f high5Serie: Die anlaufenden Filme in deutschen Kinos vom 30. Mai 2019, Teil

Redaktion

Paris (Weltexpresso) - Wie kam HIGH LIFE zustande?

Vor einiger Zeit fragte mich ein englischer Produzent, ob ich ein Projekt innerhalb einer Reihe von Filmen zum Thema „Femmes Fatales“ übernehmen wolle. Anfangs war ich nicht so interessiert, aber nachdem ich darüber nachgedacht hatte, stimmte ich zu. Die Realisierung des Projektes dauerte ewig. Es gab kein Geld und es brauchte fast sieben Jahre, um eine Koproduktion zwischen Frankreich, Deutschland, Polen und letztlich den USA zustande zu bringen. Während dieser Zeit bin ich nach England und in die USA gereist, um Schauspieler zu treffen. Der Schauspieler, den ich mir für die Hauptrolle des Monte erträumte, war Philip Seymour Hoffman. Wegen seines Alters, seiner Müdigkeit - aber er verstarb. Ich war sehr traurig. Der schottische Casting-Direktor meinte dann, es gäbe einen anderen Schauspieler, den ich unbedingt treffen müsste: Robert Pattinson. Zuerst dachte ich, Robert sei zu jung, und ich muss gestehen, seine Schönheit war einschüchternd. In der Zwischenzeit traf ich Patricia Arquette in Los Angeles für die weibliche Hauptrolle der Dr. Dibs.
 
Robert Pattinson zeigte sich bei jedem der folgenden Treffen diskret und charmant, geheimnisvoll. Natürlich kannte ich ihn. Wie Millionen von Kinobesuchern hatte ich die fünf Folgen von Twilight gesehen, in denen er einen Vampir spielt. In dieser Serie faszinierte mich vor allem die Paarkonstellation, die er mit Kirsten Stewart bildete. Ich erinnere mich an eine Szene, als Kirsten Stewart ihm offenbart, dass sie akzeptiert, dass er ein Vampir ist. Er antwortet: „Nein, ich kann nicht... ich will dich nicht verletzen.“ Ich hatte ihn auch in den beiden Filmen gesehen, die er mit David Cronenberg gedreht hatte, Cosmopolis (2012) und Maps to the Stars (2014). Ich wusste, er konnte verschiedene Typen darstellen. Eines Abends im Hotel wurde mir klar, wie dumm es war, nach einem Double von Philip Seymour Hoffman zu suchen. Plötzlich war es wie selbstverständlich, Robert als Monte zu besetzen. Mit meinem Co-Autor Jean-Pol Fargeau haben wir einen ersten Entwurf des Films geschrieben und ihn für Robert übersetzen lassen.

Danach wurde alles viel einfacher. Robert kam nach Paris, wir aßen zu Abend, unterhielten uns... Es war alles sehr lustig. Manchmal sagte er, dass er das Drehbuch nicht so gut versteht, dass er nicht wusste, was ich wollte. Ich hatte das Gefühl, dass er Angst vor der Keuschheit seines Charakters hatte. Dennoch war Robert immer präsent. Mehr als „präsent“: Er war ein aktiver Partner, der immer zur Verfügung stand. Sein „Ja“ zum Film, war ein 1.000-prozentiges „Ja“. Das hat er während des Drehs in Köln bewiesen. Einige Leute dachten, dass ein Star wie er einen Privatjet für Wochenenden in London verlangt. Überhaupt nicht! Er blieb während des gesamten Drehs in Köln. Er aß mit der Crew zu Abend, nicht, weil ihm langweilig war, sondern weil er zu 100 Prozent dabei sein wollte. Bei der Europäischen Weltraumorganisation in Köln absolvierte er wie alle anderen Schauspieler ein Astronautentraining. Er lief sogar auf einer Maschine, die für kurze Zeit Schwerelosigkeit erzeugte. Er ist eine wunderbare Person, mit der es sich ausgezeichnet zusammenarbeiten lässt!


Und Juliette Binoche?

Sie kam später zum Projekt. Wir hatten zusammen an meinem Film Meine schöne innere Sonne (2017) gearbeitet. Während der Weltpremiere im Mai 2017 in Cannes sagte Juliette zu mir: Stimmt es, dass du deine Hauptdarstellerin verloren hast?“ Es stimmte. Die Dreharbeiten zu HIGH LIFE sollten im September beginnen. Patricia Arquette hatte sich für die Serie Medium verpflichtet, in der sie die Hauptrolle spielt. Juliette sagte: „Nun, wenn du möchtest, dass ich das mache, dann mache ich das.“ Ich bestehe darauf, dass ich Juliette in keinster Weise als Ersatz ansehe. Wir haben uns bei Meine schöne innere Sonne unglaublich gut verstanden. Sie ist eine wahre Naturgewalt, geerdet und solide. Aber ich hatte immer noch Patricia Arquette im Kopf. Ich musste die Figur in meinem Kopf neu erfinden. Für Dr. Dibs - eine Art Dr. Seltsam im Weltraum, ein bisschen verrückt und gefährlich – schlug ich vor, dass Juliette sehr lange, tiefschwarze Haare hat. Es wäre während ihrer interstellaren Reise gewachsen. Juliette gefiel die Idee. So konnte ich mir eine andere Juliette als die in Meine schöne innere Sonne vorstellen. Aber genauso kreativ und einfallsreich. Fast eine neue Eva...


Wie haben Sie sich die Interaktion der anderen Schauspieler vorgestellt?

Was sie vereint, ist, dass sie einer Gruppe von Straftätern angehören, einer Gemeinschaft von Männern und Frauen aus dem Todestrakt. Als Gegenleistung für die sogenannte Freiheit erklären sie sich damit einverstanden, in den Weltraum geschickt zu werden, um als Versuchskaninchen für mehr oder weniger wissenschaftliche Experimente zu Fortpflanzung, Schwangerschaft und Geburt eingesetzt zu werden - unter strenger Aufsicht einer Ärztin, die ebenfalls ein langes Strafregister hat. Es ist ein Gefängnis im All, eine Strafkolonie, in der die Insassen einigermaßen gleichberechtigt sind. Eine Art Phalansterium, eine Art Produktions- und Wohngenossenschaft, in der niemand wirklich Befehle erteilt, selbst die Ärztin nicht, deren Aufgabe darin besteht, Sperma wie eine Bienenkönigin zu sammeln. Die Bienenkönigin ist zuständig, aber der wirkliche Anführer, der einzige absolute und unmerkliche Kommandant, ist das Raumschiff selbst, das dafür programmiert ist, sie alle in die Unendlichkeit, in ein Schwarzes Loch und damit in den Tod zu führen.


Sie haben nur Schauspieler eingesetzt, keine Komparsen oder Kleindarsteller?

Ganz genau! Ich hatte André Benjamin (Tcherny) in einer Biografie über Jimi Hendrix gesehen, von der ich nicht erwartet hatte, dass sie wirklich funktioniert. Ich dachte mir, dass kein Schauspieler der Legende nahe kommen könnte. Aber André Benjamin war wunderbar. Seine Darstellung ist ein großartiges Riff auf Jimi Hendrix. Ich traf ihn in Atlanta und er sagte zu. Agatha Buzek (Nansen) hatte ich in mehreren Theaterstücken unter der Regie ihres polnischen Landsmannes Krzysztof Warlikowski gesehen. Ihre Meisterhaftigkeit hat mich umgehauen. Ich habe auch Lars Eidinger (Chandra) im Theater gesehen. Er hat viel mit Thomas Ostermeier zusammengearbeitet. Er ist ein Star des deutschen Theaters. Ich brauchte jemanden wie ihn: roh, brutal, massiv und doch sehr zerbrechlich. Mia Goth (Boyse) war das junge Mädchen in Nymphomaniac: Vol.II (2013) von Lars von Trier. Ich mochte ihre Jugend, ihre Schönheit, und ich wollte, dass sie etwas anderes probierte: eine Art hartnäckige Entschlossenheit. Dann sind da noch Claire Tran (Mink), Ewan Mitchell (Ettore), Gloria Obianyo (Elektra) und Jessie Ross (Willow). Alle sind wunderbar, einzeln und im Kollektiv. In der Tat könnte ich allen das gleiche Prädikat geben: rebellische, gebrochene Jugend.


Und das Baby?

Das Baby ist sehr wichtig! Ihr Name ist Scarlett. Sie ist Britin. Sie ist die Tochter von Robert Pattinsons bestem Freund Sam. Die beiden wuchsen zusammen auf und gingen gemeinsam zur Schule. Die Dreharbeiten sollten damals beginnen und wir hatten immer noch nicht das richtige Baby gefunden. Eines Tages sagte Robert: „Warum casten wir ein Baby nach dem anderen, wenn ich doch eigentlich schon das perfekte kenne?” Diese süße und charmante Miss Scarlett hat uns dann im Sturm erobert. Es ist gar nicht so schwer, mit einem Baby zu drehen. Wir richteten uns einfach nach ihrem Rhythmus – nach ihren Nickerchen- und Fütterungszeiten und nach ihren Weinanfällen. Dank der Finesse und Flexibilität des Kameramanns Yorick Le Saux konnten wir mehr oder weniger lautlos, fast unsichtbar drehen. Und es war heftig zu sehen, wie Willow im Flur des Raumschiffes laufen lernt. Das waren wirklich Scarletts erste Schritte, vor einer Kamera. Am Ende des Tages gurrte sie glücklich und lief. Das ist eine meiner Lieblingsszenen. An ihr sehen wir in Robert Pattinsons Gesicht, dass seine Schönheit seiner Güte nicht im Weg steht. Oder besser gesagt, dass seine Güte schön anzusehen ist. Robert hatte noch nie zuvor Windeln gewechselt oder ein Baby mit einem Löffel gefüttert, aber bei Miss Scarlett bekam er das alles hin!


Alle Figuren werden als Männer und Frauen ohne Vergangenheit dargestellt. Warum?

Es gab eine frühere Version des Drehbuches, die auf ihr früheres Leben Bezug nahm. Aber ich fand, dass zu viel Wissen sehr langweilig ist. Deshalb haben wir uns bewusst entschieden, die Figuren nicht zu “überfiktionalisieren”. Sie haben wahrscheinlich alle schreckliche Verbrechen begangen, aber wir gehen dem nicht nach. Ihre kollektive oder individuelle Geschichte findet in der Gegenwart statt und – wer weiß? – in der Zukunft. Auch wenn die Zukunft für die meisten von ihnen die Form eines Friedhofs unter den Sternen haben wird. Für mich sind sie alle Teil einer zeitgenössischen Gemeinschaft, Utopisten, Hippies der besonderen Art, die aus Jugendhaftanstalten in Gefängnisse gingen und die in keiner anderen Gesellschaft als in ihrer eigenen leben wollen.

Foto:
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Info:
CLAIRE DENIS REGIE, DREHBUCH
Claire Denis wurde 1948 in Paris geboren und verbrachte einen Großteil ihrer Kindheit in FranzösischWestafrika. Sie war Trainee in einer Firma, die Lehrfilme produzierte und schloss 1971 ihr Filmstudium am Institut des hautes études cinématographiques in Paris ab. Sie assistierte Regisseuren wie CostaGavras, Wim Wenders und Jacques Rivette, bevor sie 1988 ihr Langfilmdebüt Chocolat – Verbotene Sehnsucht inszenierte. In ihren Filmen beschäftigt sich Claire Denis häufig mit Menschen am Rande der Gesellschaft und mit dem Erbe des Kolonialismus wie in Der Fremdenlegionär (1999), Trouble Every Day (2001) oder Land in Aufruhr (2009).

Ein Film von CLAIRE DENIS mit ROBERT PATTINSON, JULIETTE BINOCHE, ANDRÉ BENJAMIN, MIA GOTH, AGATA BUZEK, LARS EIDINGER, CLAIRE TRAN, EWAN MITCHELL, GLORIA OBIANYO, JESSIE ROSS

Abdruck aus dem Presseheft