Bildschirmfoto 2019 01 03 um 13.26.20Serie: Die anlaufenden Filme in deutschen Kinos vom 3. Januar 2019, Teil 4

N.N.

London (Weltexpresso) – Colette und Willys Geschichte zum Leben zu erwecken und dabei das Paris der Belle Époque wiederzubeleben, sollte sich für Westmoreland als enorme Herausforderung erweisen. Nicht nur weil es sein bis dahin größtes Filmprojekt war, sondern auch sein erstes ohne Richard Glatzer an seiner Seite. „Es war sehr schwer, und ein sehr emotionaler Prozess“, erklärt er. „Es war besonders ergreifend für mich zu sehen, wie eine Szene umgesetzt wurde, die Richard im Jahr 2001 geschrieben hatte, mitsamt seiner Dialoge und Worte. Ich hatte jedoch nicht übermäßig das Gefühl, auf mich allein gestellt zu sein. Es war, als hätte ich noch immer einen kleinen Richard in meinem Kopf, der noch immer Ideen beisteuerte – und sich gelegentlich auch mit mir stritt!

Es war also mehr eine Erweiterung unserer Zusammenarbeit anstatt eine komplette Veränderung. Die Anforderungen waren jedoch deutlich höher als bei allem, was wir zuvor gemacht hatten“, erzählt Westmoreland weiter. „Es geht nicht nur um Willy und Colettes Beziehung in ihren eigenen vier Wänden, sondern darum, welchen Einfluss sie auf die damalige Welt hatten. Daher musste man zeigen, wie sie Salons besuchten, auf den Straßen entlangschlenderten, ins Theater gingen, und wie Colette im Varietétheater auftrat. All diese Dinge erhöhten das Budget von COLETTE, und es war eine große Herausforderung, das Budget nicht zu sprengen. Wir versuchten, einen Film zu produzieren, der aussah, als hätte er das Dreifache dessen gekostet, was uns zur Verfügung stand. Alleine die Aufnahme einer Pferdekutsche, die eine Straße im Paris des 19. Jahrhunderts entlangfährt, entsprach dem kompletten Budget unseres 2005 gedrehten Films QUINCEAÑERA! Wir mussten uns daher immer wieder erfinderisch sein und tagtäglich Wunder schaffen.“

Um diese Wunder zu verwirklichen stellte Westmoreland ein erstklassiges Team zusammen, darunter Kostümdesignerin Andrea Fleisch (THE DUKE OF BURGUNDY, THE CHILDHOOD OF A LEADER), Kameramann Giles Nuttgens (HELL OR HIGH WATER) und Produktionsdesigner Michael Carlin (DIE HERZOGIN, BRÜGGE SEHEN ... UND STERBEN?!). Laut Carlin war es unbezahlbar, mit einem Regisseur zu arbeiten, der eine derart innige Verbindung zu diesem Thema hatte. „Er weiß unglaublich viel über Colette und ihr Leben. Als Designer vermittle ich oft sehr viel Hintergrundwissen über das Thema und den aktuellen Stand, aber Wash verfügte von Anfang an über ein enormes Wissen, was alles erheblich erleichterte.“

Gemeinsam mit seinem Team gelang es Westmoreland, das ländliche Frankreich im englischen Northamptonshire und Oxfordshire nachzubilden sowie in Paris selbst zu drehen – wenn auch nur ein paar Tage und einige Außenaufnahmen, aus denen vielerlei moderne Details digital entfernt werden mussten. „Auch mit dem doppelten Budget hätten wir nicht alles in Paris drehen können“, erläutert Carlin. „Alle hatten erwartet, viel mehr vom ‚alten Paris‘ ausfindig machen zu können, aber das existiert schlicht nicht mehr. In gewisser Hinsicht ist es beinahe noch vorhanden. Wirft man einen Blick über den Fluss, so sieht man die Silhouette der Stadt. Aus nächster Nähe sieht das alles aber ganz anders aus.“ Für ihre Vision dieser Stadt in den 1890ern bis in die 1910er Jahre erwies sich schließlich Budapest als gute Wahl. Dort wurden Szenen sowohl vor Ort als auch in den Origo Studios gedreht, in denen Willy und Colettes Wohnung errichtet wurde.

„Im späten 19. Jahrhundert hat Budapest Paris bewusst nachgeahmt“, erklärt Westmoreland. „In den 1890ern wurde die Stadt nach dem Pariser Modell umstrukturiert – inklusive eigenem Champs Elysée, der Andrássy. Aufgrund Ungarns wirtschaftlicher Probleme wurden viele unserer Kulissen nie modernisiert oder renoviert, was für uns von entscheidendem Vorteil war. Daher hatten wir Zugriff auf zahlreiche aristokratische Immobilien, die wir für Innendrehs nutzen konnten. Selbst ein eigenes Moulin Rouge findet man in Budapest. Es ist eine Kopie des Pariser Moulin Rouge, nur halb so groß. Im Gegensatz zum Original war es jedoch nie renoviert worden, was für uns perfekt war.“

„Willy und Colette führten ein schillerndes Leben“, fügt Carlin hinzu. „Es gibt daher etliche Theater, Salons, Restaurants und Cafés zu sehen. Wir haben viele verschiedene Kulissen in Budapest nachgestellt. Zudem ist es dort sehr viel einfacher, städtische Kulissen nachzubilden. Wenn man einen halben Straßenzug mit falschen Pflastersteinen und Pferdemist bedecken möchte, dann bekommt man dort auch die Erlaubnis dazu.“

Keira Knightley liebte den Dreh in Ungarn. „Es ist ein wunderschönes Land, und wir hatten großes Glück, dort drehen zu können.“ Einzig die unerträgliche Hitze machte ihr zu schaffen, die im Sommer 2017 in der Hauptstadt für Temperaturen bis zu 40 Grad sorgten. „Wir drehten viele Nachtszenen tagsüber. Wenn man also die Fenster schwärzt, viele Kerzen anzündet und dadurch die Nacht simuliert, dann wird es noch viel heißer am Set. Die Männer waren noch schlimmer dran, da sie Tweedanzüge trugen. Und weil Dominic einen Fettanzug trug, musste darin eine eigene Kühlung eingebaut werden, an die er einen Beutel anschließen konnte, aus dem Flüssigkeit gepumpt wurde, um ihn abzukühlen.“

Darüber hinaus ergaben sich bei der Rekonstruktion der Belle Époque ganz eigene kreative Schwierigkeiten: Diese Epoche ist derart bekannt, dass man Gefahr läuft, Klischees zu bedienen wie den Cancan und das Folies Bergère. „Die Belle Époque hat ein etwas ‚blumiges‘ Image, das sehr schnell klischeehaft wirken kann“, so Westmoreland. „Wir wollten die modernen Aspekte der Geschichte herausarbeiten und den Einfluss neuer Technologien hervorheben. Es war unser Ziel, einen Film zu produzieren, der in der Vergangenheit angesiedelt ist, es dem Zuschauer aber ermöglicht, ihn aus einer modernen Perspektive zu betrachten. Man spürt daher die Begeisterung für die Erfindungen, die neuen Ideen und dem Gefühl, dass Paris das Zentrum der Welt war, in dem all diese unglaublichen Künstlerpersönlichkeiten gediehen.“

Westmoreland sagt, dass speziell die Filme des deutschen Regisseurs Max Ophüls, zum Beispiel PLÄSIER (1952) und MADAME DE... (1953) ein großer Einfluss für ihn gewesen sind. Nicht einfach nur aus dem Grund, weil Ophüls der „Großmeister der Belle Époque“ gewesen ist, wie er es formuliert. Westmoreland wurde mehr inspiriert durch Ophüls Präsentation seiner Figuren und wie seine Kamera diese einfing. „Seine Heldinnen glitten schlicht durch ihre Szenen. Statt eine Totale des Ballsaals zu zeigen, folgte er seinen Figuren, während sie sich ihren Weg durch die Menge bahnten. Ich dachte mir: ‚So möchte ich diese Welt einfangen – aus dem Blickwinkel unserer Hauptfigur. Die Aufnahme, in der Colette erstmals den Salon in Paris durchquert und sich alles genau ansieht, musste sehr ausführlich vorbereitet werden und ist zudem deutlich von Ophüls inspiriert.“

Westmorelands dynamische Bildsprache stellte Carlin vor vielerlei verschiedene, sehr spezifische Herausforderungen hinsichtlich des Setdesigns, vor allem in Willy und Colettes Wohnung. „Es ist eine Reihe von miteinander verbundenen Zimmern sowie verschiedene Fenster zwischen der Kamera und den Charakteren“, erläutert Carlin. „Dadurch sollten ganz bestimmte Kamerafahrten, in denen man ihr und Willy folgt, erleichtert werden, und bestimmte Schlüsselmomente im Film hervorgehoben werden.“

Ebenso wichtig für die Geschichte wie die Wohnung und die opulenten Salons waren die Varietétheater, in denen Colette im späteren Verlauf des Films auftritt. „Im Film sind vier Theater zu sehen“, sagt Carlin, „weshalb wir viele Theatersets und Backstage-Bereiche entwerfen mussten, die wir alle in bereits existierenden Theatern errichteten.“ Ein einzelnes Theater in Budapest war die Kulisse für mehrere Spielstätten im Film. „Steht man im Theatersaal, so befindet man sich in Paris. Geht man in den Backstage-Bereich, so befindet man sich in Marseilles. Durchquert man schließlich das Foyer, befindet man sich in Brüssel. Es war ein regelrechter Zauberwürfel.“

Eine der am schwierigsten umzusetzenden Sequenzen war die berüchtigte „Dream of Egypt“-Performance im Moulin Rouge im Jahre 1907, bei der nach einem Kuss zwischen Colette und Missy während der Aufführung die Lage eskalierte.

„Diese Szene war am schwierigsten zu drehen“, so Westmoreland. „Wir hatten nur einen Drehtag Zeit und mussten sehr viel Material drehen. Man musste die unterschiedlichen Spannungen im Raum während dieser äußerst dynamischen Darbietung einfangen, und dann eskaliert alles in einem Aufstand. Wir hatten ein kleines Frauenorchester, der ägyptische Gott Anubis betätigte den Gong auf einem der Balkone, Keira und Denise führten den Tanz auf, zirka 150 Statisten in zeitgemäßer Garderobe waren am Set, darunter 35 Stuntleute für die Kampfsequenz. Das war ein großer Tag.“

Auch für Knightley stellte das eine große Herausforderung dar. Sie hatte den Tanz ausführlich mit der Choreografin Alexandra Reynolds einstudiert (zur Musik des Komponisten Thomas Adès). „Keira übte ununterbrochen“, erzählt Westmoreland. „Ich glaube nicht, dass sie davor eine derart performative Tanzszene gedreht hatte. Sie hat es aber perfekt umgesetzt.“

„Das war ein wirklich verrückter Tanz“, erzählt Knightley lachend. „Ich entsteige einem Sarkophag, wie man das eben so tut. Es war wirklich ziemlich verrückt.“ Sie erklärt, dass sie und Westmoreland sich von der Szene aus Fritz Langs Science-Fiction-Meisterwerk METROPOLIS inspirieren ließen, in der die Roboterfrau Maria (Brigitte Helm) ihren ersten Auftritt hat. „Das ist wirklich abgefahren“, so Knightley. „Sie ist halbnackt, und ihre Bewegungen sind völlig verrückt. Deshalb sagten wir: ‚Wir sollten uns ein wenig daran orientieren, da es interessant wäre, etwas derart Verrücktes in einem Historienfilm zu zeigen, einem Genre, das bestimmten Konventionen folgt und ganz konkrete Vorstellungen von bestimmten Tanzstilen hat.‘ Diese Konventionen zu unterwandern fand ich äußerst interessant.“

Während der Postproduktion kam mit der Filmmusik ein weiterer wichtiger Bestandteil von Colettes Welt hinzu. Thomas Adès ist einer der renommiertesten Komponisten des Vereinigten Königreichs und weltberühmt für seine bahnbrechenden Opern und zeitgenössischen Orchesterstücke. Bis dahin hatte er jedoch noch keine Filmmusik geschrieben. Als langjähriger Freund von Westmoreland war er während der Vorbereitungen dessen Ansprechpartner hinsichtlich der in den Salons des damaligen Paris gespielten Musik geworden. „Ich fragte Tom per E-Mail: ‚Welche Musik wurde damals im Salon gespielt? Welches Musikstück wäre für diese Sequenz passend?‘ Jedes Mal erhielt ich einen fantastischen Ratschlag von ihm.“ Im weiteren Verlauf der Unterhaltung begannen die beiden selbstverständlich auch darüber zu reden, ob Tom die Filmmusik für COLETTE schreiben würde. „Ich wollte keinen für einen Historienfilm typischen Allerwelts-Score haben“, erklärt Westmoreland. „Toms Idee war es, dass die Musik so klingt, als würde sie von den Komponisten der damaligen Zeit stammen – von Ravel über Saint Saens und Debussey bis hin zu Satie. Und es funktioniert hervorragend. Dadurch werden auch die radikalen Innovationen aufgezeigt, die es in der Musik zur damaligen Zeit gab.“ 

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© Verleih

Info:
Colette (Großbritannien, USA, Ungarn 2018)
Filmlänge: 112 Minuten
Regie: Wash Westmoreland
Drehbuch: Richard Glatzer, Wash Westmoreland, Rebecca Lenkiewicz
Darsteller: Keira Knightley, Dominic West, Denise Gough, Fiona Shaw, Eleanor Tomlinson, Robert Pugh, Ray Panthaki u.a.

Auszug aus dem Presseheft