Serie: 63. Internationale Filmfestspiele Berlin (7. - 17. Februar 2013), Teil 19
Romana Reich
Berlin (Weltexpresso) – Den Überblick zu gewinnen ist schwer, ihn zu halten nicht minder. Denn die vielen verschiedenen Programmteile der Berlinale – Sektionen genannt – sind vielfältig und jeweils auf eine bestimmte Aufgabe zugeschnitten: Der Wettbewerb gibt den Rahmen, in dem Panorama, Forum, Generation, Perspektive Deutsches Kino, Hommage, Kulinarisches Kino und noch Sonderveranstaltungen stattfinden.
Keisuke Kinoshita (1912-1998) gehört zu den wichtigsten Regisseuren des Goldenen Zeitalters des japanischen Films der 1950er Jahre. Nach einer Ausbildung zum Fotografen trat er 1933 in die Shochiku-Studios ein und debütierte nach Kamera- und Regieassistenzen 1943 als Regisseur. Bis 1988 schuf er 49 Filme, die meisten für Shochiku, ein Studio, das für seine „shomingeki“ bekannt war, Alltagsgeschichten, in denen die Sorgen und Freuden von einfachen Menschen im Mittelpunkt stehen. Doch der vielseitige Kinoshita ließ sich weder auf ein Genre noch auf einen Stil festlegen, drehte Melodramen, Komödien und historische Filme. Von besonderem Interesse sind diejenigen seiner Filme, die sich mit dem Krieg beschäftigen. Nicht das patriotische Heldentum an der Front interessierte ihn, sondern das stumme Leiden der Zivilbevölkerung.
In Zusammenarbeit mit dem japanischen Festival Tokyo FILMeX zeigt das Forum fünf Filme des Regisseurs, die im vergangenen Jahr restauriert wurden, in neuen 35mm-Kopien. Weitere sechs Filme werden im Februar im Rahmen einer Retrospektive des japanischen Regisseurs im Kino Arsenal zu sehen sein.
Der US-Regisseurin Shirley Clarke (1919-1997) widmete das Forum bereits im vergangenen Jahr seine Aufmerksamkeit. Es ist der unermüdlichen Recherche und Restaurationsarbeit des amerikanischen Verleihers Milestone Films zu verdanken, dass nun auch Clarkes Klassiker Portrait of Jason seine Wiederaufführung findet. Darin erzählt der afroamerikanische „Hustler“ Jason Holiday im Zimmer der Regisseurin im New Yorker Chelsea Hotel von den verschiedenen Rollen in seinem Leben: männliche Prostituierte, Hausmädchen, Heiratsschwindler, Angestellter eines Hundefriedhofs und Nightclub-Entertainer. Der provokante Film stellt dabei unsere Vorstellungen von Identität und Wahrheit in Frage.
Auf Initiative des Arsenal-Projekts „Living Archive“ ist nach 27 Jahren der wegweisende indische Dokumentarfilm Kya hua is shahar ko? (What Happened to This City?) von Deepa Dhanraj digitalisiert und restauriert worden. Ausschreitungen zwischen Hindus und Muslimen im Jahre 1984 sind der Ausgangspunkt dieses Films mit immenser politischer Kraft, der die Mechanismen politischer Machtkämpfe sowie die Instrumentalisierung ökonomischer Verhältnisse und städtischer Armut analysiert.
Eine filmhistorische Offenbarung ist die Wiederentdeckung des einzigen abendfüllenden Films von Dominique Benicheti. Le cousin Jules, 1973/74 auf wenigen Festivals aufgeführt und dann in Vergessenheit geraten, erscheint heute als Meilenstein des Dokumentarfilms. Sechs Jahre brauchte die Entstehung eines äußerlich minimalistischen, tatsächlich aber mit immensem Aufwand gestalteten, in Cinemascope, Farbe und Stereoton realisierten Films über den ritualisierten Alltag eines 80-jährigen Burgunder Bauern und Eisenschmieds, den der Film zum bewegenden Abgesang auf eine Epoche verdichtet.
Cheongchun-eui sipjaro (Crossroads of Youth), ein Melodram über die Abenteuer eines Landburschen in der Großstadt Seoul, ist der älteste erhaltene koreanische Spielfilm und der einzige aus dem Werk des Regisseurs Ahn Jong-hwa. Das Ende der japanischen Besatzung, die Teilung des Landes und der verheerende Krieg zwischen Nord und Süd haben das filmgeschichtliche Andenken ebenso zerstört wie der sorglose Umgang in der Nachkriegszeit. Geblieben ist jedoch die Erinnerung an die Kunst der Inszenierung, an die „pyeonsa“ genannten Filmerzähler, die Musik und die Kostüme, die in den 1930er Jahren zu einer Stummfilmaufführung gehörten. Davon angeregt hat der Regisseur Kim Tae-yong (Late Autumn, Forum 2011) zur Wiederentdeckung dieses filmischen Kleinods eine modernisierte Bühnenshow mit Orchester, Erzähler und Sängern inszeniert, die mit der großzügigen Unterstützung des Korean Film Council und des Filmfestivals Busan nun auch in Berlin zur Aufführung kommt.
Filmliste
Le cousin Jules von Dominique Benicheti, Frankreich 1973
Cheongchun-eui sipjaro (Crossroads of Youth) von Ahn Jong-hwa, Korea 1934
Kya hua is shahar ko? (What Happened to This City?) von Deepa Dhanraj, Indien 1986
Portrait of Jason von Shirley Clarke, USA 1967
Keisuke Kinoshita
Kanko no machi (Jubilation Street), Japan 1944
Onna (Woman), Japan 1948
Konyaku yubiwa (Engagement Ring), Japan 1950
Yuyake gumo (Farewell to Dream), Japan 1956
Shito no densetsu (A Legend or Was It?), Japan 1963