Claudia Schulmerich
Frankfurt am Main (Weltexpresso) – Ein schöner Film, ein berührender Film, auch ein trauriger und ein lustiger Film über das Leben, das nicht dann etwas Besonderes ist, wenn man reich und berühmt ist, sondern, wenn das Leben einen wie Ben (Frederik Lau) in Situationen wirft, die man bewältigt. Das macht glücklich.
Glücklich ist per se auch sein Bruder Barnabas, genannt Simpel (David Kross), er lebt das Glück der Ahnungslosen, der Simplen eben, wie man geistig behinderte Menschen angesichts ihres niedrigen Intelligenzquotienten nennt, von dem sie selbst ja nur ahnen, weil sie nicht intelligent genug sind, sich selbst einschätzen zu können, aber körperweise genug, die Ablehnung, zumindest Verständnislosigkeit ihrer Umgebung zu spüren. Darum wird aus dem frohen Simpel immer wieder ein trauriger Simpel, was von einer auf die andere Sekunde geschehen kann, selbst, wenn sich Bruder Ben noch so anstrengt, ihm die Sterne vom Himmel zu holen.
Sehr plötzlich nämlich ist aus dem älteren Bruder der Familienvorstand geworden, denn die geschiedene liebevolle Mutter (Anneke Kim Sarnau) hatten wir gerade noch als sterbenskrank kennengelernt, schon ist sie tot. Der Vater? Ja, eigentlich gibt es den, davon später. Näher kennenlernen können wir erst einmal den 22jährigen Simpel, wie er glücklich, wie es nur Kinder sein können, mit der Burger-King-Krone auf dem Haupt in dicken Stiefeln durchs Watt zieht, halbnackt mit Unterhose und Parka, seinen Hasen, ein Stofftier namens Hasehase, ohne den gar nichts geht, in einer Blechwanne hinter sich durch den Sand ziehend. Das Glück potenziert Ben, der seinen Bruder lange suchte und ihn am Strand endlich findet, sich auf ihn stürzt, mit ihm heftig tanzt, bis beide in den Sand fallen und sich darin wälzen. Die Freiheit des Strandes ist das Gegenteil von der Enge des kleinen windschiefen Hauses irgendwo auf dem Land, in das die Brüder mit Bens Roller zurückkehren. Die Botschaft erkennen wir schon. Aber sie ist nebensächlich, denn nur die menschliche Nähe von Bruder zu Bruder ist es, was für beide zählt.
Nicht aber für die deutsche Bürokratie in Familiendingen. Denn kaum ist die Beerdigung der Mutter vorbei, steht da schon ein Beamter vor der Tür und teilt den großen Buben mit, daß Bens Antrag, daß der Bruder bei ihm bleiben kann, abgelehnt, stattdessen Simpel ins Heim eingewiesen wird. Immerhin ist Ben aufsässig genug, sich damit nicht zufrieden zu geben, sondern erst einmal dem formalen Akt zu widersprechen, wobei ihm mitgeteilt wird, daß der Vater der Heimeinweisung zugestimmt hatte, denn der hat nach dem Tod der Mutter das Sorgerecht. O weh, der Vater ist längst aus dem Gedächtnis der Söhne entschwunden. Simpel glaubt, daß er auf ewigwährender Geschäftsreise ist, Ben weiß, daß er in Hamburg lebt.
Und als tatsächlich mit dem Polizeiwagen der Junge abgeholt werden soll, dreht Ben gezielt durch, schmeißt den Anstaltsleiter und den Polizisten aus dem Wagen, den er mit Simpel selber stürmt und auf und davon fährt Richtung Hamburg. Diese Exposition mußte sein, denn auf ihr baut sich ein Feuerwerk von Geschehnissen auf. Da sind Bestandteile eines richtigen Roadmovie, denn mit dem Auto unterwegs lernt man an Tankstellen aufregende Mädchen kennen, hier Aria (Emilia Schüle), eine schräge Type mit dem goldenen Herzen und dem Berufsziel Ärztin, die gleich die beiden Brüder bei sich in Hamburg wohnen läßt. Ihr Studium finanziert sie mit nächtlichen Rettungseinsätzen, wo vor allem ihr Kollege, der Sanitäter Enzo (Axel Stein, eine wunderbare Wirkung auf Simpel hat.
Ben versucht währenddessen, den Vater ausfindig zu machen und erst beim Niederschreiben wird einem noch einmal deutlich, in welchem Tempo der Film das Brüderpaar von einer Situation in die andere katapultiert.
Das sind einerseits – urkomisch – die vielen Szenen, in denen Simpel vom Puff über Bars bis zu harmlosen Treffen durch seine entwaffnende Kindlichkeit eine warmherzige Stimmung schafft. Das sind aber auch, nachdem Ben den Vater (Devid Striesow) aufgetrieben hat, die entlarvenden Zusammenkünfte mit ihm. Er redet mit Engelszungen, um sich aus der Affäre zu ziehen, die es für ihn bedeutet, seinen behinderten Sohn seinem Umfeld vorzustellen. Er hatte es doch endlich geschafft, in feiner Vorstadtvilla mit neuer Frau und zwei Töchtern zu reputieren. Nein, er ist kein Schwein, aber schwach und als dann bei der Geburtstagsfeier seiner Tochter Simpel auftaucht, dreht der Vater durch. Und Simpel hat eben das oft beschworene tiefergehende Gespür der Geistesschwachen und reagiert eindeutig auf die innere Ablehnung durch den Vater, der sich für ihn schämt, weshalb er auch damals die Familie verließ. Und er reagiert so, wie der Vater es in seinen schlimmsten Erwartungen vorhersah.
Für den Zuschauer bringt das viel Kurzweil, Tragikkomödie und tiefere Bedeutung. Wie es weitergeht, gar ausgeht, ist gar nicht wichtig. Das Entscheidende ist, das Wechselbad der Gefühle mitzuerleben, in denen Simpel badet und die er uns dank der Leistung von David Kross ins Herz pflanzt. Ihm gelingt es, diese Figur in Haltung, Mimik und Gestik in der jeweiligen Gefühlslage glaubwürdig, ohne Peinlichkeiten, aber auch ohne Übertreibungen wahrhaftig werden zu lassen. Daß im Film dann doch immer mal wieder Schmalz auftaucht und Klischees spürbar werden, ist die andere Seite.
Frederik Lau ist eine Überraschung, denn er schien schon auf den pubertären Kraftmeier festgeschrieben. Stattdessen ist er der gute Bruder, der seine eigenen Belange schon lange nicht mehr wahrnimmt, weil die Sorge um den Jüngeren ihn ausfüllt, was natürlich eine Überforderung ist und in die Richtung des hilflosen Helfers geht. Der Film hat auch für ihn eine Lösung.
Foto: © Verleih
Info:
DIE BESETZUNG
Simpel David Kross
Ben Frederick Lau
Aria Emilia Schüle
David Devid Striesow
Enzo Axel Stein
Chantal Annette Frier
Clara Anneke Kim Sarnau