Serie: Die anlaufenden Filme in deutschen Kinos vom 21. Juni 2018, Teil 4
Corinne Elsesser
Frankfurt am Main (Weltexpresso) - "Die Spur meines Grossvaters endete in Wladiwostok." Dies nahm der polnische Regisseur Stanislaw Mucha zum Anlass, sich auf eine Spurensuche in den äußersten Osten Sibiriens aufzumachen. Mit "Kolyma" legt er nun einen sehr persönlichen und engagierten Dokumentarfilm vor, der einen fast vergessenen Landstrich in den Blick nimmt und die Menschen, die dort heute leben, zu Wort kommen lässt.
Schon "Absolut Warhola", ein 2002 fertiggestellter Dokumentarfilm über die polnische Heimat Andy Warhols, war eine Art Spurensuche. Mucha überzeugte mit einem Sinn für Details und kuriose Begegnungen, die er zuweilen mit einer Prise Ironie ins rechte Licht setzte. Dies zeichnet auch seine neue Dokumentation über die Kolyma aus.
Die Fahrt beginnt in der Hafenstadt Magadan und folgt einer über 2,000 km langen Fernstrasse bis nach Jakutsk. Die Strasse war ab 1952 von Strafgefangenen gebaut worden, die seit der Stalinzeit hierher verschleppt worden waren. Im Volksmund heisst sie "Strasse der Knochen", denn sie geht mitten durch den berüchtigten Archipel Gulag, vorbei an den Massengräbern der hier zu hunderttausenden zu Tode Gekommenen.
Endlos führt die schnurgerade Trasse in Richtung Jakutsk. Selten nur kommen in den weiten Schneefeldern die Ruinen der einstigen Lager in Sicht und wirken dann so bedrohlich wie jene der Nationalsozialisten in Osteuropa.
Doch es sind nicht die historischen Fakten, die Mucha aufarbeiten will. Er beschreibt vielmehr, wie es heute in der Kolyma aussieht und wie die Menschen dort unter extremen Bedingungen leben.
Ein ehemaliger Zwangsarbeiter, einer der wenigen, die die sowjetischen Lager überlebten, berichtet, wie man sich durch Massengräber hindurch voranarbeiten musste, um die Trasse buchstäblich über die dort Begrabenen zu verlegen. Er sagt das mit einem abgeklärten Lächeln.
Ein anderer Überlebender war nur aufgrund seiner Bemerkung: "Diesen Stalin sollte man aufhängen" hierher verschleppt worden. Bis heute ist er nie wieder von der Kolyma fortgekommen. Man muss schon nichts mehr zu verlieren haben, wenn man hier bleibt, meint er.
In einer Plattenbausiedlung erzählt eine Frau aus Donezk, wie sie mit falschen Versprechungen aus dem heutigen Kriegsgebiet in der Ostukraine weggelockt wurde und mit ihren beiden Töchtern hier gestrandet ist. Ihr Ehemann schaffte es wieder zurück in die Ukraine und kämpft gegen die russischen Besatzer. Es sei vor allem das Gold, das viele heute in die Kolyma lockt. Denn das Gebiet ist reich an Bodenschätzen. Ausser Platin und Kupfer ist vor allem Gold ein Hauptexportgut, das zu 80% in die Vereinigten Staaten geht. Hierüber wie auch über die Geschichte der Lager ist wenig in Erfahrung zu bringen, damals wie heute.
In seiner Wohnung trägt ein Sammler Fundstücke aus den Lagern zusammen und hat so ein kleines privates Museum entstehen lassen. Doch sind es spärliche Relikte wie Eisenscharniere, zerbrochene Blechtöpfe, Nägel. Viel ist nicht übrig geblieben vom jahrzehntelangen Grauen der Verschleppten. Ihre Identität wurde bei der Ankunft in Magadan gelöscht, Aufzeichnungen oder Listen gab es dann keine mehr. In etwaiges Archivmaterial aus jener Zeit gewährt die russische Regierung keinen Einblick.
Das staatlich verordnete Vergessen zeigt sich in dem verständnislosen Gesichtsausdruck einer jungen Hot Dog-Verkäuferin am Strassenrand, die bei dem Wort "Gulag" zunächst nachfragt, ob nicht etwa "Gulasch" gemeint gewesen sei. Ironie und Tragik liegen eng beieinander.
Irgendwann steht das Filmteam vor einer verwitterten Holzschaukel an einem verfallenen Haus. Sie war einst von einem Internierten für das Kind des Lageraufsehers gebaut worden. Auf die Frage, ob sich die Spurensuche und vor allem die Dreharbeiten unter den sehr schwierigen Bedingungen gelohnt haben, meint Mucha: "Ja. Ich habe die Schaukel meines Grossvaters gefunden."
Foto:
© Verleih
Info:
Kolyma, Dokumentarfilm, Polen, 2017
Regie: Stanislaw Mucha
Kamera: Enno Endlicher
Schnitt: Stanislaw Mucha, Emil Rosenberger
Wir konnten den Film im Frankfurter Programmkino Mal Seh'n erleben, wo er bis Mittwoch täglich um 18 Uhr läuft.