Anke Engelke
Berlin (Weltexpresso) -Wann und auf welche Weise kam Ihnen die Idee zu AILO? Das war vor drei Jahren zu Weihnachten. Da fragten mich meine beiden Kinder, die damals vier und sechs Jahre alt waren, warum ich eigentlich noch keinen Film über die Rentiere des Weihnachtsmanns gemacht hätte. Und sie wollten auch wissen, wie die Rentiere das eigentlich machen: fliegen ...
Da wurde mir klar, dass meine Kinder bestens über das Leben der Löwen, Affen und Elefanten in Afrika Bescheid wussten, aber nichts über die Wildtiere, die praktisch vor unserer Haustür, in Europa, leben. Ich wollte aber keine klassische Tier-Doku zu diesem Thema machen, bei der die Information im Vordergrund steht, sondern eine Tiergeschichte erzählen, eine starke Story mit starken, ausgeprägten Persönlichkeiten. Eben keine bloße Abfolge von tierischen Verhaltensweisen, bei der man zwar Dutzende Tiere kennenlernt, aber mit ihnen keine Emotionen verbindet. Das Kino ist für mich die Kunst des nicht Gesagten. Was könnte es besseres geben als einen Film mit Tieren in den Hauptrollen, bei dem man Emotionen einfach durch ihre Blicke und durch vielerlei andere Details einfängt?
Was waren die Herausforderungen bei der Vorbereitung auf den Dreh?
Es waren sehr viele unterschiedliche Herausforderungen, die wir zu bewältigen hatten: Technischer Art, um die Crew zusammenzubekommen, und natürlich auch das Wetterer betreffend. Die größte Herausforderung bestand für mich aber darin, eine schlüssige Geschichte mit einem Pflanzenfresser als Helden zu finden. Ich liebe solche „normalen“ Helden. Ein junger Löwe gilt gleich als potentieller Held, als König der Tiere; ein neugeborenes Rentier ist dagegen nur eines unter vielen. Und trotzdem ist das, was es täglich erlebt, eines Helden würdig: Gleich von Geburt an muss es seinen Heldenmut beweisen, indem es gegen die Kälte und Fressfeinde ankämpfen muss, die nur auf jemanden wie ihn als Beute gewartet haben, um den harten Winter zu überleben. Was die Technik betrifft, mussten wir flexibel wie Dokumentarfilmer sein und dabei aber immer im Auge behalten, dass wir hier einen echten Kinofilm drehen wollten. Und ich musste meine Crew schonend darauf vorbereiten, dass wir teils bei minus 40 Grad drehen würden. Gab es Schwierigkeiten, an denen der Film hätte scheitern können? Wenn man Tiere filmen will, muss man ihre Gewohnheiten und ihr Verhalten genau kennen. Aber das war vorher nur theoretisches Wissen. Beim Dreh vor Ort wurde es plötzlich sehr real. Die wichtigste Eigenschaft in meinem Job ist Anpassungsfähigkeit. Wenn man sich vorher gut vorbereitet hat, kann man vor Ort besser improvisieren, wenn es notwendig ist. Woran hätte es scheitern können? Natürlich zuerst an meinen Darstellern – ich konnte ihnen ja nur sehr begrenzt Regieanweisungen geben. Aber man muss auch über das Wetter reden, was auch gewissermaßen ein wichtiger Darsteller im Film ist. Wenn man so einen Film macht, muss man manches einfach dem Zufall überlassen. Ich hatte immer Alternativen geplant, und zwar nicht nur einen Plan B, sondern auch C und D – zu Plan E musste ich glücklicherweise niemals greifen.
Wie lange dauerte es von der ersten Idee bis zum fertigen Film?
Die erste Idee zum Film kam mir vor drei Jahren. Sie ist dann langsam so konkret geworden, dass ich einige Monate vor Drehbeginn ein detailliertes Drehbuch schreiben konnte. Zu dem Zeitpunkt hatte ich schon alle Szenen im Kopf, die ich drehen wollte. Der erste Dreh fand im Mai 2017 statt, dabei stand Ailos Geburt im Mittelpunkt. Die letzten Szenen haben wir schließlich im Juli 2018 gedreht, um dann auch tatsächlich alle Verhaltensweisen zeigen zu können, auf die es mir ankam, um Emotionen zu erzeugen, damit das Publikum auch wirklich mit den Tieren mitfühlt. Die Originalversion haben wir schließlich Mitte Oktober fertiggestellt. Wie haben Sie Ailo entdeckt und weshalb wurde ausgerechnet er Ihr „Hauptdarsteller“? Es war unser Plan, im Mai 2017 die Geburt der jungen Rentiere zu filmen. Meine größte Sorge war, dass wir die Weibchen in dieser kritischen Situation stören könnten. Wir haben einige Weibchen entdeckt, die ganz kurz vor der Geburt standen und sind ihnen ein paar Tage gefolgt, und zwar ohne zu filmen, so dass sie sich an unsere Gegenwart gewöhnen und verstehen konnten, dass wir keine Gefahr darstellten. Ein einzelnes Weibchen folgte wiederum uns. Während wir darauf aus waren, ein Tier zu filmen, dass gebären würde, hatte sich dieses Weibchen uns praktisch angeschlossen und legte sich ganz in unsere Nähe und wartete ab, bis wir damit fertig waren, die anderen zu filmen.
Nach einer Woche waren wir der Verzweiflung nahe, und genau in diesem Moment entfernte sich dieses Weibchen ein wenig von uns – um sein Junges auf die Welt zu bringen! Wir hatten es offensichtlich geschafft, ihr Vertrauen zu gewinnen. Kurz nach der Geburt ließ sie das Kleine für eine Weile allein zurück. Wieso sie dies tat haben wir uns nie wirklich erklären können – wir waren zu weit entfernt, um sie zu stören. Vielleicht überkam sie tatsächlich ein Zweifel, wie wir es in der Filmerzählung vermuten. So kam es, dass nicht wir Ailo ausgesucht haben, sondern er uns – genauer gesagt, seine Mutter, die Vertrauen in uns gefasst hatte und dieses Vertrauen an ihr Junges weitergab. Er brauchte nach der Geburt ein wenig, um sich zu berappeln. Er hatte niemals Angst vor uns, für ihn waren wir einfach ein Teil seiner natürlichen Umgebung. Ich hätte auch kein Tier filmen können, dass von uns gestresst gewesen wäre. Sie haben schon mit Wölfen und mit Pavianen gedreht – was hat Sie an Rentieren interessiert, und was waren die Gemeinsamkeiten und die Unterschiede zu den anderen Tierarten? Mich haben vor allem zwei Dinge interessiert: Zum Einen ging es mir darum zu zeigen, wie ein Tier, das Leute eigentlich nur aus Fabeln und anderen Geschichten kennt, wirklich lebt – wie sein alltägliches Leben aussieht und was für außergewöhnliche Fähigkeiten es entwickelt hat, um in dieser extremen Umgebung zu überleben. Die andere Herausforderung lag darin, Empathie zu einem solchen Pflanzenfresser herzustellen. Bei Wölfen und auch bei Affen stellen sich ganz automatisch starke Emotionen ein – einerseits die Angst vorm Wolf, andererseits unsere Ähnlichkeit mit den Primaten. Aber wie man dieselbe Reaktion mit einem solchen Tier auslöst, war für mich ein sehr interessantes Problem. Was die Unterschiede angeht: Die einen sind Raubtiere, die anderen sind Beutetiere. Die einen wachsen von Geburt an in dem Bewusstsein auf, dass sie außerordentliche Jäger sind, die anderen, dass sie ihr ganzes Leben lang verfolgt werden und ständig auf der Hut sein müssen, damit es kein böses Ende mit ihnen nimmt. Ein friedlicher Tod ist ihnen nur selten vergönnt. Was die Gemeinsamkeiten betrifft: Alle diese Tiere haben Gefühle, sie erleben Emotionen. Und meine Aufgabe als Regisseur war, diese sichtbar zu machen, vor allem dadurch, dass ich ihre Blicke zeige, die so viele Emotionen ausdrücken. Durch meine Berufserfahrung als Biologe wusste ich, was für Situationen ich schaffen müsste, damit ich ihre außergewöhnlichen Überlebensfähigkeiten herausstellen könnte.
Wie nähert man sich wilden Tieren – und wie wichtig sind dabei Vertrauen, Furchtlosigkeit und Geduld?
Wenn es darum geht, natürliches Verhalten in freier Wildbahn zu zeigen, folgt man den Tieren nicht, sondern wartet, dass sie zu einem kommen. Da spielen Vertrauen und Geduld zusammen. Von Furcht würde ich nicht sprechen; es geht eher darum, ein Gespür für das Risiko zu haben, in das man sich begibt und das einen davor bewahrt, etwas Dummes zu tun oder dem Tier nahe zu kommen, ohne dass es sein Einverständnis signalisiert hat. Was umso schwieriger ist, wenn man es mit Beutetieren statt mit Raubtieren zu tun hat. Denn für einen Pflanzenfresser ist auch der Mensch ein Fressfeind, und umso wichtiger ist es, sein Vertrauen zu gewinnen.
Wie setzt man wilde Tiere in Szene?
Ich filme sie so, wie ich auch menschliche Schauspieler filmen würde – auf Augenhöhe. Ich filme ja nicht einfach das Exemplar einer Gattung, sondern ein Individuum, mit seinem ganz speziellen Charakter, mit seinen Eigenheiten, seinen Ängsten, seinen Zweifeln und seinen Glücksmomenten. Es ist mir sehr wichtig, dass die Tiere, die ich zeige, ganz und gar eigene Persönlichkeiten sind. Ich bin einigen Rentierjungen begegnet, aber keines war wie Ailo – er hatte so viele unglaubliche starke Eigenheiten. Der Ausdruck seiner Augen, wie er sich bewegte – wir haben sehr schnell gelernt, was er einem damit sagen wollte und was ihm im Kopf herumging. Um Emotionen auszulösen, musste die Kamera immer ganz nah am Tier dranbleiben und auch seinen Blickwinkel zeigen. Mir kam es darauf an, dass sich der Zuschauer ganz und gar in die Natur hineinversetzt fühlt und Teil von ihr wird, dass er sozusagen den Wind auf seiner Haut spürt. Für mich sind aber auch die Erzählstimme und die Filmmusik eigene Charaktere. Die Musik löst Gefühle aus und verstärkt sie; sie ist auch deshalb so wichtig, weil dieser Film eben keine Doku ist, sondern eine Geschichte. Auch die Erzählstimme ist für das Empfinden von Ailos Abenteuern wichtig. Die Erzählstimme nimmt eine eigene Haltung ein, stellt sich auch Fragen. Das Ganze ist eher spielerisch und fügt der Erzählung unterschiedliche Stimmungen und Stimmfarben hinzu.
Wie kann man sich beim Dreh von dem Gefühl lösen, ein Eindringling in der Welt des Tieres zu sein?
Wenn man dreht, merkt man schnell, ob man stört. Flucht ist natürlich ein Zeichen von Angst, aber ich habe gelernt, auch viele andere Verhaltensweisen zu verstehen. Ich zeige im Film auch gern Details wie die Bewegungen der Augenlider oder aufgestellte Ohren, all das liefert mir wertvolle Informationen. Wenn ich jemals das Gefühl hatte, ein Eindringling zu sein, habe ich mich zurückgezogen.
Worin unterscheiden sich die vielen Tierarten, die im Film vorkommen: die Rentiere, aber auch Wölfe, Füchse, Hermeline und Vielfraße?
Für mich war das Drehbuch wie das Schreiben von Fiktion, und zwar auch mit deren Mitteln: Hauptund Nebenfiguren, Höhepunkte und Cliffhanger. Jedes dieser Tiere hat seine „natürliche“ Rolle zu spielen. Ailo liefert natürlich den Hauptspannungsbogen; er ist es, dem wir bei unserer Reise durch Lappland folgen. Als Jungtier ist er naiv und der Natur ausgeliefert, und so weckt er unseren Beschützerinstinkt. Die Wölfe und die Vielfraße sind dazu da, der Geschichte Dramatik zu verleihen. Dabei sind sie in meinen Augen nicht die Bösewichte, sondern es ist eher so, dass wir uns ihre natürliche Rolle als Raubtiere für die Dramaturgie zunutze machen. Der Hermelin erfüllt für mich dieselbe Funktion wie Scrat in den „Ice Age“-Filmen: Sein zwanghaftes Verhalten ist perfekt geeignet, etwas Komik in den Film zu bringen. Dabei habe ich keine Verhaltensweisen erfunden, sondern einfach das verwendet, was sie in ihrem natürlichen Lebensraum ohnehin tun; meine Rolle war einfach, ihr Verhalten ins rechte Licht zu rücken.
Wie schafft man es, keine Spuren im Schnee zu hinterlassen, die die Einstellung ruinieren würden?
Wir haben Kameras verwendet, mit denen wir die Tiere auch aus großer Entfernung filmen konnten. Deswegen brauchten wir uns keine Sorgen zu machen, dass wir Spuren hinterlassen könnten. Wenn es um Luftaufnahmen geht, war es ab und an allerdings schon nötig, in der Postproduktion einzelne Bilder nachzubearbeiten. Aber in vielen Szenen sind wir ja auf Augenhöhe mit dem Tier und zeigen es nicht aus großer Hohe. Die Kamera ist dabei nur knapp über dem Boden, und so mussten wir unsere Spuren oft gar nicht verdecken.
Was hat sie bei den Dreharbeiten besonders überrascht, geärgert und gefreut?
Überrascht war ich vor allem davon, wie sehr sich die Tiere an diese Umgebung angepasst haben, in der wir Menschen keine Chance hätten zu überleben. Geärgert haben mich die langen Polarnächte, in denen wir nicht drehen konnten. Und gefreut hat mich das Gefühl, solche besonderen Momente erleben zu dürfen. Da oben spielt die Natur mit offenen Karten.
Was war beim Dreh besonders anstrengend?
Das lange Warten. Sei es wegen des Wetters oder weil sich die Tiere nicht an unsere Verabredungen hielten. Die Kälte dort oben zermürbt einen. Sie geht einem bis auf die Knochen und macht einen schläfrig. Die einfachste Bewegung wird zur Anstrengung.
Was haben Sie bei den Dreharbeiten zu AILOS REISE gelernt – und was würden Sie beim nächsten Mal anders machen?
Gelernt habe ich, dass ich noch besser vorbereitet sein muss, um improvisieren zu können, wenn eine Szene läuft. Die Arbeit mit den Tieren schult einen darin. Es ist, wie wenn man mit Kindern dreht: Man erklärt ihnen alles und sie hören auch zu, aber dann machen sie es doch auf ihre ganz eigene Art und Weise. Sie machen einem nichts vor. Beides ist eine Geduldsprobe. Man kann nichts erzwingen, sondern muss einen Weg finden, dass deine Darsteller den Weg einschlagen, den du ihnen vorgegeben hast. Was heißt das für meinen nächsten Film? Mich noch besser vorbereiten, um noch stärker improvisieren zu können, was ich liebe. Und auch einmal mit Darstellern zu arbeiten, die sprechen ... Im Ernst: ich hätte Lust, meine Liebe zu den Tieren mit der Arbeit mit menschlichen Schauspielern zu verbinden.
Sorgt sie das weitere Schicksal der Rentiere, ihrer natürlichen Umgebung Lappland – und das des ganzen Planeten?
Meine Sorge ist, dass die letzten wildlebenden Rentierherden in Europa verschwinden könnten. Das hat zu tun mit Abholzungen, die ihre althergebrachten Wanderungswege zerstören, und natürlich auch mit dem Klimawandel, der dazu führt, dass die weiblichen Rentiere ihre Jungen zu früh und am falschen Ort zur Welt bringen. Für Lappland heißt das, dass die letzte wahre Wildnis, die wir in Europa haben, verschwinden könnte.
Macht einen die Arbeit an einem Film wie AILOS REISE zu einem verantwortungsbewussteren Menschen?
Wir sind ja die ersten, die am eigenen Leib zu spüren bekommen, wie sich unser Planet verändert. Davor kann ich auch beim Drehen nicht die Augen verschließen und behaupten, ich hätte davon nichts gewusst. Ich fühle mich auf jeden Fall verpflichtet, meinen Kinder Respekt vor der Natur und Verantwortung zu lehren. Wenn man in der Natur dreht, zwingt das einen dazu, sich Zeit zu nehmen, genau hinzuschauen – und schließlich zu verstehen, wie alles im Zusammenspiel funktioniert. Ich sage gern, dass es der Zeit egal ist, ob man sie nutzt oder nicht. Aber beim Filmen in der Natur nimmt man sich die Zeit, und so kommt man dazu, hoffe ich zumindest, Verantwortung zu übernehmen.
Was am Film macht Sie besonders stolz?
Da gibt es keine bestimmte einzelne Szene. Was mich stolz machen würde: Wenn ich es mit dem Film schaffe, dass sich das Publikum mit dem Tier verbunden fühlt; wenn die Figuren, die ich im Film zeige, Emotionen auslösen. Wenn das Publikum um Ailos Leben fürchtet, wenn es vom Film bewegt ist und es begreift, wie wichtig es ist, den Lebensraum dieser Tiere zu erhalten.
Was hat Sie dazu gebracht, Naturfilmer zu werden?
Ich hatte schon immer Lust dazu, Wissen und Emotionen zu vermitteln. Für mich ist Einfühlungsvermögen das Wichtigste, beruflich und auch im Privaten. Als Naturfilmer gilt für mich, dass das Kino die Kunst des Ungesagten ist: Es zu schaffen, eine Emotion einfach nur mit einem Blick oder einer kleinen Geste auszudrücken, ganz ohne Worte, ist für mich ein magisches Gefühl. Dafür ist das Tier der beste Lehrmeister.
An wen richten Sie Ihren Film?
An alle, die wahre Emotionen erleben wollen. AILOS REISE spricht auf so viele unterschiedliche Weisen zu einem, dass für jeden etwas dabei ist.
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Nach einer Woche waren wir der Verzweiflung nahe, und genau in diesem Moment entfernte sich dieses Weibchen ein wenig von uns – um sein Junges auf die Welt zu bringen! Wir hatten es offensichtlich geschafft, ihr Vertrauen zu gewinnen. Kurz nach der Geburt ließ sie das Kleine für eine Weile allein zurück. Wieso sie dies tat haben wir uns nie wirklich erklären können – wir waren zu weit entfernt, um sie zu stören. Vielleicht überkam sie tatsächlich ein Zweifel, wie wir es in der Filmerzählung vermuten. So kam es, dass nicht wir Ailo ausgesucht haben, sondern er uns – genauer gesagt, seine Mutter, die Vertrauen in uns gefasst hatte und dieses Vertrauen an ihr Junges weitergab. Er brauchte nach der Geburt ein wenig, um sich zu berappeln. Er hatte niemals Angst vor uns, für ihn waren wir einfach ein Teil seiner natürlichen Umgebung. Ich hätte auch kein Tier filmen können, dass von uns gestresst gewesen wäre. Sie haben schon mit Wölfen und mit Pavianen gedreht – was hat Sie an Rentieren interessiert, und was waren die Gemeinsamkeiten und die Unterschiede zu den anderen Tierarten? Mich haben vor allem zwei Dinge interessiert: Zum Einen ging es mir darum zu zeigen, wie ein Tier, das Leute eigentlich nur aus Fabeln und anderen Geschichten kennt, wirklich lebt – wie sein alltägliches Leben aussieht und was für außergewöhnliche Fähigkeiten es entwickelt hat, um in dieser extremen Umgebung zu überleben. Die andere Herausforderung lag darin, Empathie zu einem solchen Pflanzenfresser herzustellen. Bei Wölfen und auch bei Affen stellen sich ganz automatisch starke Emotionen ein – einerseits die Angst vorm Wolf, andererseits unsere Ähnlichkeit mit den Primaten. Aber wie man dieselbe Reaktion mit einem solchen Tier auslöst, war für mich ein sehr interessantes Problem. Was die Unterschiede angeht: Die einen sind Raubtiere, die anderen sind Beutetiere. Die einen wachsen von Geburt an in dem Bewusstsein auf, dass sie außerordentliche Jäger sind, die anderen, dass sie ihr ganzes Leben lang verfolgt werden und ständig auf der Hut sein müssen, damit es kein böses Ende mit ihnen nimmt. Ein friedlicher Tod ist ihnen nur selten vergönnt. Was die Gemeinsamkeiten betrifft: Alle diese Tiere haben Gefühle, sie erleben Emotionen. Und meine Aufgabe als Regisseur war, diese sichtbar zu machen, vor allem dadurch, dass ich ihre Blicke zeige, die so viele Emotionen ausdrücken. Durch meine Berufserfahrung als Biologe wusste ich, was für Situationen ich schaffen müsste, damit ich ihre außergewöhnlichen Überlebensfähigkeiten herausstellen könnte.
Wie nähert man sich wilden Tieren – und wie wichtig sind dabei Vertrauen, Furchtlosigkeit und Geduld?
Wenn es darum geht, natürliches Verhalten in freier Wildbahn zu zeigen, folgt man den Tieren nicht, sondern wartet, dass sie zu einem kommen. Da spielen Vertrauen und Geduld zusammen. Von Furcht würde ich nicht sprechen; es geht eher darum, ein Gespür für das Risiko zu haben, in das man sich begibt und das einen davor bewahrt, etwas Dummes zu tun oder dem Tier nahe zu kommen, ohne dass es sein Einverständnis signalisiert hat. Was umso schwieriger ist, wenn man es mit Beutetieren statt mit Raubtieren zu tun hat. Denn für einen Pflanzenfresser ist auch der Mensch ein Fressfeind, und umso wichtiger ist es, sein Vertrauen zu gewinnen.
Wie setzt man wilde Tiere in Szene?
Ich filme sie so, wie ich auch menschliche Schauspieler filmen würde – auf Augenhöhe. Ich filme ja nicht einfach das Exemplar einer Gattung, sondern ein Individuum, mit seinem ganz speziellen Charakter, mit seinen Eigenheiten, seinen Ängsten, seinen Zweifeln und seinen Glücksmomenten. Es ist mir sehr wichtig, dass die Tiere, die ich zeige, ganz und gar eigene Persönlichkeiten sind. Ich bin einigen Rentierjungen begegnet, aber keines war wie Ailo – er hatte so viele unglaubliche starke Eigenheiten. Der Ausdruck seiner Augen, wie er sich bewegte – wir haben sehr schnell gelernt, was er einem damit sagen wollte und was ihm im Kopf herumging. Um Emotionen auszulösen, musste die Kamera immer ganz nah am Tier dranbleiben und auch seinen Blickwinkel zeigen. Mir kam es darauf an, dass sich der Zuschauer ganz und gar in die Natur hineinversetzt fühlt und Teil von ihr wird, dass er sozusagen den Wind auf seiner Haut spürt. Für mich sind aber auch die Erzählstimme und die Filmmusik eigene Charaktere. Die Musik löst Gefühle aus und verstärkt sie; sie ist auch deshalb so wichtig, weil dieser Film eben keine Doku ist, sondern eine Geschichte. Auch die Erzählstimme ist für das Empfinden von Ailos Abenteuern wichtig. Die Erzählstimme nimmt eine eigene Haltung ein, stellt sich auch Fragen. Das Ganze ist eher spielerisch und fügt der Erzählung unterschiedliche Stimmungen und Stimmfarben hinzu.
Wie kann man sich beim Dreh von dem Gefühl lösen, ein Eindringling in der Welt des Tieres zu sein?
Wenn man dreht, merkt man schnell, ob man stört. Flucht ist natürlich ein Zeichen von Angst, aber ich habe gelernt, auch viele andere Verhaltensweisen zu verstehen. Ich zeige im Film auch gern Details wie die Bewegungen der Augenlider oder aufgestellte Ohren, all das liefert mir wertvolle Informationen. Wenn ich jemals das Gefühl hatte, ein Eindringling zu sein, habe ich mich zurückgezogen.
Worin unterscheiden sich die vielen Tierarten, die im Film vorkommen: die Rentiere, aber auch Wölfe, Füchse, Hermeline und Vielfraße?
Für mich war das Drehbuch wie das Schreiben von Fiktion, und zwar auch mit deren Mitteln: Hauptund Nebenfiguren, Höhepunkte und Cliffhanger. Jedes dieser Tiere hat seine „natürliche“ Rolle zu spielen. Ailo liefert natürlich den Hauptspannungsbogen; er ist es, dem wir bei unserer Reise durch Lappland folgen. Als Jungtier ist er naiv und der Natur ausgeliefert, und so weckt er unseren Beschützerinstinkt. Die Wölfe und die Vielfraße sind dazu da, der Geschichte Dramatik zu verleihen. Dabei sind sie in meinen Augen nicht die Bösewichte, sondern es ist eher so, dass wir uns ihre natürliche Rolle als Raubtiere für die Dramaturgie zunutze machen. Der Hermelin erfüllt für mich dieselbe Funktion wie Scrat in den „Ice Age“-Filmen: Sein zwanghaftes Verhalten ist perfekt geeignet, etwas Komik in den Film zu bringen. Dabei habe ich keine Verhaltensweisen erfunden, sondern einfach das verwendet, was sie in ihrem natürlichen Lebensraum ohnehin tun; meine Rolle war einfach, ihr Verhalten ins rechte Licht zu rücken.
Wie schafft man es, keine Spuren im Schnee zu hinterlassen, die die Einstellung ruinieren würden?
Wir haben Kameras verwendet, mit denen wir die Tiere auch aus großer Entfernung filmen konnten. Deswegen brauchten wir uns keine Sorgen zu machen, dass wir Spuren hinterlassen könnten. Wenn es um Luftaufnahmen geht, war es ab und an allerdings schon nötig, in der Postproduktion einzelne Bilder nachzubearbeiten. Aber in vielen Szenen sind wir ja auf Augenhöhe mit dem Tier und zeigen es nicht aus großer Hohe. Die Kamera ist dabei nur knapp über dem Boden, und so mussten wir unsere Spuren oft gar nicht verdecken.
Was hat sie bei den Dreharbeiten besonders überrascht, geärgert und gefreut?
Überrascht war ich vor allem davon, wie sehr sich die Tiere an diese Umgebung angepasst haben, in der wir Menschen keine Chance hätten zu überleben. Geärgert haben mich die langen Polarnächte, in denen wir nicht drehen konnten. Und gefreut hat mich das Gefühl, solche besonderen Momente erleben zu dürfen. Da oben spielt die Natur mit offenen Karten.
Was war beim Dreh besonders anstrengend?
Das lange Warten. Sei es wegen des Wetters oder weil sich die Tiere nicht an unsere Verabredungen hielten. Die Kälte dort oben zermürbt einen. Sie geht einem bis auf die Knochen und macht einen schläfrig. Die einfachste Bewegung wird zur Anstrengung.
Was haben Sie bei den Dreharbeiten zu AILOS REISE gelernt – und was würden Sie beim nächsten Mal anders machen?
Gelernt habe ich, dass ich noch besser vorbereitet sein muss, um improvisieren zu können, wenn eine Szene läuft. Die Arbeit mit den Tieren schult einen darin. Es ist, wie wenn man mit Kindern dreht: Man erklärt ihnen alles und sie hören auch zu, aber dann machen sie es doch auf ihre ganz eigene Art und Weise. Sie machen einem nichts vor. Beides ist eine Geduldsprobe. Man kann nichts erzwingen, sondern muss einen Weg finden, dass deine Darsteller den Weg einschlagen, den du ihnen vorgegeben hast. Was heißt das für meinen nächsten Film? Mich noch besser vorbereiten, um noch stärker improvisieren zu können, was ich liebe. Und auch einmal mit Darstellern zu arbeiten, die sprechen ... Im Ernst: ich hätte Lust, meine Liebe zu den Tieren mit der Arbeit mit menschlichen Schauspielern zu verbinden.
Sorgt sie das weitere Schicksal der Rentiere, ihrer natürlichen Umgebung Lappland – und das des ganzen Planeten?
Meine Sorge ist, dass die letzten wildlebenden Rentierherden in Europa verschwinden könnten. Das hat zu tun mit Abholzungen, die ihre althergebrachten Wanderungswege zerstören, und natürlich auch mit dem Klimawandel, der dazu führt, dass die weiblichen Rentiere ihre Jungen zu früh und am falschen Ort zur Welt bringen. Für Lappland heißt das, dass die letzte wahre Wildnis, die wir in Europa haben, verschwinden könnte.
Macht einen die Arbeit an einem Film wie AILOS REISE zu einem verantwortungsbewussteren Menschen?
Wir sind ja die ersten, die am eigenen Leib zu spüren bekommen, wie sich unser Planet verändert. Davor kann ich auch beim Drehen nicht die Augen verschließen und behaupten, ich hätte davon nichts gewusst. Ich fühle mich auf jeden Fall verpflichtet, meinen Kinder Respekt vor der Natur und Verantwortung zu lehren. Wenn man in der Natur dreht, zwingt das einen dazu, sich Zeit zu nehmen, genau hinzuschauen – und schließlich zu verstehen, wie alles im Zusammenspiel funktioniert. Ich sage gern, dass es der Zeit egal ist, ob man sie nutzt oder nicht. Aber beim Filmen in der Natur nimmt man sich die Zeit, und so kommt man dazu, hoffe ich zumindest, Verantwortung zu übernehmen.
Was am Film macht Sie besonders stolz?
Da gibt es keine bestimmte einzelne Szene. Was mich stolz machen würde: Wenn ich es mit dem Film schaffe, dass sich das Publikum mit dem Tier verbunden fühlt; wenn die Figuren, die ich im Film zeige, Emotionen auslösen. Wenn das Publikum um Ailos Leben fürchtet, wenn es vom Film bewegt ist und es begreift, wie wichtig es ist, den Lebensraum dieser Tiere zu erhalten.
Was hat Sie dazu gebracht, Naturfilmer zu werden?
Ich hatte schon immer Lust dazu, Wissen und Emotionen zu vermitteln. Für mich ist Einfühlungsvermögen das Wichtigste, beruflich und auch im Privaten. Als Naturfilmer gilt für mich, dass das Kino die Kunst des Ungesagten ist: Es zu schaffen, eine Emotion einfach nur mit einem Blick oder einer kleinen Geste auszudrücken, ganz ohne Worte, ist für mich ein magisches Gefühl. Dafür ist das Tier der beste Lehrmeister.
An wen richten Sie Ihren Film?
An alle, die wahre Emotionen erleben wollen. AILOS REISE spricht auf so viele unterschiedliche Weisen zu einem, dass für jeden etwas dabei ist.
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