f felicigte3Serie: Die anlaufenden Filme in deutschen Kinos vom 5. Oktober 2017, Teil 6

Filmheft

Paris (Weltexpresso) – Was brachte Sie dazu, FÉLICITÉ zu drehen, was gab den Ausschlag? Einen Film über eine Frau zu schreiben, in Kinshasa zu drehen, Musik zu filmen?

Ich glaube, dass ein Film über Jahre entsteht, und beeinflusst wird das durch eine Vielzahl von unterschiedlichen Dingen. Am Anfang für diesen Film standen Realpersonen, Frauen, die ich gut kenne - hauptsächlich im Senegal. Starke Frauen, die keine Kompromisse akzeptieren, die die Dinge frontal angehen und nicht nachgeben, egal, was passiert. Ich hatte eine besondere Bewunderung für diese Geradheit, gleichzeitig dachte ich über die Vorstellung nach, das Leben nach dem eigenen Willen zu gestalten. Ich war also interessiert an dieser Dialektik zwischen Kampf und Nachgeben, die ein gemeinsames Motiv aller meiner Filme ist. Außerdem hatte ein junger Cousin von mir, der mir sehr nahe steht, einen Unfall und verlor wegen schlechter medizinischer Versorgung ein Bein. Ich werde niemals seinen Gesichtsausdruck vergessen: ein Siebzehnjähriger, der alle Lebendigkeit verloren hat, für den das Leben so gut wie vorbei war. Seine Geschichte war auch mit der seiner Mutter verknüpft, die verdächtigt wurde, illegale Geschäfte zu betreiben. Diese einfache Realität, mit der die Unsichtbaren der Gesellschaft täglich konfrontiert sind, war das Fundament für den Film. Also hatte ich eine Art "Faust" vorgehabt. Dann entdeckte ich die Musik der Kasai Allstars, die all diese Aspekte enthält.


Ist es der erste Ihrer Filme, in dem eine weibliche Figur im Zentrum steht?

Ich hatte den wirklich starken Wunsch, an einer weiblichen Hauptfigur zu arbeiten, ohne das filmische Verlangen, in eine andere Richtung zu gehen wie in meinen vorherigen Filmen, die sich um Männer drehen. Diese männlichen Charaktere gaben viel von mir wieder und ich wollte diesmal weniger Kontrolle über den Film haben, sondern Neuland betreten und eine Form von Fremdheit hineinbringen. Das führte mich auch zu einer sehr anderen Form der Schauspielerei.


Wie haben Sie eigentlich die Schauspielerin Véro Tshanda Beya gefunden?

Eines Tages, als ich ein Video der Kasai Allstars ansah, fiel mir diese unglaubliche Sängerin auf, Muambuyi, mit ihrer rauen Erscheinung und der Textur ihrer Stimme... und alles machte plötzlich Sinn. Sie machte es mir möglich, eine Geschichte zu imaginieren über den alltäglichen Kampf einer weiblichen Figur mit Situationen, in den das Leben hart ist, die aber dank der Musik auch die andere Seite des Lebens sehen kann. Ich traf mich mit Muambuyi, aber sie war zu alt für die Rolle, die ich geschrieben hatte. Also hielt ich Ausschau nach einer Frau, die sie im Film verkörpern könnte und traf Tshanda. Erst vor kurzem habe ich erfahren, dass sie vorher ein bisschen im Theater gearbeitet hatte. Ich erinnere mich, dass sie in einem auffälligen Outfit mit einer Menge Make-Up auftauchte. Ursprünglich hatte ich sie für eine kleine Rolle vorgesehen, aber sie zeigte so viel Energie, dass ich sie bat, wiederzukommen - ohne das künstliche Beiwerk. Nach und nach festigte sich ihre Präsenz. Vier oder fünf Monate lang hatte ich versucht, ihr zu widerstehen, redete mir ein, sie wäre nicht die Richtige, weil zu jung, zu hübsch. Aber sobald ich die Testaufnahmen sah, war ich magnetisiert. Erst einen Monat vor Drehbeginn akzeptierte ich sie schließlich. Sie kam also sozusagen über den Film, und das war ein Geschenk, denn ich hatte es selten mit soviel Power zu tun. Während der gesamten Casting-Phase zeigte sie ununterbrochen Leidenschaft, lebendige Entschlossenheit und ein großartiges Verständnis für die Schauspielerei. 


Ihre Figur hat die gleiche Entschlossenheit. Was haben Sie ihr über Félicité erzählt? Und wie haben Sie selbst diese Figur gesehen, vom Bild der "starken Frau" einmal abgesehen? 

Tshanda sagte mir die ganze Zeit, dass dies eine Frau sei, die "halb lebendig, halb tot" wäre. Ihr ganzes Leben blieb sie aufrecht, bot der Welt die Stirn. Aber dem Unfall ihres Sohnes folgte die Niedergeschlagenheit. All die Dinge, zu die sie bis dahin auf Distanz halten konnte, zerfielen. Für sie stellte sich die Frage: "Ist es dieses Leben wert? Bleibe ich hier oder gehe ich dahin zurück, von wo herkomme?" Ihre Figur wandert auf dem Grad zwischen diesen zwei Optionen. Es war offensichtlich, dass Tshanda diese Möglichkeit der Abkehr vom bisherigen Leben verstand. Andererseits gebe ich einem Schauspieler nicht viel über eine Figur mit auf den Weg. Auf die Situationen bezogen versuche ich, sehr konkret zu sein, aber dazwischen liegt eine Art von Grenze, die wir definierten. Was mir am Herzen lag war die Frage nach der Rückkehr zum Leben.

Wie würde sie es schaffen, nach solch einem Tiefschlag das Leben wieder zuzulassen? Wenn Du fällst, wenn Du am Boden aufschlägst, ergreift das Leben jede Gelegenheit, die sich bietet. Und das fasziniert mich. Angesichts meines Alters und der vielen unterschiedlichen Gesellschaften, in denen ich lebe, erschien es mir wichtig, einzutauchen, den Dingen auf den Grund zu gehen. Es gibt eine Form der Vermeidung oder der Blindheit im Angesicht der Katastrophe, die ich schmerzhaft finde. Wir können nicht über Hoffnung sprechen, wenn wir uns nicht mit den tatsächlichen Schwierigkeiten auseinandersetzen, wenn wir uns nicht vollständig mit ihnen konfrontieren. Über eine strahlende Zukunft zu sprechen ist zwangsläufig eine Lüge, eine Salbung. An einem bestimmten Punkt musst Du Dich mit der Gegenwart, mit dem Moment auseinandersetzen, und dann hinuntergehen in das Loch. Ich war mir sicher, dass am Boden des Abgrunds die Samen für neue Möglichkeiten liegen. Wir haben diese Erfahrung gemeinsam gemacht.


Und Kinshasa war das ideale Setting für diese Erfahrung?

Kinshasa ist eine Stadt, die ich vorher nicht kannte, die mich aber schon immer angezogen, aber auch verängstigt hatte. Wie ein Ort einer möglichen Erneuerung oder eines endgültigen Untergangs. Es ist ein sehr widersprüchlicher Ort. In der Nähe des Äquators hat die Natur eine unglaubliche Kraft und überwuchert alles sehr schnell. Man ist mit einer Energie konfrontiert, die einen dominiert und mit der man klarkommen muss.

Und dann die jüngere Geschichte der Demokratischen Republik Kongo: über die letzten einhundert Jahre taumelte das Land von Zerstörung zu Zerstörung, von der Kolonialisierung zur Diktatur, von der Diktatur zu Krieg, Plünderung, Zusammenbruch. Es gibt ein Paradox von riesigem verdecktem Reichtum bei gleichzeitiger schrecklicher Armut. Kinshasa ist eine Stadt, in der die Infrastruktur unter dem Druck der Demografie explodiert ist.

Und dann gibt es den seltsamen Artikel 15 in der Verfassung, in dem steht: "Du bist auf Dich alleine gestellt", was zu einem geflügelten Wort geworden ist. Es kam mir so vor, als ob diese Figuren, die von keiner Struktur unterstützt werden, fast die Kraft von mythologischen Figuren haben. Auf sich selbst gestellt, ohne einen Puffer um sich herum. Ich hatte Charaktere, die nackt waren und aus dieser Nacktheit resultierte eine seltene Stärke. Kinshasa ist nicht mehr und nicht weniger als unsere Welt. Es ist eine Stadt wie jede andere, mit ihren Höhen und Tiefen. Wichtig ist es, immer den richtigen Ratgeber an deiner Seite zu haben.

Dank Dieudo Hamadi, einem jungen und brillanten kongolesischen Dokumentarfilmer, kam ich in Kontakt mit Roger Kangudia, einem Location Manager und Produzenten der mich überall hinbrachte, mit mir die Stadt durchstreifte, um die Drehorte zu finden. Das Herzstück der Machbarkeit eines Filmes hängt in solch einer Situation vom Location Management und dem ausführenden Produzenten ab, in diesem Fall von Oumar Sall, dem senegalesischen Koproduzenten. Wenn sie gut vernetzt sind, sich bei den unterschiedlichen Drehorten auskennen, wenn sie wissen, wie man mit Menschen spricht und diese in den Film involvieren kann... Dann kann man überall drehen, es ist fast dasselbe wie in Paris, außer, dass die Bedingungen manchmal anders sind. Wir versuchen, offen zu sein um so viel einzufangen wie möglich, uns niemals zu wehren, wachsam zu bleiben. Im Übrigen hast Du immer jemand vom Geheimdienst an Deiner Seite und eine mächtige Bürokratie, mit der Du in Dialog treten musst. Außerdem gibt es Menschen, die nicht vor die Kamera möchten, weil sie Bedenken haben wegen des Eindrucks, der übermittelt wird. Also musst Du mit ihnen sprechen. Du drehst, indem Du die Stadt benutzt - die Stadt ist es, die den Film kreiert.


Hatte die Musik einen Einfluss darauf, dass Sie sich für Kinshasa entschieden?

Ja. Das hing wirklich mit den Kasai Alltars zusammen, die ein Konglomerat aus vier oder fünf unterschiedlichen Bands bilden. Es ist sowohl traditionelle Musik, als auch Musik, die urbanisiert wurde, die nach Schmieröl und nach den Wäldern gleichzeitig riecht. Transzendental, elektrisch, fast schon Rock oder Elektro. Diese Musik verbindet Tradition und Moderne und verkörpert in meinen Augen die afrikanische Stadt.


Waren die Mitglieder der Kasai Allstars gleich empfänglich für das Projekt? 

Ich traf sie - einer Gruppe nach der anderen - um mit ihnen zu reden und sie zeigten viel Interesse und Neugier. Es war relativ einfach und wir konnten mit ihrem Label, Crammed Discs, zusammenarbeiten. Muambuyi, die Sängerin, übte mit Tshanda. Sie war sehr großzügig, räumte für den Film ihren Platz für sie, lieh ihr ihre Stimme, brachte ihr die Songs bei und wie man tanzt... Wir drehten die Songs sowohl live als auch mit Playback in mehreren Nächten und über einen längeren Zeitraum. In ganz Kinshasa spürte ich den enormen Wunsch, etwas zu erschaffen, zu kreieren. Man könnte meinen, die Leute wären träge geworden, weil sie so lange nur Negatives erlebt haben, aber tatsächlich findest Du einen unglaublichen Schaffenswillen vor. Nebenbei bemerkt ist es kein Zufall, dass es einer der wenigen Orte in Afrika ist, an dem es ein Symphonieorchester gibt...


Wenn das Orchester im Film plötzlich anfängt, "Fratres" von Arvo Pärt zu spielen, spürt man eine einmalige Erhabenheit ...

Als ich in Kinshasa ankam, war meine erste Reaktion: "Wann komme ich hier wieder raus?". Aber die Stadt hat mich gefangen genommen und das ist etwas, was ich auf den Film übertragen wollte. Sicher zu stellen, dass dieser anfänglich abstoßende Eindruck mit der Zeit zu einer Anziehung wird. An einem der ersten Tage, an dem ich überlegte, wie ich die Realität dieser Stadt auf der Leinwand zeigen könnte, kontaktierte ich das Orchester, das ich von einem Dokumentarfilm kannte. Ich kam in einem Flugzeughangar an, setzte mich, und sie begannen zu spielen. Ich war total erschöpft, aber plötzlich wurde ich davongetragen. Es ist ein Amateurorchester, aber in ihrem Spiel liegt eine ungeheure Kraft. Es ist dieser unendliche Moment zwischen Resignation, Skandal und der Versöhnung mit dem Leben.

Das Leben ist hart, zerstörerisch. Leute wie sie erhalten die Hoffnung am Leben, dass eine Versöhnung möglich ist.


Haben Sie Vorbilder in der Literatur oder der Mythologie?

Saul Williams, der in TEY die Hauptrolle spielte, gab mir das Buch Die hungrige Straße des nigerianischen Dichters und Schriftstellers Ben Okri, die von der Initiationsreise eines Jungen erzählt, Azaro. Er ist ein Geisterkind. Geisterkinder leben nicht wirklich in der Welt und schließen einen ewigen Pakt, möglichst früh zu sterben, um in ihre Geisterwelt zurück zu kehren. Eines Tages beschließt Azaro, den Pakt zu brechen und sich mit der Realität zu konfrontieren. In Der blaue Vogel von Maurice Maeterlinck finden wir ebenfalls Seelen, die auf ihre Wiedergeburt warten, einige von ihnen zweifeln allerdings. Einen Körper finden, eine Geschichte finden, einen Kontext, in dem man verbleibt. Diese Entfremdung vom eigenen Ich, die wir in so vielen Märchen finden, ist etwas, das mir gut bekannt ist und mit dem ich mich ständig auseinandersetze. Dies ist zu einem großen Teil das Fundament meiner Leidenschaft und meines filmischen finden, ist etwas, das mir gut bekannt ist und mit dem ich mich ständig auseinandersetze. 

Foto: © Verleih

Info:

Alain Gomis
Frankreich / Senegal / Belgien / Deutschland / Libanon 2017
Lingala
123 Min · Farbe