f halfte der stadtWIEDERGESEHEN, WIEDERGEHÖRT, WIEDERGELESEN: hier die DVD von Pawel Siczek, Teil 3

Claudia Schulmerich

Frankfurt am Main (Weltexpresso) – Die Filmindustrie ist längst eine Industrie geworden, wo Filme wie DVDs schon kurz nach dem Erscheinen wie vergängliche Ware beiseite gelegt werden, weil ein Ansturm von neuen: Filmen und DVDs folgen.

Man kann nicht alles ein zweites Mal sehen, aber bestimmte Themen beschäftigen einen mehr als andere. Und ein Dokumentarfilm, der das Schicksal von polnischen Juden im alte Polen von 1926 über die schrecklichen Jahre der deutschen Besatzung im 2. Weltkrieg bis heute abbildet und die vielen nicht als Filme verfügbaren Szenen als Animation bietet, der ist für uns auch beim zweiten Mal eine Quelle von Trauer und Freude.

Mitten im Film heißt es, daß die Landesbezeichnung POLEN vom jiddischen ‚polin‘ käme, was übersetzt heißt: Hier sollst Du zur Ruhe kommen. Das wäre ein schöne Herleitung, auch wenn das Gegenteil eintrat. Die Polen sind bis heute besonders judenfeindlich und die schlimmen Verhältnissen von 1966, als man Studentenaufstände buchstäblich wie im Dritten Reich „den Juden“ in die Schuhe schob, zumindest massiv rund um Breslau, und sie damit zur Flucht aus Polen trieb, kommen im Film nicht vor, in dem es auch um etwas anderes geht. Leider konnte ich die schöne obere Begriffserklärung nicht verifizieren, denn überall heißt es sonst, daß die Bezeichnung POLEN (Polacy) vom urslawischen Wort ‚pole‘ herrühre, was Feld oder Feldbewohner bedeute.

Der Film kreist um den jüdischen Fotografen und Gemeindepolitiker Chaim (=Leben) Berman., der in seiner Heimatstadt stärker als andere für das friedliche Nebeneinander von Polen, Juden und Deutschen eintrat. Das wurde ihm nach dem Überfall der Deutschen auf Polen besonders übel genommen.

Auf Berman kam der Filmemacher Pawel Siczek, weil sich fast zehntausend Porträts auf Glasnegativen fanden, die tatsächlich die ganzen Jahre unentdeckt blieben. Zum Glück, muß man sagen, denn heute ist einfach die Aufmerksamkeit für derartige geschichtliche Gegenstände größer. Der Film beginnt mit diesen Aufnahmen, die polnische Juden, Deutsche und Polen im Miteinander des Lebens der Kleinstadt Kozienice darstellen, wo der Fotograf 1890 geboren wurde. Von den Deutschen ist in der Vorkriegszeit weniger die Rede, wenn es für ländliche Gebiete im Film heißt, daß sie zu 40 Prozent polnische und zu 60 Prozent jüdische Bevölkerung hatten.

Jedesmal irritieren diese Angaben von Juden und Polen, denn die polnischen Juden waren ja auch Polen. Was auch in diesen Aufnahmen deutlich wird, das ist, daß das Judentum in Polen sehr viel stärker an seinen Traditionen festhielt als in Deutschland, wo viele konvertierten und sich auch im wirklichen Leben stärker als Deutsche fühlten denn als Juden, wozu sie die Nazis dann erst wieder machten, mit dem bitteren Ende der Ermordung von Millionen. Die stärke Assimilation in Deutschland liegt sicher auch daran, daß sich hierzulande ehemalige jüdische Deutsche vorwiegend in Städten niederließen, während für Polen vornehmlich das jiddische Schtetl als Heimat steht.

Einen Fotografen als filmische Vorlage zu nehmen, dessen Lebensgeschichte hier erzählt wird, ist immer eine gute Entscheidung für Filmemacher, weil einfach die vorhandenen Fotos, die man im Film - Gottseidank – ausgiebig ansehen kann, jedes für sich eine eigene Geschichte erzählen, der man nachgehen kann. Schwarzweiß Fotos sind so sogar noch assoziativer für den Betrachter im Hineinphantasieren als es Gemälde sein können, ja sogar als es bunte, bewegte Bilder sind, weil schwarzweiße Fotographien geheimnisvoller wirken. So auch hier. Der Film erzählt die Geschichte einer untergegangenen Welt, wo Überlebende an die Stätten der Kindheit zurückkehren und die Erfahrungen machen, wie wir alle: alles so klein hier.

Denn, was noch in der Kindheit groß erschien, weil man selbst klein war und nichts anderes kannte, wird zu Lilliput. Das ist für jeden eine fast unwirkliche Erfahrung, die man schwer verarbeiten kann, weil die Erinnerung ihre Deutungshoheit über die Kindheit nicht aufgeben will und trotz neuer Eindrücke das alte Bild festhält.

Der Film bleibt auch deshalb spannend und hält uns dabei, weil Pawel Siczek eine Mischung von Fotografien, alten Filmaufnahmen, neuen Aufnahmen im Wechsel mit animierten Szenen, also comicähnlich herstellte. In diesen nämlich wird das gezeigt, was der Nachwelt nicht im Bild erhalten ist, bzw. was die Fotografien als potentielle Geschichte vorgeben: wie die Leute lebten, wie sie miteinander umgehen, wie die Erziehung klassen- und gruppenunterschiedlich aussah, wie Frauen...ach ja, Frauen. Die kommen absolut zu kurz in diesem Film, weil eben Fotografen männlich waren, Lehrer und Schuldirektoren und diejenigen, die Abbildungen bestellten auch. Denn wer konnte sich damals fotografieren lassen: die Honoratioren.

Das soll nur erwähnt werden und ist beileibe keine Kritik am Film, der mit dem vorhandenen Material sorgfältig und phantasievoll umgeht. Und wenn doch ein kleiner Hinweise gestattet ist: man hätte natürlich in die Animationsszenen dann doch mehr auch von Mädchen und Frauen erzählen können. Übrigens wird darauf verwiesen, daß diese animierten Szenen in ihrer Darstellungsform durch die regionale naive Malerei und durch die Kunst Marc Chagalls inspiriert wurden, worauf wir von alleine nicht gekommen wären.

Aber auch so sind wir hingerissen, wenn wir beispielsweise die Aufnahmen von 1926 aus Warschau sehen. Einige haben das kommende Unheil vorausgesehen und sind wie der Bruder nach Amerika ausgewandert. Spätestens hier muß man an den gerade angelaufenen Film DIE GESCHICHTE DER LIEBE denken, der nach dem Roman von Nicole Krauss gedreht wurde. Beide Filme zusammen, geben ein stimmiges Bild der damaligen Zeit ab. Noch stimmiger muß man sagen, weil beide Filme natürlich auch für alleine bestehen.

Der Bruder hatte übrigens Heimweh nach Polen und der zu Hause gebliebene Fotograf zuerst Glück, weil Nachbar Antoni Kaczor ihn versteckte, dann Pech infolge einer tückischen Gehirnkrankheit, die auch für seine Retter lebensgefährlich wurde.

Übrigens:

Die DVD kann man kaufen, den Film DIE GESCHICHTE DER LIEBE in den Kinos sehen.

https://weltexpresso.de/index.php/kino/10407-die-geschichte-der-liebe

https://weltexpresso.de/index.php/kino/10410-ein-gespraech-mit-radu-mihaileanu

https://weltexpresso.de/index.php/kino/10411-interview-mit-derek-jacobi-darsteller-le-o-gursky

https://weltexpresso.de/index.php/kino/10412-interview-mit-gemma-arterton-darstellerin-alma-mereminski


Foto: Umschlagsabbildung © Filmverleih

Info:

BRD, 2015
FSK ab 12 freigegeben
Bestellnummer: 5884473
Erscheinungstermin: 21.4.2017
Dokumentation / Biografie, 87 Min.
Regie: Pawel Siczek
Sprache: Polnisch/Deutsch
Tonformat: Dolby Digital 5.1
Bild: Widescreen
Untertitel: Deutsch, Englisch, Polnisch
Specials: 12-seitiges Booklet mit Fotografien Bermans und Animationsskizzen; Audiodeskription