f neila2Serie: Die anlaufenden Filme in deutschen Kinos vom 14. Juni 2018,  Teil 4

N.N.

Paris (Weltexpresso) - Was war der Ausgangspunkt für diesen Film?

YA: Das Drehbuch wurde mir angeboten: eine Komödie über ein junges Mädchen, ein „Wildfang“ aus der Vorstadt. Sie rappt, spielt Fußball und findet sich mehr zufällig an der Universität von Assas wieder, um Jura zu studieren. Mich interessierte eine Sache besonders. Nicht der „Wildfang“, nicht der Fußball, nicht der Rap in der Vorstadt, sondern der Lebensweg einer jungen Frau, die sich nicht in eine Schublade stecken lässt und auf ihre Weise das Schicksal in die eigene Hand nimmt. Das war meine Richtung, dadurch verlor der Film ein wenig den Komödien-Touch. Die Produzenten Dimitri Rassam und Benjamin Elalouf zeigten sich einverstanden.


Wie haben Sie das Originaldrehbuch geändert: Was wollten Sie behalten und was wollten Sie selbst einbringen?

YA: Von Beginn an gab es im Drehbuch von Yaël Langman und Victor Sain-Macary einige sehr starke Szenen, vor allem beim Rhetorikwettbewerb. Was mir gefallen hat, habe ich behalten, vom Rest habe ich mich befreit. Wir haben zu Dritt an der Umgestaltung gearbeitet, die Geschichte angereichert, uns auf meine Interessen konzentriert, aber auch einige Figuren zusammengestrichen oder ganz wegfallen lassen - wie auch die politisch korrekte Seite, auf die ich Null-Lust hatte: Die Einwanderin aus dem Maghreb, die sich mit allen gut versteht, die einen jüdischen homosexuellen Freund hat etc... Ich habe mich dem Projekt neu genähert und einen persönlichen Film gemacht. Dann stieß ein weiterer Drehbuchautor mit einer neuen Perspektive dazu, Noé Debré, der einigen Szenen aufpeppen sollte. Es macht mir Spaß, in der Gruppe zu arbeiten, das finde ich weniger nervenzehrend als alleine.


Sie haben die heitere Grundstimmung des Originaldrehbuchs erwähnt. Wie würden Sie DIE BRILLANTE MADEMOISELLE NEÏLA jetzt beschreiben?

YA: Als eine „Dramödie“. Für mich ist DIE BRILLANTE MADEMOISELLE NEÏLA ein Film, bei dem man lacht, vor allem aufgrund der Dialoge, aber der uns auch berührt und Fragen stellt. Mir gelingt allerdings kein Film ohne Komödien-Elemente, da würde ich ersticken. Vielleicht realisiere ich eines Tages ein richtiges Drama, damit man mich ernst nimmt! Ich würde sagen DIE BRILLANTE MADEMOISELLE NEÏLA ist ein politisch und gesellschaftlich orientierter Film, gleichzeitig aber auch witzig und voller Emotion über eine Französin mit algerischen Wurzeln, Opfer von Vorurteilen und über die Unart, Menschen in Kategorien einzuordnen. Sie ist aber auch Opfer ihrer selbst und ihrer Umgebung. Ich fühle mich übrigens dieser Geschichte sehr nahe: Irgendwie ist es auch mein Weg. Wenn Camélia Jordana sagt „Ich bin Neïla Salah, geboren in Créteil, Tochter von...“, erinnert mich das an meine eigene Jugend, an die Wohnwaben von Créteil, wo ich aufgewachsen bin und wo das Theater mir die Möglichkeit gegeben hat, mich dank harter Arbeit der Welt zu öffnen, und Texte kennenzulernen. Über allem liegt die Idee, dass wir uns bemühen müssen, zu verstehen. Wir müssen uns dem Land, in dem wir leben, annähern und dessen kulturelles und historisches Erbe nutzen. Besonders in unserem Fall. Dank der Schriftsteller und Philosophen lernen wir, wie wichtig es ist, selbst zu denken und damit auch uns selbst in Frage zu stellen.


Das sind die wichtigsten Themenstellungen: Unsere Herkunft, dass wir die Chancen ergreifen, zu wachsen, akzeptieren, dass andere uns bereichern. Da sind einige starke Sätze im Film, so auch wenn Neïla ihrem Freund Mounir sagt: „Mit 12 hast du von einer Karriere als Fußballer geträumt, mit 14 wolltest du Rapper werden und heute bist du ein Taxifahrer.“

YA: Eines der üblichen Klichees in der Banlieue, das noch in den Köpfen einiger junger Leute herumschwirrt. Gestern waren Sport oder Musik die Möglichkeit, rauszukommen, heute ist es der Job als Fahrer. Das ist noch heimtückischer, zumindest für Fußball oder Rap muss man was tun, braucht man Talent, muss man etwas beweisen. Nach diesem Satz wirft Mounir Neïla vor, es sei naiv zu glauben, sie könne nach dem Studium mit ihrem Namen einen Job bekommen. Dieses Dilemma kennen die Kids in der Banlieue zu Genüge.


Sie zeigen die Vorstädte weit entfernt von den Klischees, die wir sonst im französischen Film sehen.

YA: Es reizte mich wirklich nicht, mal wieder das Übliche zu erzählen, wie schwierig das Leben in diesen Vorstädten ist... Jeder weiß das und wir haben es auch bei den Dreharbeiten erlebt. Ich wollte eine bestimmte Distanz dazu und das Umfeld von Neïla darstellen. Sie fährt mit der Metro zur Uni, es ist ihr Viertel, ihr Hochhaus, ihre Mutter, ihre Großmutter, ihre Kumpel, aber das wirkliche Thema des Films liegt woanders.


Sprechen wir über Ihre dem Thema gemäße Inszenierung: die Universität, die Vorlesungen im Hörsaal, lange Sprachsequenzen. Dennoch langweilt man sich keine Sekunde. Hatten Sie im Vorfeld ein mulmiges Gefühl?

YA: Und wie. Das war eine meiner größten Sorgen als Regisseur! Wie diese langen Monologe, diese eloquenten Debatten, den verbalen Schlagabtausch zwischen Jordana und Daniel Auteuil filmen? Der Zuschauer muss genau hinhören bei den Dialogen, ohne sich darin zu verlieren. Ich musste also alles sehr einfach inszenieren und ohne zu langweilen. Ich hoffe, das hat durch die Veränderung der Blickachsen und durch Schuss und Gegenschuss-Proportionen geklappt. Und ich habe die Reaktionen der anderen Studenten gezeigt, die Gänge, die Gebäude und ließ einige ausgedehntere und fließendere Kamerabewegungen zu, aber ohne zu übertreiben. Ich mag es, wenn man einem Film die Inszenierung nicht anmerkt, wenn sie sich in den Dienst der zu erzählenden Geschichte stellt. Mit diesen Sorgen bin ich ständig konfrontiert, weil ich immer sehr dialoglastige Filme drehe. Alles hängt von den Locations ab: Ich finde das Drehen in einem Appartement oder einem Restaurant immer ziemlich langweilig, dagegen ist das Arbeiten in einem riesigen Vorlesungssaal großartig, viel plastischer. Ich hatte 700 Komparsen, Blickachsen, Anschnitte. Ich habe mir eine Einstellung erlaubt, die hinter Daniels Rücken beginnt und dann die Reihen hochfährt, während er Baudelaire liest... Ich wollte die langen Dialogszenen variieren, ohne die Kameraarbeit zu dominant werden zu lassen.


Die Universität von Assas, eine Welt, die Sie kennen?

YA: Überhaupt nicht, ich bin nie Student gewesen. Am meisten haben mich die Studenten bei Vorlesungsbeginn beeindruckt: Es war mucksmäuschenstill, nur die Stimme des Professors und das Klicken der Computertastatur der Studenten war zu hören. Eine unglaubliche Atmosphäre, ein bisschen so wie bei einem Rock-Konzert. Man kommt, um einem Typen mit dem Mikro vor Hunderten von Kids zuzuhören. Er zieht seine Show ab und das Publikum reagiert. Davon ließ ich mich für diese Einstellung inspirieren. Ich habe die gleiche Technik benutzt wie Regisseure beim Rock-Konzert.


Neïla, eine junge Frau aus der Banlieue trifft auf Pierre Mazard, einen ziemlich unausstehlichen Juraprofessor, ein Provokateur mit großer Selbstsicherheit durch sein Wissen. Haben Sie so eine Konstellation während ihres Studiums an der Schauspielschule erlebt?

YA: Ja, in ganz unterschiedlicher Ausprägung. Im Film bereitet Mazard Neïla nur auf die Prüfung vor, um so einem möglichen Rauswurf zu entkommen. Aber als ich an der Schauspielschule Cours Florent begann, hatte ich es mit einem Professor zu tun, der mir Molière, Marivaux, Musset oder Claudel eintrichterte. Das war nicht einfach für ihn, weil mich damals TAXI DRIVER oder SCARFACE interessierten. Aber der Stress hörte in dem Moment auf, als die Kraft und Poesie der Lektüre mich dann doch gefangen nahm. Ich stamme nicht aus einer bildungsbürgerlichen Familie, wo man das Lesen gewohnt war und in der Schule habe ich diesbezüglich wohl auch einige Gelegenheiten verpasst. Der Professor hat mir die Augen geöffnet und mir die Relevanz des Lesens beigebracht. Er hat mich umerzogen (wie auch andere Schüler), nicht nur durch einen Austausch mit uns, sondern auch durch Provokation, manchmal gar durch Demütigung. Wie Mazard mit Neïla.

Um auf das Set Design zurückzukommen: Ich erinnere mich, wie mein Vater die Bewerbungsunterlagen im Konservatorium abgeholt hat - wegen einer Knieverletzung war ich verhindert - und mir anschließend von der Majestät des Ortes vorschwärmte, von den Molière- und Marivaux-Büsten. In dem Moment hat er verstanden, dass ich etwas Seriöses machen wollte. Ich denke, etwas davon findet sich auch in DIE BRILLANTE MADEMOISELLE NEÏLA wieder: Die Größe des französischen Kulturerbes über Generationen hinweg. Unsere berühmten Schriftsteller haben Fragen gestellt und versucht, sie zu beantworten, auch wenn sie sich widersprachen. Wenn wir von meiner Regie reden: Man sieht auch das Pantheon, die französischen Nationalfahnen, Zeichen unseres Kulturerbes. Das war mir von Anfang an ein Anliegen und schnell Teil des Aufgabenkatalogs.


Gleichzeitig ist dieser Pierre Mazard eine sehr ambivalente Persönlichkeit: zynisch, provozierend, bösartig, von sich selbst eingenommen...

YA: Ich habe mir viele Gedanken über ihn gemacht und gefragt, woher kommt seine unbezähmbare Lust an der Provokation. Ist Mazard wirklich ein Rassist im tiefsten Herzen? Ich glaube nicht. Er ist ein einsamer Typ, der sicherlich ein paar ernsthafte persönliche Probleme mit sich herumträgt, der seinen Frust an jemandem auslassen muss. Das ist Neïla an der Uni, aber auch diese Dame, die beim Abendspaziergang die Kacke ihres Hundes einsammelt und die er rüde anmacht.

Mazard ist vor allem ein Mensch, der etwas hinterfragt. Manchmal verliert er bei seinen Überlegungen die Kontrolle, er geht zu weit, aber er will, dass sich etwas bewegt und das geschieht oft durch Provokationen. Diesen Wesenszug haben wir etwas überzeichnet in der Beziehung zwischen Mazard und Neïla. Wir wollten das Thema anpacken und die komische Ader nicht vernachlässigen. Ich musste erst also eine Distanz zwischen ihnen schaffen, damit sie sich umso besser annähern konnten an einem bestimmten Punkt des Plots. Wir erklären nicht genau, woher Mazard kommt, erfahren nicht viel über sein persönliches Umfeld, bis auf die Szene, wo Neïla flüchtig seiner Mutter in der Provinz begegnet. In der ersten Drehbuchfassung gab es mehr Details, eine Ex-Frau, ein Kind, das er nur selten sah. Vielleicht auch der Grund, warum er sich zu einer anderen jungen Frau hingezogen fühlte... Aber das interessierte mich nicht wirklich, weil diese Elemente nur dazu dienten, seinen Charakter zu rechtfertigen. Was wir zeigen, reicht völlig, um ihn einzuschätzen oder auch ihn rätselhafter zu machen, wenn Sie so wollen. Weil wir nicht zu viel wissen, stellen wir uns Fragen. Und Mazard bringt es auf den Punkt, wenn er zu Neïla sagt „Wenn wir uns zu gut ausdrücken, wissen wir irgendwann nicht mehr, wie wir Dinge einfach sagen sollen“. Es ist Neïla, der es gelingt, ihn in eine andere Richtung zu bringen, weil sie so ist, wie sie ist: fröhlich, strahlend, lebendig, intelligent...


Reden wir von den Schauspielern und diesem auf Anhieb funktionierenden Duo. Wie kam es zur Wahl von Camélia Jordana als Neïla?

YA: Als sie zu den Proben kam, kannte ich sie überhaupt nicht. Ich wusste nur, dass sie bei der Gedenkfeier für die Opfer des Attentats im Bataclan mit Nolwenn Leroy und Yael Naim im Hof vor dem Hôtel des Invalides vor der Nation gesungen hatte: Eine Moslemin, eine Katholikin und eine Jüdin zusammen. Camélia steht für diese Menschlichkeit. Ich erinnerte mich auch an dieses Foto als Marianne auf dem Cover des Nouvel Observateur, das erzählte mir, dass sie einiges gemeinsam hatte mit dem Mut dieser Figur.

Für mich verkörpert sie diese jungen Franzosen, die ein tolerantes und offenes Frankreich möchten. Das Thema von DIE BRILLANTE MADEMOISELLE NEÏLA hat sie zutiefst berührt. Und ganz ehrlich, als sie zum Casting kam, haute mich Camélia mit ihrem unglaublichen Charisma fast um. Wir entwickelten ein richtig gutes Vertrauensverhältnis, Freundschaft und Nähe während der Dreharbeiten. Wir haben die gleiche Herkunft: Algerien, teilen die gleiche Kultur: Die Gerüche in der Küche meiner Familie sind identisch mit denen, die sie von zu Hause kennt. Übrigens schickte ihre Mutter mir während der Dreharbeiten ständig Tupperware-Dosen mit orientalischem Essen, was ich liebe! Bezüglich der Arbeit würde ich sagen, sie ist eine junge und neugierige Schauspielerin, die sich tief in die Thematik eingräbt und dabei von Daniel ermuntert wurde.


Daniel Auteuil, beeindruckend als Pierre Mazard, ein sehr komplexer Charakter...

YA: Es war ein Vergnügen, mit ihm zu arbeiten. Er ist genau der Schauspieler, auf den ich gewartet habe, in dem Sinn, dass er sich nicht zu ernst nahm, auch wenn ernsthaft arbeitete. Daniel spielte abends Theater, erschien morgens aber total konzentriert und einsatzbereit am Set. Er legte Herz und Seele in die Arbeit, war gewissenhaft, hatte Lampenfieber, amüsierte sich und war witzig. Und er ist total bescheiden. Wenn er mal bei einer Szene unsicher war, war er der erste der fragte, ob man nicht noch einmal anfangen könnte. Kurz: Er ist ein sehr lebendiger Schauspieler, einer der weiß, wie man Dinge anpackt. Ich empfand ihn auch als sehr mutig, seine Figur ist nicht leicht zu spielen, weder die Attitüde noch die Dialoge. Daniel zeigte nie Angst, aber übertrieb auch nie. Oft schlug er mir verschiedene Varianten vor, die uns im Schnitt sehr nützten.

Es ist mir noch nie passiert, dass ich mich einem meiner Schauspieler so nahe fühlte. Einer Schauspielerin Ja, aber nie einem Schauspieler! Wir haben nicht die gleiche Vergangenheit, aber viele Gemeinsamkeiten. Das erste Mal nicht in einem meiner Filme mit zu spielen, gab mir die Möglichkeit, mich in meine Schauspieler zu verlieben. Die Doppelfunktion als Schauspieler und Regisseur hat einen Haken: Wenn ich auch spiele, beobachte ich die anderen und plötzlich vertrauen sie ihrem Partner/Regisseur nicht mehr. Hier konnte ich mich ihnen ganz widmen.


War es von Anfang an klar, dass Sie keinen Part übernehmen wollten?

YA: Von Anfang an. Ich habe schon lange auf die Gelegenheit gewartet, einen Film zu drehen, ohne vor der Kamera zu stehen. Ich wusste sofort, dass ich nicht den Juraprofessor spielen kann. Das hätte die Beziehung zu Neïla völlig verzerrt. Als mir die Drehbauchautoren die Rolle des Universitätspräsidenten vorgeschlagen haben (toll gespielt von Nicolas Vaude), war mir aber klar, das ist nicht meine Baustelle und nicht meine Welt: Es gab ganz einfach keine Rolle für mich in diesem Film, man kann nicht alles spielen.


Zwischen Ihrem letzten Film und DIE BRILLANTE MADEMOISELLE NEÏLA liegen nur anderthalb Jahre. Wollen Sie diesen Rhythmus beibehalten?

YA: Das würde ich liebend gerne. Leider erhält man Drehbücher von dieser Qualität nicht sehr oft. Dieses wurde mir während des Schnitts von THE JEWS vorgeschlagen, somit konnte ich in der Zeit das Drehbuch neu schreiben. Wenn man bei Null beginnt wie jetzt, braucht es viel mehr Zeit. Zwei Filme nacheinander zu drehen, nimmt dem Ganzen auch den Nimbus, man kann sich wieder leichter auf die Arbeit am Set einzustellen, die Last der ersten Einstellung verringert sich... Da gibt es Mechanismen, die man wieder in Gang setzen muss, wenn man zwei Jahre nicht gedreht hat (oder gespielt). Aber selbst wenn man glaubt, freier zu sein, die Angst des Filmemachens bleibt.

Foto:
Der Regisseur mit seiner Hauptdarstellerin © Verleih

Info:
BESETZUNG

Pierre Mazard               Daniel Auteuil
Neïla Salah                   Camélia Jordana
Mounir                          Yasin Houicha
Neïlas Mutter               Nozha Khouadra
Universitäts-Präsident Nicolas Vaude
Benjamin                     Jean-Baptiste Lafarge