fss angeloImpressionen vom 66. San Sebastían Filmfestival, Teil 2/2

Kirsten Liese

San Sebastían (Weltexpresso) - Unter den um die Goldene Muschel konkurrierenden 18 Beiträgen empfahl sich etwa mit Angelo (rechts im Bild) auch ein prächtig ausgestatteter Historienfilm für die große Leinwand. Der Wiener Schauspieler und Regisseur Markus Schleintzer erzählt die wahre Geschichte des Nigerianers Angelo Soliman, der im 18. Jahrhundert als Knabe aus Afrika nach Österreich verschleppt wurde und es als Gesellschafter Josefs II. zu einiger Bekanntheit brachte.

Eine Marquise tauft den Bub, zieht ihn auf, lässt ihn zu ihrer Unterhaltung im Blockflötenspiel unterweisen und macht ihn zu ihrem exotischen “Hofmohren”. Teils mit großen Zeitsprüngen wirft Schleintzer Schlaglichter auf ein Leben, das durch das Paradox einer zugleich privilegierten und subalternen Stellung zerreißt. Über die Zwangseuropäisierung des Helden berührt Angelo zudem Themen wie Heimat, Identität, Zugehörigkeit, Fremdheit und Anderssein, die uns im Hinblick auf die heutige freiwillige Zuwanderung von Tausenden von Menschen nach Europa stark beschäftigen.

Der Rassismus, für den damals niemand ein Bewusstsein hatte, vermittelt sich dabei  in vielen Details, die Schleintzer als genauer Beobachter in sein stilles sensibles Drama unaufdringlich einbringt, wenn sich zum Beispiel die Marquise einbildet, den „Urwaldaffen“ zu einem „zivilisierten Menschen“ geformt zu haben. Wiewohl als Favorit hoch gehandelt, ging Angelo bei der Preisverleihung jedoch völlig leer aus.

Das deutschsprachige Kino war weiterhin mit der schweizerisch-deutschen Koproduktion Der Unschuldige von Simon Jacquernet stark vertreten, das von der Jury leider ebenso wenig beachtet wurde. Es ist das Porträt einer Frau Anfang 50, deren Alltag durch zwei tragische Ereignisse stark aus dem Gleichgewicht gerät: Ihre Jugendliebe, die vor vielen Jahren bei einem Indizienprozess verurteilt wurde, kommt auf tragische Weise kurz nach der Entlassung aus dem Gefängnis ums Leben. Gleichzeitig erleidet in einem Labor für Tierversuche, in dem die Heldin arbeitet, ein Affe fürchterliche Qualen nach einer Kopftransplantation. Und als wäre das alles nicht genug, wird  Ruth von fanatischen, strengen Mitgliedern einer evangelikalen Religionsgemeinschaft drangsaliert und in den Wahnsinn getrieben, der sie mit ihrem Mann und ihren beiden Töchtern angehört. Moralische und ethische Fragen zu grausam-absurden Tierversuchen, religiösen Wahnvorstellungen und Exorzismus geben dem beklemmenden, aufwühlenden, auch in der formalen Umsetzungen gelungenen Film politisch Gewicht. Ruths Umgebung ist stets bestimmt von kalten, sterilen Räumen, sogar das heimische Wohnzimmer strahlt eine ungemütliche Strenge aus. Mit Judith Hofman, der all ihre Sorgen und Alpträume ins Gesicht geschrieben stehen, trägt bei alledem eine exzellente Hauptdarstellerin diesen Film.

fss rojoZu den Gewinnern unter den herausragenden Beiträgen des Wettbewerbs zählte allen voran Rojo (links im Bild)  von Benjamín Naishtat, er wurde in drei Kategorien ausgezeichnet für die beste Regie, den besten Hauptdarsteller und die beste Kamera.

Matte Braun- und Grautöne beherrschen diese 1975, kurz vor dem Militärputsch in der argentinischen Provinz verortete, düstere Geschichte, die nicht auf die Diktatur eingeht, aber umso bedrohlicher auf die Verrohung der korrupten Mittelschicht. Das titelgebende Rot legt sich erst spät mit einer Sonnenfinsternis über die Bilder.

Von einer mysteriösen, an den Video- und Installationskünstler Bill Viola erinnernden Eröffnungssequenz an, in der nacheinander Menschen mit geplünderten Gegenständen ein leerstehendes Haus verlassen, über einen Zusammenstoß eines cholerischen Mannes mit einem Anwalt und seiner Frau bis hin zur Ankunft eines geheimnisvollen, undurchschaubaren Detektivs nimmt der Film zusehends kafkaeske Züge an. Hinter der gutbürgerlichen Fassade hat fast jeder Dreck am Stecken, und wer die Ruhe stört, verschwindet spurlos. Virtuos schafft Kameramann  Pedro Sotero dazu den Look der damaligen Zeit und eine von Enge und Paranoia bestimmte Atmosphäre.

Anders als in Cannes oder Venedig, wo nach wie vor überwiegend Männer ihre Regiearbeiten präsentieren, zeigten in San Sebastían die Frauen auffallend stark Präsenz.  Neben so renommierten Filmemacherinnen wie Claire Denis und Naomi Kawase empfahl sich die norwegische Newcomerin Tuva Novotny als eine große Entdeckung, die ihre Karriere als Schauspielerin begann. Mit Blind Spot zeigte San Sebastían in Weltpremiere ihre erste Regiearbeit, die stilistisch an die rumänische Nouvelle vague erinnert. Fast in Realzeit und in einer einzigen Einstellung folgt sie darin einer Mutter nach einer Tragödie in die Notaufnahme eines Krankenhauses. Auch wenn die gewählte Perspektive und die damit verbundene große Aufmerksamkeit für die Protagonistin irritiert, weil diese  Frau sich noch nicht einmal angesichts des versuchten Selbstmords ihrer Tochter ihrer Mitschuld an der Verzweiflungstat des Mädchens bewusst wird, so gelingt hier doch eine Tour de Force, wie sie ihresgleichen im Kino sucht. Dies vor allem auch dank der großartigen Pia Tjelta (Preis für die beste Hauptdarstellerin), die sich in dieser Rolle bis aufs Äußerste verausgabt.

Für Glanz und Glamour unter der weiblichen Prominenz sorgte die mit einem Ehrenpreis ausgezeichnete Grande Dame des britischen Kinos, Judi Dench, die gegenüber der Presse vor allem über ihre Arbeit am Theater und den Dramatiker William Shakespeare ins Schwärmen geriet und zusammen mit Regisseur Trevor Nunn das Drama Red Joan vorstellte, in dem sie die dienstälteste britische Spionin des KGB verkörpert.

Den Hauptpreis, die Goldene Muschel, gewann etwas überraschend der spanische Beitrag Entre dos aguas, ein ungewöhnliches halbdokumentarisches Sozialdrama um zwei Roma-Brüder, die sich nach längerer Zeit wiedersehen und sich an ihren Vater erinnern, der eines gewaltsamen Todes starb.

Foto:
Titel: Angelo ©  
Text Rojo ©

Info:
Zuerst veröffentlicht am 2.10. im Ray Filmmagazin
www.sansebastianfestival.com