
Claudia Schulmerich
Frankfurt am Main (Weltexpresso) – Der griechische Regisseur Yorgos Lanthimos hat selbst erzählt, vgl. nächsten Beitrag, daß er nicht von der griechischen Sage vom Frevel des Agamemnon ausgegangen sei, der um guten Wind für die Fahrt nach Troja zu bekommen – wo sie die geraubte Ehefrau seines Bruders: Helena zurückentführen wollen – seine Tochter Iphigenie der Göttin der Jagd, Artemis, hatte opfern sollen.
Hintergrund war, daß er auf Aulis eine der Göttin heilige Hirschkuh getötet hatte, was den Zorn der Artemis in Form von Gegenwinden hervorgerufen hatte, so daß er nicht fahren konnte. Nein, daran habe er erst einmal beim Konzipieren der Geschichte nicht gedacht, dann aber die Übereinstimmung zwischen griechischer Mythologie und seiner Geschichte bemerkt und dem Film diesen Titel gegeben. Was aber ist nun das Vergleichbare. Wer oder was ist hier die heilige Hirschkuh?
Die Herzoperation, mit der der Film verstörend genug beginnt? In Großaufnahme sehen wir eine Operation am schlagenden Herzen durch den Herzchirurgen Steven Murphy (COLIN FARRELL) , die gelingt. Nein, und das Vergleichbare ist auch nicht die OP, die vor Jahren zum Tod eines seiner Patienten führte. Das Vergleichbare, der Frevel liegt darin, daß der Chirurg diese Operation unter Alkoholeinfluß aufgeführt hatte und dies von ihm und dem Krankenhaus verschleiert wurde. Auf jeden Fall weiß der Sohn des Toten, der 16jährige Martin (BARRY KEOGHAN, unglaublich, wie dieser 26jährige den Jungen verkörpert) darum, der auffällig die Nähe des Arztes sucht.
Und so werden wir erst einmal in die Geschichte eingeführt, daß wir die Treffen der beiden bemerken, von denen seine Familie erst einmal nichts weiß. Ist er ein illegitimer Sohn, sein jugendlicher Liebhaber? Der Regisseur läßt uns bewußt im Unklaren und zwingt uns, uns unsere eigenen Gedanken zu machen – und schon das ist stark! Wie wir als Zuschauer alles genau wissen wollen, gar nicht eine Geschichte erst einmal abwarten, sondern mit unseren Interpretationen schon beginnen, als drei Anfangsszenen einfach nicht zusammenpassen wollen.

Jetzt versteht man gut, warum Lanthimos, den von Großbritannien und Irland produzierten Film in den USA drehen wollte. Es herrscht in dem Film eine innere und äußere gehobene Plastikmentalität vor. Da muß so ein einfacher Bursche wie Martin einfach wie ein emotionaler Eisbrecher wirken – und so lassen sich alle von ihm einwickeln. Beim Arzt ist ihm das sowieso gelungen, der ist der einzige, der damit sein schlechtes Gewissen beruhigt. Die gerade mannbar gewordene Tochter verliebt sich in ihn, Bob sieht ihn als männliches Vorbild und nur die Mutter, die erst einmal ob der gut geschauspielerten Höflichkeit des Jungen und der mitgebrachten Blumen für ihn eingenommen ist, spürt mehr und mehr das Bedrohliche.
Das deutet sich erst einmal für die Familie dadurch an, daß Martin unbedingt seine Mutter, die Witwe, mit dem Arzt verkuppeln will, was diesen fliehen und ahnen läßt, daß er den Plagegeist nicht mehr los wird. Aber es kommt viel schlimmer. Und damit zur Iphigenie. Das Gefühl von Bedrohung, das von Anfang an in diesem Film in der Luft liegt – für den Zuschauer eben leichter wahrnehmbar als für die auf der Leinwand Agierenden - , dieses Gefühl wird nun

Doch, ein Mittel zum Überleben gäbe es, deutet Martin dem Arzt an. Steven müsse nur eins seiner drei Familienmitglieder opfern. Also töten. Die Ehefrau, den Sohn oder die Tochter. Diese zentrale Szene kommt ganz einfach daher: Martin sitzt an Bobs Krankenhausbett, als Steven eintritt. Martin, der bisher mit falscher Freundlichkeit Steven angesprochen hatte, schlägt jetzt den wahren Ton an, die ihn als Erpresser und Psychopathen ausweisen: „Du hast ein Mitglied meiner Familie getötet, jetzt musst du ein Mitglied deiner Familie töten. Ich kann dir nicht sagen, wen. Das musst du entscheiden. Aber wenn du es nicht tust, werden alle krank und sterben.“ Denn diese Lähmung sei nur das erste von mehreren Symptomen, dann sterbe Bob. Steven ist schockiert, glaubt ihm aber natürlich kein Wort. Dabei hat längst auch schon Martins Fluch auf Kim eingewirkt. Auch sie kann bei einer Chorprobe ihre Beine nicht mehr bewegen, kommt in die Klinik...

Das ist ein Film, über den man viel nachdenken muß. Dessen Bilder einen auch noch begleiten, wenn man mit anderem beschäftigt ist. Es ist im übrigen natürlich auch ein Horrorfilm, denn jeder weiß, daß der eigentliche Horror dort stattfindet, wo angeblich alles überschaubar und in Ordnung ist. Eine Ordnung, die wie bei Steven die Unordnung kaschiert und seinen Verstoß gegen den ärztlichen Eid ungesühnt lassen wollte, was auch Kollegen mitvertuschten. Und wie hätten wir uns verhalten? Dem Kollegen gegenüber?
Fotos: Der negative Held Steven, übrigens im Gesicht zugewachsen wie es sich für einen Heimlichtuer geziemt, beim schwungvollen Gang durch das von Reinigungsmitteln blitzende Krankenhaus, der Chefarzt in Weiß, auch zu Hause möchte er gegenüber seiner Frau gerne das Sagen haben, aber Martin, hier bei einer Untersuchung, hindert ihn daran © Alamode Film
Info:
BESETZUNG
Steven Murphy . COLIN FARRELL
Anna Murphy . NICOLE KIDMAN
Martin . BARRY KEOGHAN
Kim Murphy . RAFFEY CASSIDY
Bob Murphy . SUNNY SULJIC
Martins Mutter . ALICIA SILVERSTONE
Matthew . BILL CAMP
Regie
YORGOS LANTHIMOS
Drehbuch
YORGOS LANTHIMOS, EFTHYMIS FILIPPOU