f high1Serie: Die anlaufenden Filme in deutschen Kinos vom 30. Mai 2019, Teil

Redaktion

Paris (Weltexpresso) - Welche Anforderungen hatten Sie an die Ausstattung?

Meine Anweisungen waren sehr einfach. Das Raumschiff ist ein Gefängnis, eine Art gedrungenes Haus, düster, schmutzig, schlecht beleuchtet. Es gibt einen Hauptkorridor und Zellen auf beiden Seiten. Im Erdgeschoss befinden sich ein medizinisches Labor, ein Leichenschauhaus und ein Gewächshausgarten. Ich wollte diesen Garten unbedingt haben. Wie kann man die Hoffnung auf Rückkehr aufrechterhalten, wenn die Erde nicht Teil der Reise ist? Die Gartenerde ist ihre Erde, das einzige, was sie daran erinnert, dass sie Erdlinge sind, Männer und Frauen der Erde.Für das Arztlabor wollte ich die gleiche Einfachheit, ein striktes Minimum: Reagenzgläser, einige Instrumente, einen Stuhl für gynäkologische Untersuchungen. Keine der typischen Science-Fiction-Requisiten – Laserpistolen, Desintegratoren, Teleportationsgeräte usw. Eigentlich wollte ich Spezialeffekte unbedingt vermeiden. Gleiches gilt für die Schwerelosigkeit. Es ist keine Schwerelosigkeit erforderlich, da das Raumschiff nahe an Lichtgeschwindigkeit beschleunigt. Die terrestrische Schwerkraft – die Schwerkraft im wahrsten Sinne des Wortes – baut sich wieder auf, weil die Schwerkraft die Wirkung der Beschleunigung ist. Wenn ich Schauspieler, die an Kabeln hängen, vor einem grünen Bildschirm hätte filmen müssen, hätte ich den Film nie gemacht. Und da es so gut wie keine Spezialeffekte gibt, hoffe ich, dass der Film immer noch einen besonderen Effekt auf die Zuschauer hat. Die Form des Raumschiffes 7 entspricht nicht den typischen Science-Fiction-Kriterien. Mir wurde gesagt, dass unser Raumschiff wie eine Schachtel Streichhölzer aussehen würde. Das hat mich wirklich zum Lachen gebracht. Aber diese Entscheidung war keine Laune oder eine Fantasie. Ich will nicht die Astrophysiker-Karte ausspielen, aber ich habe gelernt, wenn man

das Sonnensystem verlässt, gibt es keinen Widerstand mehr. Das Raumschiff kann also jede Form haben, solange es mit einer Energiequelle ausgestattet ist, die es in Bewegung hält. Die flugkörperähnliche, aerodynamische Form ist nicht notwendig, sondern absurd. Also war ein paralleles, flaches Rechteck völlig in Ordnung für mich.Auch die Filmmusik ist nicht gerade typisch intergalaktisch... Das stimmt nicht ganz. Stuart A. Staples von den „Tindersticks” hat sie komponiert. Er war auch der Sounddesigner. Ich habe mehrere Filme mit ihm gemacht, also wusste ich, dass ich keinen Kavallerieangriff oder eine Möchtegern-Wagnerianische Pyrotechnik bekomme. Die von Stuart kreierte Musik ist sanft und voller niederfrequenter Feinheiten. Und am Ende des Films dann ein besonderer Bonus: das Lied „Willow”, von Robert Pattinson selbst gesungen! Sie haben in Deutschland, in Köln gedreht. Hat Sie das beeinflusst? Ja, das hat mich beeinflusst. In vielerlei Hinsicht. Zunächst brachte es Erinnerungen zurück. An Berlin und Der Himmel über Berlin (1986) von Wim Wenders. Ich war Wims erste Assistentin für den Film. Dann, ein Dutzend Jahre später, filmte ich 35 Rum in Lübeck, der Stadt von Thomas Mann, wo das Haus seines Großvaters stand, in dem „Buddenbrooks” spielt. Lübeck ist auch die Stadt von Günter Grass. Sie ist also geschichtsträchtig.

Köln unterscheidet sich von Berlin und Lübeck. Es ist das Rheinland, es gibt den Rhein. Unser Hotel war an einem Platz unweit des Bahnhofs und des Doms. Wir fühlten uns dort zu Hause. Das stetige Kommen und Gehen der Züge war beruhigend. In Köln gibt es zwei Arten von Studios: ein riesiges, in dem Jarmusch gedreht hat und einige kleinere, in denen Lars von Trier mehrere Filme drehte. Es ist besser, in einem kleinen Studio zu sein, wenn man einen intimen Film drehen möchte. Unser Studio befand sich in einem Gewerbegebiet außerhalb Kölns. In der Anlage befanden sich ein altes Haus und Bäume. Es war eine merkwürdige Mischung mit einem komischen Charme. Fassbinder drehte seine fünfteilige Fernsehserie Acht Stunden sind kein Tag (1972) in Köln. Das muss ich alles im Kopf gehabt haben, und das alles sprach für Köln als Drehort. Außerdem habe ich in Köln Co-Produzenten gefunden, Pandora Film, die mir vertraut haben.

Sexualität ist in HIGH LIFE sehr präsent, wird aber eher düster dargestellt... Sexualität, kein Sex. Sinnlichkeit, keine Pornografie. Im Gefängnis steht normale Sexualität nicht wirklich auf der Tagesordnung. Wenn das Gefängnis aber auch ein Laboratorium ist, um die menschliche Spezies zu verewigen, dann wird die Sexualität noch abstrakter, da sie nur der Reproduktion dienen soll. Wenn Männer ihr Sperma für den Arzt beiseitelegen müssen... ja, sie kommen zum Abspritzen, aber für die Wissenschaft. Während des Drehs begann ich, das vierte Buch von Michel Foucaults „Sexualität und Wahrheit” („Confessions of the Flesh”) zu lesen, das sich unter anderem mit der Ehe und Jungfräulichkeit auseinandersetzt. Vor dem Christentum diente die Ehe einem einzigen Zweck: der Fortpflanzung. Bei Sexualität geht es um Flüssigkeiten. Sobald sich die Sexualität in uns rührt, begreifen wir, dass es nur um Flüssigkeiten geht: Blut, Sperma usw. Ich dachte, wenn ich diesen Subtext der Flüssigkeiten haben wollte, müssten wir den Sexualakt auf die Selbstbefriedigung reduzieren – mehr oder weniger technisch unterstützt durch die Fuckbox mit einem Dildo für Dr. Dibs, die alles gibt, aber in völliger Einsamkeit. Diese Szene ist zum Teil dunkel und nutzlos. Aber was ist am Ende nützlich? Der Versuch des Abspritzens ist nicht nutzlos, oder? Der Versuch der Ärztin, allein und mit ihrem verstümmelten Körper einen Höhepunkt zu erreichen, wird wunderbar durch Juliette Binoches Schauspiel dargestellt. Ihre ganze Kraft liegt in ihrem Rücken, den ich wie eine Odaliske gefilmt habe, mit den schönen Linien der Hüften und des Rückens. Später, in der Nacht macht sich Juliette auf, um das Sperma von Robert Pattinson zu stehlen, der durch Schlaftabletten ausgeknockt ist. Es ist ein Raubüberfall. Und definitiv eine Vergewaltigung. Für mich ist die erotischste Szene im Film, wenn ein junger Insasse masturbiert, während er Juliette anstarrt, als sie ihr Haar vor einem Lüftungsschacht trocknet. HIGH LIFE erzählt von mehr als nur von Verlangen und von Flüssigkeiten. Lust und Einsamkeit, sind das die Hauptthemen des Films? Mehr oder weniger. Vor allem aber, und darauf muss ich bestehen, ist HIGH LIFE kein Science-Fiction-Film, auch wenn es eine gesunde Dosis Fiktion gibt – und Wissenschaft, dank der wertvollen Zusammenarbeit mit dem Astrophysiker Aurélien Barrau, Spezialist für Astroteilchenphysik und Schwarze Löcher. Der Film spielt im Weltraum, ist aber sehr geerdet.

Foto:
© Verleih

Info:
CLAIRE DENIS REGIE, DREHBUCH
Claire Denis wurde 1948 in Paris geboren und verbrachte einen Großteil ihrer Kindheit in FranzösischWestafrika. Sie war Trainee in einer Firma, die Lehrfilme produzierte und schloss 1971 ihr Filmstudium am Institut des hautes études cinématographiques in Paris ab. Sie assistierte Regisseuren wie CostaGavras, Wim Wenders und Jacques Rivette, bevor sie 1988 ihr Langfilmdebüt Chocolat – Verbotene Sehnsucht inszenierte. In ihren Filmen beschäftigt sich Claire Denis häufig mit Menschen am Rande der Gesellschaft und mit dem Erbe des Kolonialismus wie in Der Fremdenlegionär (1999), Trouble Every Day (2001) oder Land in Aufruhr (2009).

Ein Film von CLAIRE DENIS mit ROBERT PATTINSON, JULIETTE BINOCHE, ANDRÉ BENJAMIN, MIA GOTH, AGATA BUZEK, LARS EIDINGER, CLAIRE TRAN, EWAN MITCHELL, GLORIA OBIANYO, JESSIE ROSS

Abdruck aus dem Presseheft