Die anlaufenden Filme in deutschen Kinos vom 24.August 2017, Teil 6
Filmheft
Paris (Weltexpresso) - Wie ist Émilie Dequenne an das Drehbuch und die Entwicklung ihrer Figur herangegangen?
Émilie hat sich durch ihre Rolle in den Film hineinziehen lassen, Szene für Szene und Wort für Wort. Sie hat nicht versucht, die Figur ihrer eigenen Persönlichkeit unterzuordnen. Stattdessen hat sie sich der Rolle stückweise angenähert, bis sie sie genau durchdrungen hat. Und wir sind jede problematische Regieanweisung gemeinsam durchgegangen, beispielsweise haben wir über die Brutalität ihrer Figur so lange gesprochen, bis wir uns einig darüber waren, welche Aussagen wir hier vermitteln möchten und an welchen Stellen im Film diese Heftigkeit eingedämmt oder eben freigesetzt werden sollte. Letzteres etwa in der Szene zu Beginn des Films, wenn sie am Telefon sehr brüsk mit dem Vater ihrer Kinder spricht.
Oder während der Auseinandersetzung zwischen Pauline und ihrem Vater. Die Szene ist sehr kraftvoll, auf beiden Seiten werden viele Gefühle zum Ausdruck gebracht. Ihr Vater kritisiert die politischen Entscheidungen, die sie gerade getroffen hat, wirft ihr aber im selben Moment vor, sie hätte keine Ahnung. Was bedeuten würde, dass sie nichts vom ihm gelernt hat.
Richtig, und das ist ihm bewusst, weil er das politische Engagement seiner Tochter als persönliches Versagen erlebt. Er sagt, er sei nicht stolz auf sie. Doch auf der anderen Seite wirft er ihr vor, dass sie sich niemals für eine Sache eingesetzt oder politisch engagiert hätte. Und das stimmt. Es gibt diese Generation von Söhnen und Töchtern der Aktivisten, den Gewerkschaftern und Feministinnen der 1980er, die sich weigern, mitzumischen. Und bei der nachfolgenden Generation ist es noch schlimmer. Massenbewegungen gehören der Vergangenheit an, und Jugendorganisationen sind zu Nischengrüppchen zusammengeschrumpft.
Aus ideologischer Sicht gibt es auf der Landkarte des Aktivismus einen blinden Fleck. Heute sind wir zu einer Art Militanz im Stil der 1970er Jahre zurückgekehrt, die radikaler, aber auch vielschichtiger ist. Also liegt Paulines Vater nicht ganz falsch, auch wenn er Teile der Schuld selbst trägt. Und man darf den historischen Kontext nicht außer Acht lassen. Nach dem Fall der Mauer waren die politischen Standpunkte und jeweiligen Lager nicht mehr so eindeutig.
Man könnte also sagen, dass die Linke, an die traditionell die Erwartungen der Arbeiterklasse geknüpft waren, bei der Umsetzung versagt hat, nachdem sie an die Macht kam. Das blieb nicht ohne Konsequenzen...
In der Tat, und das wird im Film durchgehend angedeutet, durch das Gefühl des Verzichts, das Paulines Vater empfindet; eine Stimmung, die sie teilt. Davon abgesehen kann den Menschen die individuelle Verantwortung nicht abgenommen werden, und das schließt die Wähler mit ein, die sich entscheiden, die extreme Rechte zu unterstützen. Man könnte sagen, es gibt eine gewisse Demokratie-Müdigkeit, der sich viele Wähler hingeben, um den von ihnen Gewählten alles zu überlassen.
Aber Demokratie verlangt nach Selbstverpflichtung ihrer Bürger. Es ist kein Zufall, dass sich der Front National auf den Norden Frankreichs und Arbeiterregionen mit traditioneller Linksausrichtung konzentriert und dabei beispielsweise auf Personen wie Jean Jaurès schaut. Es erinnert viele Menschen daran, dass es der sozialistische Innenminister Jules Moch war, der während der Streiks von 1947 die Armee gegen die Minenarbeiter in Stellung brachte. Diese Art des Diskurses sorgt für extreme Verwirrung, und das zeigt Wirkung.
Ihr Film unterscheidet sich von dem, was man „Linker-Flügel-Fiktion“ nennen könnte, die eine klare politische Aussage kennzeichnet. Es geht Ihnen mehr darum zu verstehen, was Menschen bewegt, sich rechtsextremen Bewegungen anzuschließen. Aber besteht im Medium Kino nicht auch die Gefahr, Mitgefühl mit „dem Feind“ zu entwickeln?
Die Gefahr besteht, aber wir brauchen dieses Mitgefühl. Es prägt meine Arbeitsweise, denn ich versuche herauszufinden, was uns bis hierhin gebracht hat. Empathie ist nicht gleichbedeutend mit Identifikation. Ich verlange vom Publikum nicht, dass es sich mit den Handelnden identifiziert. Die Idee ist vielmehr, sich an ihre Seite zu stellen, sich in ihre Situation zu versetzen, um zu verstehen, welchen Weg sie gegangen sind. Verständnis für einen bestimmten Ablauf zu entwickeln heißt nicht zwingend, ihn zu teilen oder gar zu verteidigen. Das ist etwas, worauf ich als Filmschaffender besondere Aufmerksamkeit lege. Ich möchte, dass das Publikum sich frei fühlt, zu denken, was es will.
Ich glaube, dass es eine Art totalitäres Kino da draußen gibt, das den Zuschauern seine Ansichten aufdrängt, indem die Charaktere in gut und schlecht aufgeteilt werden. Und dann gibt es eben die Art von Kino, das seine Geschichten „demokratisch“ erzählt; in dem die Filmschaffenden zwar ihre Ansichten nicht verstecken, aber dem Publikum genug Freiraum lassen, um seine eigenen zu entwickeln.
Könnte es nicht trotzdem passieren, dass DAS IST UNSER LAND! als politisches Werkzeug gerade unter jenen Aufmerksamkeit erregt, die versucht sind, für die extreme Rechte zu stimmen?
Das weiß ich nicht. Was ich mir erhoffe ist, dass der Film zu Diskussionen anregt. Ich habe versucht aufzuzeigen, wie Populismus als großer Schwindel funktioniert. Wie er Politik als Marketing-Instrument verwendet und Bürger und Wähler wie Kunden behandelt, um seine Ziele zu erreichen.
Im Internet finden sich Aufnahmen vom Aktivistentraining des Front National, die in dieser Hinsicht sehr entlarvend sind. Das Bedürfnis, diesen Film zu machen, entstand noch während der Arbeit an meinem letzten Film „Pas son genre“ in Arras (im Norden Frankreichs).
Die Regionalwahlen standen bevor, und an manchen Orten sagten die Umfragen 30, ja 40 Prozent der Stimmen für den Front National voraus. Meine Besorgnis über die steigende Popularität der extremen Rechten wächst seit geraumer Zeit. Und ich habe immer Filme gemacht, um Antworten auf Fragen zu finden, die ich mir selbst stelle.
In „Pas son genre“ sagt jemand „Das ist unser Land!“ Niemand hat mich darauf angesprochen, obwohl es ein ziemlich vermessener Satz ist. Vielleicht, weil wir am Klischee der Sch’tis als kumpelhafter Menschenschlag mit dem Herz auf dem rechten Fleck festhalten; aber die Wirklichkeit hat sich verändert. Hinzu kommt, dass Frankreichs Norden für mich eine Art Heimat geworden ist, nachdem ich dort zwei Filme gedreht und viele Menschen kennengelernt habe. Mit anderen Worten: Die Präsidentschaftswahlen standen bevor, und diesen Film zu machen, erschien mir eine zwingende Notwendigkeit zu sein.
* 15.68%, verglichen mit 3.12% für UMP und 1.94% für die Sozialistische Partei.
** Während der Vorbereitungen stieß ich im Januar 2016 auf einen Newsletter der FREUNDE VON LÉON DEGRELLE, einem eingetragenen Wohltätigkeitsverband. Auf zwölf Seiten gab es Rechtfertigungen für Kriegsverbrechen zu lesen und Trauerreden für ehemalige SS-Offiziere. Es wurde beschrieben, wie einer von ihnen „von Simon Wiesenthal rabbinerisch zur Strecke gebracht wurde“, und im Vorwort gratulierte der Autor den „Freunden dieser Gruppe, die zuletzt bei den Regionalwahlen gewählt wurden“. Also existieren heute, in regionalen Gremien Frankreichs, gewählte Repräsentanten, die „Freunde von Degrelle“ sind. Es wäre interessant zu erfahren, welcher Partei sie angehören.
Foto: © Verleih
Info:
Besetzung
Pauline Duhez ÉMILIE DEQUENNE
Philippe Berthier ANDRÉ DUSSOLLIER
Stéphane Stankowiak/ Stanko GUILLAUME GOUIX
Agnès Dorgelle CATHERINE JACOB
Nathalie ANNE MARIVIN
Jacques PATRICK DESCAMPS
Nada Belisha CHARLOTTE TALPAERT
Victoire Vasseur STÉPHANE CAILLARD
Jean-Baptiste Verhaeghe CYRIL DESCOURS
Dominique Orsini MICHEL FERRACCI