f Sunset 1Serie: Die anlaufenden Filme in deutschen Kinos vom 13. Juni 2019, Teil 7

László Nemes, Regisseur

Budapest (Weltexpresso) - Als Filmemacher interessiert es mich, wie die menschliche Seele (Subjektivität) und die kollektive Seele der Zivilisation sich begegnen können. Bei SUNSET habe ich versucht, eine Verbindung zwischen der Geschichte eines Individuums und dem Zustand der Welt, in der die Heldin existiert, zu finden.

Heutzutage wollen Filmemacher die Zuschauer in eine Richtung lenken, sie unaufhörlich in Sicherheit wiegen. Aber mein Ziel war es immer, neue Wege zu finden, wie ich dem Publikum eine subjektive Erfahrung von Ungewissheit und Zerbrechlichkeit vermitteln kann. Wie schon bei SON OF SAUL wollte ich dem Publikum keinen konventionellen Historienfilm präsentieren. Meiner Meinung nach können wir mehr erreichen, indem wir einen flüchtigen Eindruck von der Welt zeigen, aber nicht versuchen, sie vollständig sichtbar zu machen. Die Vorstellungskraft des Publikums tut dann schon den Rest.

Ich finde die Standardisierung von Film und Fernsehen zweifelhaft und ich bleibe entschlossen, neue Wege zu finden, Bilder und Geschichten zu erzählen. Dabei verlasse ich mich nicht auf Methoden, die eine Geschichte übererzählen und alles in einen übergeordneten Kontext bringen müssen. Das heißt auch, dass ich Risiken eingehe.

Ich habe das Gefühl, die Erfahrungen, die das Publikum heutzutage im Kino macht, werden zunehmend unbefriedigender. Filme werden, um ein leichteres Verständnis zu gewährleisten, auf eine industrialisierte Sprache reduziert, wobei die eigene innere Reise des Zuschauers komplett ignoriert wird. Filme weigern sich, dem Publikum zu vertrauen. Ich hab SUNSET auf eine Art inszeniert, die auf diejenigen seltsam wirken wird, die die gängige Filmpraxis begeistert annehmen. Aber ich wollte, dass die Zuschauer sich auch wieder auf das abenteuerliche Wesen von Film einlassen können.

„Weniger ist mehr“ – Unser visueller Ansatz beruht auf einer organischen räumlichen Planung, die durch die sich immer bewegende Kamera erreicht wird. Wenn wir in die Welt einer scheinbar naiven und unschuldigen Figur eintauchen, entdecken wir hoffentlich alles mit ihr auf eine organische Art und Weise. Die unberechenbare, subjektive Abfolge von Informationen verwandelt die Geschichte eines jungen Mädchens in eine dunklere Erzählung von Verfall und Niedergang.

In der Filmbranche verlässt man sich immer weniger auf reale Sets und greift immer öfter auf den Computer und visuelle Effekte zurück. Aber eigentlich finde ich, hat Kino mit der Magie von Physik, Optik und Chemie zu tun. Es handelt sich beim Film um einen Trick in der Wahrnehmung, von Licht und Dunkelheit. Wir entschieden uns daher, ein Set in einer echten Stadt zu bauen – Budapest. Wir verwendeten photochemisch belichteten und entwickelten Film sowie echte Effekte. Außerdem haben wir kompliziert choreographierte, lange Szenen gedreht, um SUNSET in einer körperlichen, den Naturgesetzen folgenden Welt zu verankern. Einer Welt, an die das Publikum glauben kann.

Dieser Film ist mein persönliches Zeugnis meiner Liebe zum Kino, fast ein Jahrhundert nach Murnaus hoffnungsvollem Film SUNRISE (SONNENAUFGANG – LIED VON ZWEI MENSCHEN, 1927) – einem Film, dem wir mit SUNSET unsere Ehrerbietung erweise. Ich hoffe, dass SUNSET auch etwas von den Fragestellungen, die SUNRISE verkörpert, in sich trägt.

Es kommt mir so vor, als befinden wir uns wieder am Beginn einer neuen filmischen Ära, aber einer, die nicht mehr so leidenschaftlich ist. Möglicherweise stehen wir wieder an einem Scheideweg, und die Versuchung könnte uns auf einen Weg führen, auf dem die Standards und Regeln des Filmemachens starrer sind als jemals und nicht mehr hinterfragt werden. Unsere bedingungslose Liebe zur digitalen Technologie und die gängige stromlinienförmige Dramaturgie bergen jedoch in sich das Risiko, dass die Magie und der nicht nachlassende Ideenreichtum des Kinos verloren gehen.“

FORTSETZUNG FOLGT

Foto:
Iris (Juli Jakab)
© Laokoon Filmgroup - Playtime Production 2018

Info:
Regie: László Nemes
Mit: Juli Jakab, Susanne Wuest, Vlad Ivanov, Evelin Dobos, Levente Molnár
Originaltitel: Napszállta
Land: Ungarn / Frankreich
Jahr: 2018
Genre: Drama
Laufzeit: 142 Min.
Sprachfassung: DtF / OmU
Format: DCP / Blu-ray
Kinostart: 13.06.2019
FSK: freigegeben ab 12 Jahren
Pressebetreuung: ana radica! Presse Organisation
Produktionsbudget: 8.900.000 €

LÁSZLÓ NEMES (REGISSEUR)

László Nemes wurde am 18.02.1977 in Budapest geboren. Sein Vater war der ungarische Filmregisseur András Jelis. Aufgewachsen ist Nemes überwiegend in Paris, wo er Geschichte und Politikwissenschaften studierte.

Ab 2005 begann Nemes bei verschiedenen Filmproduktionen mitzuwirken und entschied sich schließlich 2006, Regie in New York zu studieren. Nach einem Jahr brach er das Studium wieder ab. Danach arbeitete László Nemes als Regieassistent bei Béla Tarr und realisierte mit dem Regisseur den Film DER MANN AUS LONDON, in dem Tilda Swinton die Hauptrolle spielte.

Bald realisierte Nemes auch Kurzfilme. Sein Erstling TÜRELEM wurde 2007 im Wettbewerb der Internationalen Filmfestspiele in Venedig gezeigt und 2008 in der Kategorie „Bester Kurzfilm“ für den Europäischen Filmpreis nominiert. 2008 und 2010 veröffentlichte er die Kurzfilme THE COUNTERPART und THE GENTLEMAN TAKES HIS LEAVE. Seine drei Kurzfilme gewannen zusammen mehr als 30 Preise und liefen auf über 100 Filmfestivals.

2015 wagte sich László Nemes an sein Spielfilmdebüt. Mit SON OF SAUL, für den Nemes auch das Drehbuch schrieb, begeisterte er Kritiker weltweit. Der Film zeigt 36 Stunden im Leben eines jüdischen KZ-Häftlings (gespielt vom ungarischen Dichter Géza Röhrig) im Vernichtungslager in Auschwitz. Der Film lief nicht nur im Wettbewerb der Internationalen Filmfestspiele von Cannes und gewann dort den Großen Preis der Jury sowie den FIPRESCI-Preis. SON OF SAUL wurde auch mit einem Golden Globe® ausgezeichnet und gewann schließlich einen Oscar® in der Kategorie „Bester
fremdsprachiger Film“.

Abdruck aus dem Presseheft