Wer gewinnt die Bären? Die Wettbewerbsfilme auf der 63. Berlinale vom 7. bis 17. Februar 2013, Teil 18/26

 

Claudia Schulmerich

 

Berlin (Weltexpresso) – Wir erleben Nazif, wie er mit seinen Brüdern im Schnee alte Autos zerschlägt und aus den Metallteilen Geld herausschlägt, von dem er mit seiner Familie lebt. Da bekommt die schwangere Mutter Senada Leibschmerzen. Im Krankenhaus wird diagnostiziert, daß der Fötus abgestorben ist und sie sofort operiert werden muß, was die Klinik verweigert, weil sie keine Krankenversicherung hat.

 

Am Schluß des Films zerschlägt Nazif wieder Autos, darunter sein eigenes, das nicht mehr anspringt und kauft vom Erlös Medikamente für seine Frau. Dazwischen allerdings findet eine Tragödie statt, die gut ausgeht. Diese Geschichte ist nicht erfunden, sondern ist den Darstellern so passiert und wurde vom Regisseur in einer Grauzone zwischen Dokumentation und Fiktion inszeniert. Nachträglich nämlich haben Senada Alimanovic und Nazif Mujic ihre eigene Geschichte nachgestellt und der Regisseur Danis Tanovic hat die Szenen zu Hause und in den Institutionen ebenfalls von Laien spielen lassen.

 

Mutter Senada, die wir inmitten ihrer häuslichen Arbeiten und den zwei Töchtern erleben, hat also Schmerzen im Bauch. Sie wird im Krankenhaus nach der Diagnose, die eine sofortige Operation erzwingt, aufgrund der fehlenden Karte zweimal weggeschickt und will gar nicht mehr die Couch verlassen, obwohl sie weiß, daß sie an Blutvergiftung sterben wird, denn die Alternative, 980 Mark zu zahlen, ist keine, weil dieses Geld nicht vorhanden ist.

 

Erst die Idee, im benachbarten Bezirk auf die gültige Versicherungskarte ihrer Schwägerin operiert zu werden, läßt sie aufstehen und sie wird in letzter Minute gerettet. Man sieht im Film einen verantwortlichen Mann, Ehemann und Vater. Er ist es, der nicht aufgibt und rastlos alle Möglichkeiten durchspielt und im Verein mit seinen Brüdern das Leben meistert. Der Film ist demnach zwischen Wirklichkeit und Fiktion, zwischen Dokumentation und Spielfilm angesiedelt, was Probleme ergibt. Man fühlt sehr stark, daß dies ein sozialkritischer Film ist, in dem es eigentlich um eine Frau geht, der aber von Männern gemacht worden ist und ihre Perspektive widerspiegelt. Es fehlen nämlich einige in solchen Situationen vorhandenen Emotionen im Film völlig.

 

Eine Mutter, die erfährt, daß ihr Kind in ihr abgestorben ist, trauert und läßt diesen Verlust und nicht nur ihre körperlichen Schmerzen merken. Man hat im Film aber den Eindruck, daß Senada relativ emotionslos ihre Rolle, die sie ja selbst ist, spielt. Das ist sicher der nachgebildeten Wirklichkeit geschuldet. Aber wäre diese Mutter wirklich am Drehbuch beteiligt gewesen, wären diese Szenen dabei. Auch eine andere Situation wird unglaubwürdig nachgestellt. Als nämlich Nazif seine Familie zur Schwiegermutter fährt, um dort die Versicherungskarte der Schwägerin abzuholen, kommt diese zwar nach draußen zum Auto und befragt ihre Tochter nach ihrem Zustand, kümmert sich aber nicht um und begrüßt nicht die beiden Enkelkinder hinten im Auto. Das ist so fernab jeder Großmutterrealität, gerade bei den Roma, daß man etwas verschnupft den Eindruck gewinnt, daß die Männerdominanz beim Herstellen dieses Films einfach überwältigend ist. Dadurch werden die Gefühle dieser Mutter vernachlässigt, um die es ja gerade geht.

 

Es wird an diesem Fall ein gesellschaftliches Problem gesellschaftskritisch dargestellt. Das ist legitim. Aber die politische Absicht schlägt eben viele notwendigen Aspekte, die menschlich eine Rolle spielen, in dieser Semidokumentation tot. Hätte man aus der Problematik einen Spielfilm hergestellt, wären diese notwendigen Aspekte im Drehbuch sicher berücksichtigt worden. Die Darstellung mit Laien, die also fremde Rollen spielen, führen häufig zu sehr gestellt empfundenen Dialogen. Es wäre einem wohler gewesen, man hätte diesen Film durchgehend als Dokumentation gedreht, der er eigentlich ist. Und es wäre einem wohler, wenn die eigentliche Hauptperson, Senada, auch zu Wort käme, bzw. das Wort ergriffe. Daß es eigentlich um die Mutter nicht geht, verrät auch der Titel, der einen Tag im Leben des Mannes meint.

 

 

Aus der Pressekonferenz:

 

Der Regisseur Danis Tanovíc hat mit nur 17 000 Euro diesen Film inszeniert, der entstand, nachdem er von dem Fall in der Zeitung las und er die Familie kennenlernte.

 

Wie kann man das einordnen: Dokumentarfilm oder Fiktion? Das sollen die Kritiker entscheiden. Unser Kameramann war geladen, als er hörte, das seine Aufnahmen in Berlin gezeigt werden und Wong Kar Wai sie sehen wird. Er hätte eine andere Kamera nehmen wollen.

 

Im Kanton in Tuzla. Arbeitet Nazif für „Kinder der Erde“, die Kindern vor allem in ihrer Bildungssituation helfen wollen. Im Film spricht er davon, daß er an der Front für Bosnien Herzegowina gekämpft habe: „Es ging mir besser im Krieg, weil ich wußte, wofür ich kämpfte, aber seit 1995 bis 2013 ging alles schlecht. Ich weiß nicht, wofür das alles. Ich lebe zwar, aber ich sage es Ihnen offen, ich habe keine Arbeit, keinen Plan, lebe von einem Tag zum anderen. 850 Mark bekomme ich alle drei Monate für den Transport der Kinder.

 

Auf die Frage nach den gestellten Situationen, die Emotion vermissenlassen, sagte der Regisseur: „Der Fakt ist, als wir damals ihre Mutter besucht haben, da kann man die Situation nicht korrekt nachspielen, alle waren verwirrt, die Sache war eine Katastrophe. Die Kameras waren vor den Kameras verwirrt. Und das ist meine Schuld als Regisseur. Das ist dann eben so.“ Er habe auch nur eine Episode im Leben dieses Mannes zeigen wollen, einem harten Lebenskampf. Das sei so, für Gefühle habe man keine Zeit . Den Schmerz läßt man deshalb nicht zu . Diese beiden Menschen müssen das schlucken, sie haben keine Zeit innezuhalten Es gibt immer andere Probleme. Es gäbe doch im Film genug Emotion.

 

Vom gewissen Erfolg des Films in seiner Wirklichkeit erzählt Nazif. Vor sechs Monaten ging er ohne Versicherungsbuch in Krankenhaus bei Tuzla und mußte an der Galle operiert werden und wurde diesmal aufgrund seiner Bekanntheit durch den Film auch ohne Nachweis akzeptiert. Frage nach der Bildungssituation der beiden Töchter im Film. In der Siedlung sind 22 Schüler und seine Töchter gehen auch zur Schule und lernen dort Bosnisch, weil zu Hause nur die Roma-Sprache gesprochen werden.