f Voll verschleiert Szene 3Serie: Die anlaufenden Filme in deutschen Kinos vom 21. Dezember 2017, Teil 2

N.N.

Paris (Weltexpresso) - Wie sind Sie von der Dokumentarfilmerin und Cutterin – des gefeierten Films „S.O.S. Tehran“ (2002) – letztlich zu einer Komödie wie VOLL VERSCHLEIERT! gekommen?

Ich nahm an, dass es nach meinem ersten Dokumentarfilm, der ziemlich kompliziert war, weil er im Cinema-Verité-Stil in Teheran entstand, leicht sein würde, weitere Dokus drehen zu dürfen. Aber das war ein Trugschluss. Anschließend hoffte ich lange darauf, für ein Projekt, das mir sehr am Herzen lag, grünes Licht zu bekommen. Ich wollte einen Film über einen früheren israelischen Spion drehen, der für die Sowjets tätig war. Aber mein damaliger Produzent konnte kein Geld dafür auftreiben mit der Begründung, dass meine Herkunft – ich bin im Iran geboren – mich nicht gerade legitimierte, so ein israelisches Thema zu bearbeiten.

Nach fünf Jahren habe ich dann aufgegeben und, um nicht in Depressionen zu versinken, mit der Arbeit an dieser Geschichte begonnen, die ich schon länger im Kopf hatte. Allerdings war ich sehr skeptisch, da ich vorher noch nie ein fiktionales Drehbuch geschrieben hatte und wusste, dass eine Komödie noch viel schwieriger zu schreiben ist als ein Drama. Aber die Arbeit an dem Drehbuch war ein einziges Vergnügen. Ich war überrascht, wie mühelos sich die Story entwickelte. Das hing vermutlich mit einem Legitimationsgefühl zusammen: In der Geschichte stecken durchaus persönliche Erfahrungen.


Inwiefern?

Ich habe einen Teil meines Lebens in der Islamischen Republik Iran verbracht. Streng religiöse Erziehung, eine vorgeschriebene Kleiderordnung und die Sittenpolizei haben sich unauslöschlich in die Erinnerungen an meine Teenagerzeit eingebrannt.

Als ich in den Iran zurückkehrte, um ’S.O.S. Tehran’ zu drehen, musste ich einen Tschador tragen, während ich bei verschiedenen Ministerien Genehmigungen einholte: Ich stolperte und verletzte mich mehr als einmal, weil sich meine Füße in dem bodenlangen Stoff verfingen und verbrühte mich mit heißem Tee bei dem Versuch, ihn zu trinken, während ich den Umhang trug. Einige von Armands Unfällen im Film sind also von persönlichen Erfahrungen inspiriert.

„Außerdem hatte ich beim Schreiben ‘Cyrano von Bergerac’ im Hinterkopf: Armand, voll verschleiert und für eine Frau gehalten, nutzt seine Situation, um Mahmoud bestimmte Wahrheiten zu vermitteln.“


Ist Ihnen so die Idee für den Schleier als Tarnung gekommen?

Vor ein paar Jahren hörte ich ein Interview mit Hojatoleslam Rafsanjani, einem der Machthaber der Islamischen Republik Iran. Darin erzählte er, wie er sich vor der Revolution mit einem Tschador als gläubige Frau verkleidete, um der Polizei des Schahs zu entkommen. Darüber hinaus flüchtete ein ehemaliger iranischer Präsident, der heute in Frankreich im Exil lebt, 1982 ebenfalls als verschleierte Frau verkleidet. Cross-Dressing, um einer Gefahr zu entgehen und sein Leben zu retten, das gefiel mir. Denn Billy Wilders ’Manche mögen’s heiß’ ist eine meiner Lieblingskomödien.

Außerdem hatte ich beim Schreiben der Geschichte ‘Cyrano von Bergerac’ im Hinterkopf: Armand, voll verschleiert und für eine Frau gehalten, nutzt seine Situation, um Mahmoud bestimmte Wahrheiten zu vermitteln. Genau wie Cyrano, der vorgibt, Christian zu sein um dadurch Roxanes Herz zu berühren. Während ich das Drehbuch schrieb, dachte ich permanent über diese beiden Aspekte der Story nach, den komödiantischen und den ernsthafteren.


Haben sich die Identitäten der Figuren während des Schreibens automatisch entwickelt?

Armand sollte von vornherein iranischer Abstammung sein. Es war mir ausgesprochen wichtig zu zeigen, dass der rückwärtsgewandte religiöse Obskurantismus das Leben in muslimischen Ländern schon total umgekrempelt hatte, lange bevor er in der westlichen Welt für Aufregung sorgte. Allerdings wurde Armand von politisch engagierten und aufgeklärten Eltern erzogen; sie haben die Revolution miterlebt, und ihr Beispiel motiviert ihn, das Risiko des Cross-Dressing einzugehen. Seine Eltern sind ein bisschen übergeschnappt, was an ihrer Jugendzeit liegt, ihren verlorenen Hoffnungen, die sie auf ihren Sohn übertragen, auch wenn ihm ihr endloses Gerede von Dingen, die vor dreißig Jahren passiert sind, eher auf die Nerven geht! Trotzdem kommen diese Familiengeschichten und der iranische Hintergrund Armand beim Cross-Dressing letztlich zugute.


Es muss Ihnen viel Spaß gemacht haben, sich diese Eltern auszudenken, die Ihre eigenen hätten sein können...

Mitra, Armands Mutter, ist eine Kombination aus meiner Mutter, meinem Vater und mir. Mein Vater war Kommunist, stammt aber aus der oberen Mittelschicht. Meine Mutter war politisch immer rechts. Sie haben sich meine ganze Kindheit hindurch ununterbrochen über Politik gestritten. Nur als es darum ging, dass ich den Iran verlassen wollte, waren sie sich ausnahmsweise einig.


Und wie sind Leila, Mahmoud und Sinna entstanden?

Ich wollte unbedingt Stereotypen über die arme Arbeiterklasse vermeiden, wie sprachliche Eigenheiten, jugendliche Straftäter, usw. Ich wollte eine Mittelklasse-Familie zeigen, Eltern, die ihre Kinder auf die Uni schicken und selbst gebildet sind. Deshalb gaben sie ihrem ältesten Sohn auch den Namen des Poeten Mahmoud Darwich. Ihr Tod nimmt Mahmoud sehr mit und macht ihn empfänglich für die Zuflucht in der Religion, und von da an gerät er immer tiefer in die Fänge des Fundamentalismus.

Aber eines möchte ich auch klarstellen: Ich bin nicht blind für die Lebenswelten der Franzosen, deren Familien hier einst eingewandert sind. Einige von Mahmouds Beobachtungen treffen sehr genau zu; er zieht aus ihnen nur die falschen Schlüsse. Außerdem war es mir sehr wichtig zu zeigen, wie unterschiedlich die Menschen aus armen Vororten sind: Nicht jeder Muslim, wie Sinna, ist automatisch ein Salafist; man kann aus Nordafrika stammen und Atheist sein, so wie Leila. Die Vororte sind nicht uniform und homogen, sie bestehen nicht aus einem einzigen Menschenschlag. 


Wie kamen Sie auf die Idee, dass Armand und seine Freunde einer Organisation angehören sollten, die Flüchtlingen hilft? 

Ich habe selbst ehrenamtlich für solche Organisationen gearbeitet, die Flüchtlingen und illegalen Einwanderern hilft, die normalerweise am Ostbahnhof von Paris landen. Ich möchte diese Gelegenheit nutzen, um zu erwähnen, dass ich oft unwahrscheinliche Situationen beobachtet habe, die natürlich nicht komisch waren wie im Film.


Wie ist die Szene entstanden, in der Scheherazade den Bus nimmt und bei den anderen Fahrgästen so heftige Reaktionen auslöst?

Bei einer iranischen Freundin war es genauso. Die Szene ist also von ihr inspiriert. Aber es war mir auch sehr wichtig, im Film eine Parabase zu haben, wie man sie in der griechischen Tragödie findet. Es ist der Moment, wenn sich der Chor direkt ans Publikum wendet und erklärt, was passiert. Ich nutze diese Situation im Bus, um auszudrücken, was jeder denkt, aber sich keiner zu sagen traut: ’Wir sind keine Schlampen, bloß weil wir uns normal kleiden.’ Und: ’Wenn sich eure Eltern abgeschuftet haben, damit ihr in Frankreich leben könnt, dann deshalb, weil sie sich für euch eine bessere Zukunft erhofften’.

Diese Sätze stammen aus Gesprächen, die ich mit Franzosen über den Schleier geführt habe. Es ist gesunder Menschenverstand: Diese Fahrgäste sind freundliche Leute. Sie wählen nicht extrem rechts. Sie sind nicht islamophobisch. Sie glauben, genau wie ich, dass es im 21. Jahrhundert unendlich viele verschiedene Arten gibt, seine Religion auszuüben, und dass eine andere Spiritualität möglich ist, eine offene und tolerante, die weder Gläubige noch Nichtgläubige unterdrückt. Das ist es auch, was Armand – dank Literatur – Mahmoud beibringt.


Ist die „Konferenz der Vögel“ ein heiliger Text?

Es ist in erster Linie ein Gedicht, das neunzig Prozent der Iraner mehr oder weniger gut kennen. Ich wollte durch die Literatur zur Spiritualität zurückkehren: zu der Idee, dass Gott in uns allen steckt, ein Teil von uns ist. Wenn der Dichter Farid al-Din Attar bereits im 12. Jahrhundert zu dieser Erkenntnis kam, warum sollte es uns neun Jahrhunderte später nicht auch gelingen? Warum sollte Mahmoud nicht durch diesen Text gerettet werden?

Er ist noch nicht völlig radikalisiert, aber kurz davor: Ich bin jedoch ausgesprochen optimistisch und mag meine Charaktere grundsätzlich, selbst die drei Typen aus dem einkommensschwachen Haushalt, die ihre Religion wie die neuesten Sneaker zur Schau tragen!

Fortsetzung folgt

Foto: ©

Info: Abdruck aus dem Presseheft

Regie
Sou Abadi

Darsteller

Félix Moati - Armand
Camelia Jordana - Leila
William Lebghil - Mahmoud
Anne Alvaro - Mitra
Carl Malapa - Sinna
Laurent Delbecque - Nicolas
Oscar Copp - Fabrice / Farid
Oussama Kheddam - Mustafa
Walid Ben Mabrouk - Ahmed
Miki Manojlovic - Darius