Wer gewinnt die Bären? Die Wettbewerbsfilme auf der 63. Berlinale vom 7. bis 17. Februar 2013, Teil 10/26

 

Claudia Schulmerich

 

Berlin (Weltexpresso) – „Vom Regen in die Traufe“ kommt die junge Suzanne, die dritte Tochter von Adligen, die gerade zwei Töchter verheiratet hatten und deshalb pleite sind, weshalb die Jüngste ins Kloster soll, dort zum Gelübde 'nein' sagt, dann doch klein beigibt und von der neuen Oberin so gequält wird, daß sie ob ihrer Verletzungen in ein anderes Kloster darf. Dort allerdings gerät sie in die Hände einer lüsternen Oberin.

 

Die Rede ist von Suzanne Simonin, Heldin eines Romans von Denis Diderot, erst nach seinem Tode 1796 in Frankreich veröffentlicht. Dort wird in Briefen ihr Schicksal erzählt, was der Film so umsetzt, daß ein junger Mann im Haus eines Potentaten ein handschriftliches Manuskript liegen sieht, es zu lesen anfängt, was uns im Bild in die Geschichte einführt. Konventionell wird die Lektüre zwischendrinnen in der Bildfolge unterbrochen und setzt dann als Verfilmung - Regisseur und Drehbuchautor Guillaume Nicloux - der Geschichte der Suzanne (Pauline Etienne) wieder ein. Und die Bilder und das Filmgeschehen sind dann ganz und gar nicht konventionell.

 

Denn Suzannes Leben wird bei äußerer Genauigkeit des Ambiente und der Kostüme – unglaublich, wie vieler Schichten und Wicklungen allein die Nonnenrobe bedarf - und der Verhaltensweisen der Zeit in lange haftenden Bildern aus der Perspektive des jungen Mädchens erzählt, das für sich beansprucht, nein zu sagen, wenn andere Entscheidungen über sie fällen. Hier geht es um das universelle Gefühl von Freiheit. das für alle Zeiten gilt. Gradlinig und mit leidenschaftlichem Pathos werden Verhaltensweisen angeprangert, die einen Menschen zum Büttel eines anderen machen, was die sadistische Oberin des ersten Klosters (Louise Bourguin) in aller Offenheit ausagiert. Aber auch die nächste Prüfung, die erotischen Angriffe und Übergriffe der neuen Oberin (Isabelle Huppert) auf die junge Nonne werden hinreißend inszeniert. Geradezu somnambul bewegt sich die Oberin wie in einem selbst gestrickten erotischen Gefängnis und geht daran zugrunde.

 

Das alles muß Suzanne auf einen Schlag nicht mehr interessieren. Denn sie hat einen Gönner, der sie aus dem Kloster entführen läßt und sie nicht nur in Freiheit leben lassen kann, sondern ihr dazu noch die nötigen finanziellen Mitteln bietet. Wer das ist, soll nicht verraten werden, nur, daß überhaupt alle Männer in diesem Film sympathische Figuren sind bis auf den, den sie ihren Vater nennt. Denn es sind Männer wie der Geistliche, der ihr hilft,oder der Rechtsbeistand ihrer Mutter, auf den sie sich verlassen kann. Diese Mutter spielt die eigentliche tragische Rolle im Film und (miß)braucht ihre Tochter zum Sühnen dessen, was für sie ihre größte Sünde war. Sehr zurückgenommen und ganz in den Zwängen des 18.Jahrhunderts spielt dies Martina Gedeck, während das Spiel der jungen Belgierin die Zeitlosigkeit des Gefühls vom Freiheitswillen ausdrückt.

 

Das Erstaunliche an diesem Film ist, daß die skandalösen Zustände in den Klöstern sowie das gesamte System, wie man Nonne wird, nicht als eine Kritik an der Kirche formuliert ist, sondern der Film sich allein an den Gefühlen und Taten der jungen Heldin orientieren.

 

 

Aus der Pressekonferenz:

 

Louise Bourgoin muß eine grausame Oberin spielen, was ihr nicht schwer fiel, weil es ihr Spaß machte, so böse und pervers zu sein. Isabelle Huppert wird gefragt, warum sie diese Rolle übernommen hat. Sie wollte mit dem Regisseur arbeiten und kannte den Diderotschen Roman vorher nicht, den sie großartig findet. Man muß bei dieser Rolle höllisch aufpassen, daß man nicht eine Karikatur abliefert. Sie ist eine Oberin, aber sie hat nichts Höheres an sich. Ihre Empfindungen sind ja sehr menschlich, darum war es sehr einfach und überhaupt nicht skandalös, diese Rolle zu spielen. Sie selbst findet im übrigen im Roman, der universell ist, viel Komisches.

 

Regisseur und Drehbuchautor Guillaume Nicloux begründet seine Auswahl des Diderotschen Werks,einer Ode an die Freiheit, und so hat er den Film inszeniert. Auch in Frankreich gibt es religiöse Würdenträger, die Abtreibungen ablehnen und die männlichen Privilegien bewahren, denn so sei es immer schon gewesen. Die Frage des Films ist also sehr zeitgemäß, das wußte der Regisseur, seit seine 15jährige Tochter meinte, es habe sich nicht viel geändert, seit damals. Unabhängig, ob Christentum oder andere Religionen, die Frage der Freiheit für Frauen ist aktuell.

 

 

Martina Gedeck wird nach ihrer Rolle, der Mutter, befragt. Diese Figur ist interessant, weil sie eine Liebe nicht leben konnte und durch das Wegschicken der Tochter eigentlich sich selbst tötet, weshalb es folgerichtig ist, daß sie im Film stirbt. Sie begründet, wie die innere Verfassung durch reduzierte Körpersprache ausgedrückt wird.

 

Pauline Etienne wird gefragt, wie sie sich dieses andere Leben einverleibt hat; sie wurde vom Regisseur am Drehort Tag für Tag in diese Rolle eingewiesen, indem er mit ihr sprach.