120BPMSerie: Die anlaufenden Filme in deutschen Kinos vom 30. November 2017, Teil 4

Margarete Frühling

München (Weltexpresso) - Nathan (Arnaud Valois) ist Mitte Zwanzig und homosexuell. Anfang der 1990er Jahre kommt er aus dem Süden nach Paris und schließt sich der AIDS-Aktivistengruppe ACT UP an, obwohl er selbst HIV-negativ ist. In der Gruppe sind nicht nur Homosexuelle vertreten, sondern auch Lesben, Fixer oder ein 16jähriger Bluter zusammen mit seiner Mutter.

Die Gruppe will mit Aktionen auf die Probleme von Betroffenen aufmerksam machen, denn immer noch wird in weiten Teilen der Gesellschaft über die Epidemie geschwiegen. Auch die Regierung von Präsident Mitterrand kümmert nicht darum. Die sexuelle Aufklärung in den Schulen findet nicht statt und die Pharma-Industrie verschleppt die Entwicklung neuer und besser verträglicher und billigerer Medikamente.

Bei ihren regelmäßigen Meetings werden die neuen Aktionen geplant und vorbereitet. Unter der Führung von Thibault (Antoine Reinartz) und Sophie (Adèle Haenel) veranstaltet die Gruppe ACT UP spektakuläre Demonstrationen. Dabei sind ihre Aktionen oft radikal und kontrovers, aber auch öffentlichkeitswirksam. So unterbrechen die Mitglieder z.B. eine Diskussion über AIDS, werfen mit Kunstblut-gefüllte Luftballons an die Wände des (imaginären) Pharmakonzerns Melton Pharm, verteilen Informationsbroschüren und Kondome in Klassenräumen oder zeigen auffallende Plakate bei einer Beerdigung eines ihrer Mitglieder, dessen Sarg als Demonstration durch die Stadt gefahren wird. Alle Mitglieder wissen genau, wie sie sich zu verhalten haben, wenn sie von der Polizei verhaftet werden. Anschließend gibt es regelmäßig auch Diskussionen über die Aktionen und über das Verhalten der einzelnen Personen dabei.

Nathan lernt bei den Aktivitäten Sean (Nahuel Pérez Biscayart), einen der Gründungsmitglieder von ACT UP kennen und verliebt sich in ihn. Sean ist allerdings nicht nur HIV-positiv, sondern bei ihm ist AIDS bereits ausgebrochen. Sean bringt Nathan bei wie man trotzdem ein erfülltes Sexualleben haben kann, ohne den Partner anzustecken. Sean und Nathan ziehen zusammen, doch dann geht es Sean immer schlechter, so dass er sich nicht mehr selbst an den Aktivitäten der Gruppe beteiligen kann...


Der Film "120 BPM" beruht auf den Erlebnissen von Regisseur und Drehbuchautor Robin Campillo, der in den frühen 1990er Jahren selbst Mitglied bei ACT UP in Paris war. Campillo hat auch das Drehbuch für "120 BPM" zusammen mit Philippe Mangeo verfasst, der ebenfalls aus dem Umfeld von ACT UP Paris stammt.

ACT UP (AIDS Coalition to Unleash Power) wurde 1987 zuerst in New York gegründet. Dabei wurde das Ziel verfolgt, durch öffentlichkeitswirksame Aktionen auf AIDS aufmerksam zu machen und durch Lobby-Arbeit politischen Druck auf die Politiker und die Pharma-Industrie auszuüben. Organisiert war die Gruppe als führerloses und anarchistisches Netzwerk. Einer der Mitgründer war der Schriftsteller Larry Kramer, der seine Erlebnisse mit "The Normal Heart" 1985 zu einem der ersten Theaterstücke zum Thema AIDS verarbeitet hat, das 2014 auch fürs amerikanische Fernsehen verfilmt wurde.

"120 BPM" hatte seine Premiere bei den Filmfestspielen von Cannes 2017. Dort gewann der Film den Großen Preis der Jury und den Preis der internationalen Filmkritiker- und Filmjournalisten-Vereinigung FIPRESCI. "120 battements par minute" wurde außerdem von Frankreich als Kandidat für die Oscarverleihung 2018 als bester fremdsprachiger Film eingereicht.

Das AIDS-Aktivisten-Drama verbindet bewusst und gekonnt Persönliches mit Politischem und hat dabei auch keine Angst davor lange erotische und sexuelle Szenen zu zeigen. Allerdings ist der Film mit 144 Minuten doch etwas lang, da einige der Szenen (z.B. nächtliche Tänze in einem Club oder auch die Sexszenen zwischen Nathan und Sean) zu ausführlich sind. Ein paar Schnitte hätten da nicht geschadet, sondern den Film noch intensiver gestaltet. Viel Spaß gemacht haben die Szenen zu den Diskussionen, den Aktionen und den Demonstrationen der Gruppe. Leider hat man außer über Nathan und Sean nicht allzu viel über die anderen Mitglieder der Gruppe erfahren, außer dass die meisten wohl HIV-positiv waren. Schade, denn der Zuschauer hätte gerne etwas mehr über Thibault (Antoine Reinartz), den Sprecher der Gruppe, die resolute Sophie (Adèle Haenel) oder andere Mitglieder erfahren.

Dagegen werden die Sterbeszenen von Sean sehr detailliert und auch etwas zu ausführlich dargestellt. Die beiden Darsteller Nahuel Pérez Biscayart als Sean und Arnaud Valois als Nathan spielen ihre Rollen aber hervorragend und gänzlich ohne Pathos.

Dem Regisseur gelingt es, das Klima der damaligen Zeit hervorragend einzufangen, denn er zeigt immer wieder, dass der aus Amerika importierte Slogan "Silence = Death" in der AIDS-Aufklärung ein wichtiger Bestandteil ist, z.B. während einer Demonstration in einer Schule, wenn ein Lehrer meint, dass Gespräche über Sex nur zu sexuellen Handlungen führen würden oder auch bei Unterhaltungen mit anderen Homosexuellen, die das Thema AIDS nicht ansprechen wollen und die sich auch weigern, Kondome zu benutzen. Dabei werden die Ignoranz in Politik und Gesellschaft oder das Profitdenken der Pharmaindustrie nicht vergessen. Aber auch die Mitglieder von ACT UP sind keine Heiligen. Sie verhalten sich - verständlicherweise - in manchen Situationen ziemlich unbeherrscht, vor allem in den Verhandlungen mit dem Pharma-Konzern.

Dadurch ist ein sehr interessanter Film entstanden zum Kampf der Schwulen- und Lesben-Gruppen um gesellschaftliche Anerkennung und um Unterstützung im Kampf gegen die AIDS-Epidemie in den 1980er und 1990er Jahren. Der Film ist sowohl ein autobiographisches Dokument als auch ein bewegender Liebesfilm.

"120 BPM" kommt in Deutschland in Französisch mit deutschen Untertiteln in ausgewählte Kinos. Es lohnt sich vor Ort nachzuschauen, ob und in welchen Kinos er ab dem 30. November 2017 gezeigt wird. Der Film ist auf jeden Fall sehenswert.

Foto: Filmplakat © Edition Salzgeber

Info:
120 BPM (Frankreich 2017)
Originaltitel: 120 battements par minute
Genre: Drama
Filmlänge: 144 Min.
Regie: Robin Campillo
Drehbuch: Robin Campillo & Philippe Mangeot
Darsteller: Nahuel Pérez Biscayart, Arnaud Valois, Adèle Haenel, Antoine Reinartz, Félix Maritaud, Médhi Touré u.a.
Verleih: Edition Salzgeber
FSK: ab 16 Jahren
Kinostart: 30.11.2017