Hanswerners BERLINALE Tagebuch (5)
Hanswerner Kruse
Berlin (Weltexpresso) - Ein halbnackter Tänzer dreht Pirouetten auf dem Bahnsteig. Die Bettlerin trägt in der S-Bahn singend ihr Anliegen vor. Lautstark streitet ein Paar in fremder Sprache. Zwei Stationen lang küssen sich leidenschaftlich zwei Frauen...
Wie Filmschnipsel stimmen mich diese Begebenheiten auf Berlinale-Filme ein, Realität und Kino verschwimmen in meinem Vorfilm. Früher gab es in den Kinos solche dokumentarische oder spielerische Vorfilme, die (meist) mit dem folgenden Streifen nichts zu tun hatten. Doch die gibt es heute kaum noch.
Stattdessen haben die meisten Filme „Teaser“ (steht so im Duden, ein deutsches Wort dafür gibt es nicht). Darin machen mehr oder weniger lange Szenen auf den folgenden Streifen neugierig, bevor der Titel kommt.
Derzeit werden Filme immer länger, heute gibt es einen extremen Vier-Stunden-Film des philippinischen Regisseurs Lav Diaz. Ein Acht-Stunden-Epos von ihm wurde vor zwei Jahren auf der Berlinale prämiert und viel gelobt. Bei manchen Filmen habe ich allerdings das Gefühl, das, was sie so recht und schlecht zeigen, könnte man besser als Kurzfilm gestalten.
Als Kurzfilme sind die einstigen Vorfilme ein eigenes Genre geworden, obwohl es sie schon immer gab. Auf der Berlinale werden für diese „Shorts“ auch ein Gold- und ein Silberbär vergebn. Gut ein Drittel der 385 gezeigten Filme sind mittellange oder kurze Filme:
Ein junges Mädchen setzt sich in Nordschweden beim Jagen gegen alte Männer durch. Mit stroboskopartigen Schnitten wechseln Wald und jemand, der durch ihn geht. Ein bosnischer Teenie liebt ihre trotzige Tante Maja und folgt ihr heimlich nach Deutschland. Ein nigerianischer Mann ermordet den Geliebten seiner Schwester, die dennoch aus dem Dorf flüchtet. Wie sehen Blinde eine Sonnenfinsternis?
Man kann mit Kurzfilmen viel erzählen und - vor allem - wunderbar experimentieren. Mit dem Wissen, dass es bald vorbei ist, kann ich sich viel Kurzes ansehen, aushalten und dabei sogar Neues entdecken...
Foto:
Experimentalfilm „Solar Walk“ ©Filmstill Berlinale Shorts