Serie: Die anlaufenden Filme in deutschen Kinos vom 31. Mai 2018, Teil 4
Claudia Schulmerich
Frankfurt am Main (Weltexpresso) – Gestern ist die Regie-Ikone Agnès Varda 90 Jahre alt geworden, bzw. jung geblieben. Und zum hohen Geburtstag hat sie sich selbst – und uns! - ein bezauberndes Werk geschenkt, das so poetisch wie realistisch zeigt, wie Menschen in Frankreich sich selbst sehen, wie sie leben wollen, aber leben müssen, wie unterschiedlich nicht nur die Lebensbedingungen sind, sondern wie vielfältig die Charaktere und Lebensweisen. Ein Film: altersweise und lebensleicht.
Die in Belgien geborene, aber ihr Leben lang in Frankreich lebende Filmemacherin mit griechischen und französischen Wurzeln, die als Nouvelle-Vogue-Legende bezeichnet wird, aber auch Fotografin ist und zwischen Spielfilmen, Dokumentarfilmen, filmischen Essays changiert, und das immer auf hohem Niveau, verliert zunehmend ihr Augenlicht, man könnte also das Projekt der beiden – JR ist ein 33-jährige Fotograf und Streetart-Künstler – auch als eines bezeichnen, wo JR mit überlebensgroßen Fotos, die öffentlich angebracht werden, ihrer Sehschwäche abhilft. Denn dieser Teil der gigantischen Porträts aus dünnem Papier, die auf Häuser, also Fassaden, auf Mauern, Zügen, Schiffscontainer, ja sogar auf Wehrmachtsbeton geklebt werden, wirkt wie mit dem Vergrößerungsglas gezaubert, wobei das Entscheidende ist, was sie abbilden. Keine Genies, keine Berühmtheiten, sondern eher die kleinen Leute, das schaffende Volk, die durch ihre harte Arbeit Gekennzeichneten, die, die auf dem Lande leben, wo es noch rauer zugeht, herzlicher auch.
Es ist der Foto-Truck, der dies möglich macht, und eine künstlerische Spezialität von JR ist, wobei er als Grundlage meist die Fotos nimmt, die Agnès Varda aufgenommen hatte und diese als Riesenposters ausdruckt. Das wäre eine äußerliche Kennzeichnung ihrer Zusammenarbeit, die innerliche findet auf der Ebene statt, daß zwischen der 90Jährigen und dem jungen Mann mit der ewigen Sonnenbrille, der ihr Urenkel sein könnte, eine innere Wesensverwandtschaft besteht, auf Menschen neugierig zu sein, ihnen zuhören zu können, auch, die richtigen Fragen zu stellen und ihnen dies durch ihre Porträts und die meterhohe öffentliche Anbringung zurückzugeben. Da wirken dann die in Wirklichkeit so kleinen Menschen wie Bühnenfiguren und wie die, die die Geschicke der Welt verwalten. Wie sehr pure Größe zum Gehalt wird, kann man an diesen Abbildungen miterleben – rührend, ja erschütternd, wenn der Briefträger, der Fabrikarbeiter, die einzig übrig gebliebene Bewohnerin einer großen verlassenen und verslumten Bergbauarbeitersiedlung sich als Riesenplakat wiederfinden und dabei zusehen, wenn sie von allen angeschaut werden.
Das alles ist sehr interessant, aber doch ereignet sich das Eigentliche in den Gesprächen, in den Mienen beim Sprechen und Zuhören, bei dem, was nicht gesagt wird, aber gedacht, wie man als Zuschauer mitinterpretiert. Man staunt, wie unterschiedlich das Altern ist. Agnès Varda hat nicht nur mit den Augen Probleme, mit dem Gehen auch, aber ihr Geist ist hellwach und ihre Fähigkeit, die Menschen zum Sprechen zu bringen, ist phänomenal und ihr Verständnis für den anderen genauso beeindruckend wie ihre Art, die Dinge beim Namen zu nehmen, ihre Meinung deutlich auszudrücken. Sie ist humorvoll, auch mit sich selber, wenn sie ihrem jungen Abbild die Nase zeigt. Die da ist jung, aber die Alte ist heute so viel klüger und weise. Sie menschelt nicht, sondern tritt Menschen auf derselben Ebene gegenüber. Abgegrenzt und integriert.
Sie macht auch bei dem Spiel mit, daß der Jüngere ein wenig über Angewohnheiten, ihre Verschrobenheiten, ihre Marotten liebevoll spottet; als Beobachter empfindet man das als Ausgleich dafür, daß sie schon ein Monument ist, dem er sich dankbar erweist, daß es zur Zusammenarbeit mit solcher filmischen Qualität – schauen Sie wie viele Kameraleute erwähnt sind – gekommen ist, die immerhin auch zur Oscarnominierung führte. Aber das alles ist nicht wesentlich, sondern das Eigentliche ist: Man kann noch so viel über dieses filmische Schmuckstück schreiben, über das Wo, das Wer und auch Wie, aber das Erlebnis, das man beim Sehen hat, läßt sich nicht wiedergeben. Darum macht man ja Filme. Anschauen!
Fotos:
Das Titelfoto ist besonders beeindruckend. Es zeigt die Bewohnerin über die Fassade gezogen, so daß im Dunkeln der Türeingang und das Fenster das Ganze plastischer machen. Es ist JEANNINE CARPENTIER, Einwohnerin von Bruay-la-Buissière, Pas-de-Calais „Ich bin die einzige Überlebende dieser Bergbausiedlung! Ich habe gesagt, ich gehe als Letzte. Noch bin ich da.“
© Verleih
Info:
Originaltitel 767Visages Villages (engl. Faces Places)
Produktionsland, -jahr Frankreich, 2017
Länge 93 Minuten
FSK ohne Altersbeschränkung
Kinostart . 31. Mai 2018
Regie & Drehbuch Agnès Varda & JR
Schnitt Agnès Varda, Maxime Pozzi-Garcia
Kamera Claire Duguet, Nicolas Guicheteau, Valentin Vignet,
Romain Le Bonniec, Raphael Minnesota, Roberto De Angelis, Julia Fabry
Musik Matthieu Chedid aka -M