaines Fabel Die Grille und die Ameise zu denken. War diese Anspielung beabsichtigt?

Ja. Ich habe diese Referenz als gegeben vorausgesetzt. Für mich ist der Film eine Fabel, jedoch wesentlich sanfter als Fontaines, die uns moralisch zur Identifikation verpflichtet, sowohl mit der Grille als auch mit der Ameise. Claire und Beá trice sind sehr verschieden, aber nach und nach entwickelt sich dieser Kontrast zu einer komplementären Ergänzung, in
ein Geben und Nehmen, in Weisheit. Konflikt macht mir Angst, aber man kann ihn nicht immer vermeiden, er ermöglicht uns, Unterschiede schätzen zu lernen. Das ist es, was diesen beiden Frauen widerfährt. Claire lebt zu sehr im Schatten und Beátrice kehrt zurück, um ihr etwas Licht zu bringen. Beátrice, die immer wie ein Freigeist gelebt hat, erhält nun die
Möglichkeit, sich selbst besser zu verstehen, innezuhalten und schätzen zu lernen, dass wir ohne den Anderen nichts sind.


In diesem Sinne stellt der Film die Frage: Was ist Freiheit?

Genau. Freiheit ist für mich ein Konzept, das ich häufig in Frage stelle. Es ist nicht die Abwesenheit von Grenzen oder Regeln, die Freiheit ausmachen; das ist es woran Beátrice glaubt. Die Krankheit, die sie heimsucht, wird ihren Lebensstil und ihre Art zu denken verändern. Was sie als Freiheit bezeichnet, war immer eine Form der Flucht, doch plötzlich
kann sie nicht mehr flüchten, sie ist verletzlich und braucht Claire.

All das was Claire verkörpert hat Beátrice immer abgelehnt, vor allem dieses extreme Mitgefühl für machtlose und verletzbare Menschen. Es gibt nichts Verletzlicheres als ein Neugeborenes oder eine ältere Person, die sich anschickt zu sterben. Beátrice, eine erwachsene Frau, aber innerlich noch immer Kind, wundervoll und lustig, jedoch grausam in ihrer Gleichgültigkeit, begreift letztlich, dass sie nur sich selbst gefangen hält. Es ist bereits zu spät, doch sie hat eine
Möglichkeit weiterzuleben, indem sie Claire zu guten Erinnerungen verhilft. Die Toten leben in uns weiter, sie führen ihr Dasein im Gedächtnis derjenigen fort, die sie geliebt haben und die sie liebten. Für Beátrice ist dies die letzte mögliche Freiheit. Eins der schlimmsten Erlebnisse in der Welt, ist allein zu sterben, ohne dass jemand deine Hand hält.


EIN KUSS VON BEATRICE erzählt auch die Geschichte einer Verwandlung...

Beide Frauen füllen die Leere ineinander. Claire entdeckt ihre zweite Mutter wieder und Béatrice die Tochter, die sie nie hatte. Diese Beziehung steht im Zentrum der Geschichte. Béatrice schreckt nicht davor zurück, Claire den Ärzten gegenüber als ihre Tochter auszugeben, eine Rolle, die Claire, in die Ecke getrieben, akzeptiert. Und als Beátrice
nirgendwo mehr hinkann, da lässt Claire sie in ihre kleine Wohnung und in ihr Leben. Somit wird das Apartment zur Arena, in der all das, was bisher nicht zum Ausdruck kommen konnte, ausagiert wird und eine Chance entsteht, verlorene Zeit wett zu machen und Frieden zu erreichen.

Gemeinsam bringen sie den Mann zurück in ihr Leben, den sie beide, jede auf ihre Art, am meisten verehrt haben. Für Claire ist es der Vater, der viel zu früh aus ihrem Leben verschwunden ist, und für Beá trice die einzige wahre Liebe ihres Lebens. Um die Vergangenheit hinter sich zu lassen, muss man die Zukunft akzeptieren: Der Beginn eines neuen Lebens für Claire und ein tröstlicheres Ende für Beátrice.


Dies ist die erste Begegnung von Catherine Frot und Catherine Deneuve auf der Leinwand. Wie hatten Sie sich dieses Zusammentreffen vorgestellt?

Als einen Triumph. Ich habe den Film für die beiden und Olivier Gourmet geschrieben. Catherine Frot hatte ich bereits für die Rolle der Simone de Beauvoir in Violette (2013) angefragt, doch sie lehnte leider ab. Nachdem sie den Film gesehen hatte, kam sie zu mir, und gab zu, dass sie es bereue, die Rolle abgelehnt zu haben. Ihre Ehrlichkeit berührte mich, und so behielt ich sie im Hinterkopf. Als der neue Film schließlich Gestalt annahm, sah ich sie, sich in ihrer rosaroten Bluse über mich beugend, als würde sie mich in die Welt bringen. Von dem Moment an hat sich alles organisch zu einem Ganzen gefügt.

Wer außer Catherine Deneuve hätte Beátrice spielen können? Ihre schiere Existenz macht mich bereits glücklich. Sie erscheint, als würden für sie andere Regeln gelten. Mit Olivier Gourmet hatte ich bereits in Violette (2013) gearbeitet und war mir sicher, dass er und Catherine Frot ein perfektes Paar abgeben würden. Außerdem wollten wir beide wieder
zusammen arbeiten. Also habe ich das Drehbuch mit den dreien im Kopf verfasst. Da ich vom Theater komme ist es für mich wichtig, dass ich die Gesichter der Schauspieler vor mir sehe, wenn ich ihre Rollen ausarbeite. Ich höre ihre Stimmen im Kopf. Es ist fast eine Maßanfertigung. Meine einzige Sorge war, dass sie ablehnen würden. Aber alles fügte sich
perfekt.

Zu dem Zeitpunkt war der Film nur eine Idee in meinem Kopf. Ich wurde zum Festival in Prag eingeladen, wo ich auf der Straße in Catherine Frot hineinrannte. Sie drehte gerade Madam Marguerite oder Die Kunst der schiefen Töne (2015). Wir unterhielten uns und ich erzählte ihr, dass ich häufig an sie denken musste. Am nächsten Tag traf ich Olivier Delbosc, der gerade vor Ort war, um Madam Marguerite oder Die Kunst der schiefen Töne (2015) zu produzieren. Ich berichtete ihm von meiner Idee, einen Film über Hebammen zu drehen, und er war sofort begeistert, da sein Vater auch Geburtshelfer ist. Ab diesem Moment fühlte es sich nicht mehr wie Zufall an, sondern wie Schicksal.


Wie haben Sie mit ihnen gearbeitet?

Ich traf Catherine Deneuve im gleichen Zeitraum wie Catherine Frot, es lagen nur ein paar Tage dazwischen. Catherine Frot sagte als erste zu. Sie war jedoch zuerst etwas beunruhigt. Was Claire erlebte, erinnerte sie an eigene Erfahrungen, mit denen sie noch nicht ganz abgeschlossen hatte. Die Figur der Claire tauchte auf eine Art auf, um den Kreis zu
schließen. Catherine und ich verstanden uns schnell, sie kommt auch vom Theater, wir teilen dieselbe Leidenschaft für Drehbücher und das Unausgesprochene, das immer im Schatten verborgen bleibt. Sie erinnert mich an britische Schauspielerinnen dieses speziellen Typs, die zu allem in der Lage sind, im Theater ebenso wie auf der Leinwand.

Catherine Deneuve wollte mich treffen. Ich war ein nervöses Wrack, da ich mir einredete, der Film wäre verflucht, wenn sie absagen sollte. Aber sie sagte recht schnell zu, ohne Anstrengung, einfach so. Sie wollte mir sicherlich möglichst bald meine Sicherheit zurückgeben. Ich glaubte vor Dankbarkeit und Erleichterung zerfließen zu müssen.

Olivier Gourmet rief mich an, um mir mitzuteilen, dass er sich so eine Geschichte nicht entgehen lassen könne. Mir war klar, dass er meine beiden Catherines entzücken würde; er hat eine Tiefe als Schauspieler und sieht so gut aus.

Die Besetzung eines Films ist fast wichtiger als die Herstellungsmethode. Als nächstes habe ich alle drei ihre Rollen lesen lassen, zuerst alleine, später zusammen. Catherine Frot arbeitet sehr strukturiert, sie muss im Kopf alles klar vor sich sehen, Catherine Deneuve hingegen ist eine wahre Akrobatin, sie lebt im Moment und zelebriert die Wahrheit des
Augenblicks.

Wir kamen am Kern der Geschichte an, und ich musste lernen gehen zu lassen, so wie Claire, um nicht vollends zum Kontrollfetischisten zu werden. Ich habe bei diesem Film viel gelernt.


Sie haben Quentin Dolmaire, der in Arnaud Desplechins My Golden Days (2015) auf sich aufmerksam machte, als Claires Sohn besetzt. Wie kamen Sie auf ihn?

Sein Name fiel, als ich mit Catherine Deneuve über den Film von Arnaud Desplechin sprach. Er hatte mir sehr gefallen; Quentins Darstellung erinnerte mich an den jungen Jean-Louis Trintingnant, mit seiner merkwürdigen Stimme und der ungewöhnlichen Wortwahl. Ich war für die Rolle zuerst auf der Suche nach einem kräftigen Schwimmer, Quentin ist eher schlank und schmal gebaut. Catherine hat mich gedrängt, ihn zu besetzen, als sie merkte, dass ich ihn gerne wollte für die Rolle, obwohl er nicht dem ursprünglichen Bild entsprach. Quentin stellte sich letztlich als ideale Besetzung heraus; er arbeitete hart und wurde auf wundersame Weise zu der Figur, die ich mir ausgedacht hatte.


Catherine Frot nimmt im Verlauf des Films an echten Geburten teil. War das Ihrer Meinung nach unbedingt nötig, um die entsprechende Authentizität in Bezug auf das Schauspiel zu erreichen?

Ja. Olivier Delbosc und ich waren uns einig, dass in Filmen zu oft ungewöhnlich große und kerngesunde Babys gezeigt werden, was nicht der Realität entspricht. Ich wollte reales Leben filmen und ungeschönt zeigen, was wir alle erlebt haben. Um das zu erreichen mussten wir nach Belgien gehen, da es in Frankreich verboten ist, Kinder, die jünger sind als drei Monate, zu filmen. Es war ein langwieriges Unterfangen: Wir mussten Mütter finden, die vor kurzem schwanger geworden und bereit waren, uns ein halbes Jahr später die Geburt filmen zu lassen, und außerdem die Entbindungsstationen, die uns das erlauben würden.

Catherine Frot wurde richtig trainiert für ihre Rolle. Sie nahm an Geburten teil bevor die Dreharbeiten begannen und hat dabei bereits mitgeholfen. Die Beziehung zwischen uns und den zukünftigen Müttern, sowie den Vätern, gestaltete sich zum Glück ganz natürlich und reibungslos. Das Glück war auf unserer Seite. Am Ende konnten wir sechs Geburten mit der
Kamera begleiten. Es war nur ein kleines Team dabei. Als Catherine Frot ihr erstes Baby zur Welt brachte, heulte ich wie ein Schlosshund.


Sie hatten sich auch entschlossen die Welt des illegalen Glücksspiels, in der Beátrice ihr Geld verdient, möglichst realistisch darzustellen...

Ich wusste durch Bekannte, dass es Orte gab an denen noch immer La Marseillaise gespielt wird, ein Spiel, das in den Gefängniskellern von Marseille seinen Ursprung hat; es ist absolut verboten. La Marseillaise ist ein relativ einfaches Kartenspiel, bei dem große Einsätze gewettet werden können, sowohl von den Spielern, als auch von den Zuschauern. Es wird unter anderem auch zum Geldwaschen benutzt. Wir haben die Spielsalons nachgebaut, und die Justiz brachte uns mit echten Spielern in Kontakt, die Catherine Deneuve beigebracht haben, wie man spielt.


EIN KUSS VON BEATRICE ist eine Tragikomödie, die einen zum Lachen und Weinen bringt. Hatten Sie nach Ihren letzten drei Filmen, die alle ernste Dramen sind, das Bedürfnis nach etwas mehr Unbeschwertheit?

Im Gegensatz zu meinen anderen Filmen, habe ich das Drehbuch diesmal alleine verfasst. Ich musste mich in mein eigenes Universum versenken, das vielleicht skurriler ist, als ich würde zugeben wollen. Ich glaube, dass sich The Long Falling (2011) und Violette (2013) auf dunkle Bereiche und Schmerzen beziehen, die ich bereits ausreichend beackert habe. EIN KUSS VON BEATRICE steht deutlicher im Bezug zu mir persönlich. Ich bin ein überaus heiterer Mensch, werde aber auch von Verzweiflung heimgesucht.


Musik hat auch einen wichtigen Platz in dem Film, in dem Sinne, dass sie der Erzählung eine romaneske Dimension hinzufügt...

Ich wollte einen romanesken Film machen, selbst wenn er sich im Einklang mit der Realität befindet. Greǵoire Hetzel, dessen Arbeiten für Arnaud Desplechin ich immer mochte, komponierte für mich ein einfaches melancholisches Thema, etwas das klingt wie die Noten einer Musikbox, die man einem Neugeborenen vorspielt. Es gefiel mir sehr. Dies wurde
Claires Erkennungsmelodie und wir produzierten ein zweites Thema für Beátrice, das ich mir etwas barocker wünschte. Letzten Endes hat jede Figur ihr eigenes Leitmotiv bekommen, wie in Peter und der Wolf.

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