Serie: Die anlaufenden Filme in deutschen Kinos vom 20. Juni 2019, Teil 8
Margarete Frühling
München (Weltexpresso) - Als Pierre Geithner (Lambert Wilson) auf dem Gare du Nord am dort stehenden frei zugänglichen Klavier vorbei geht, sieht und hört er einen jungen Mann klassische Musik spielen. Es ist der 20jährige Mathieu Malinski (Jules Benchetrit), der zusammen mit seiner Mutter und seinen Geschwistern in einer Banlieue wohnt.
Geithner ist der künstlerische Leiter des renommierten Conservatoire de musique de Paris und bittet den jungen Mann, ihn doch anzurufen, denn er würde ihn gerne für seine Einrichtung gewinnen. Doch dazu hat Mathieu keine Lust.
Er hatte allerdings seit er ein Junge war heimlich Klavierunterricht bei Monsieur Jacques (Michel Jonasz), einem Nachbarn, der ihm ein Vaterersatz war und der ihm nach seinem Tod sein Klavier hinterlassen hat. Das steht allerdings unbenutzt in der Wohnung, denn weder in seiner Familie noch in seinem sozialen Umfeld wird klassische Musik geschätzt.
Als Mathieu dann allerdings nach einem Einbruch zusammen mit seinen zwei Kumpels Kevin (Xavier Guelfi) und Driss (Samen Telesphore Teunou) als Einziger von der Polizei erwischt wird, setzt er sich doch mit Pierre Geithner in Verbindung. Der sorgt dafür, dass Mathieu nicht ins Gefängnis kommt, sondern 6 Monate lang Sozialstunden als Putzkraft am Konservatorium ableisten muss.
Doch Geithner verfolgt ganz andere Pläne mit dem jungen Mann. Er lässt ihn trotz Bedenken der anderen Professoren von der strengen Klavierlehrerin "die Gräfin" (Kristin Scott Thomas) unterrichten.
Mathieu hat eigentlich keine Lust, sich auf die harte Arbeit mit der Gräfin einzulassen. Denn obwohl er das absolute Gehör hat und auch Stücke sofort nachspielen kann, kann er erst einmal kein Gefühl in sein Klavierspiel hinein bringen. Außerdem fühlt er sich in der ihm unbekannten Welt unwohl. Doch dann trifft er auf Anna (Karidja Toure), die Cello am Konservatorium studiert und die beiden fangen an, sich füreinander zu interessieren.
Pierre ist aber so von dem Talent des jungen Mannes überzeugt, dass er ihn nicht nur zu einem der renommiertesten Klavierwettbewerbe der Welt anmeldet, bei dem schon seit Jahren kein Absolvent des Pariser Konservatorium mehr gewonnen hat, sondern er setzt sogar in einem Gespräch mit seinem Vorgesetzten André Ressigeac (Andre Marcon) seine gesamte Karriere aufs Spiel...
Hintergrund des hier besprochene Films ist den Roman von Gabriel Katz Der Klavierspieler vom Gare du Nord (2018), der im Juni 2019 auch in Deutsch beim S. Fischer Verlag erscheint.
Regisseur des Films ist Ludovic Bernard, der zusammen mit Johanne Bernard auch das Drehbuch geschrieben hat. Es ist ein Drama entstanden, das eine recht vertraute Geschichte vom jugendlichen Ausnahmetalent aus einem sozialen Brennpunkt erzählt, das nach einigen Irrungen und Wirrungen seine Bestimmung in der Kunst und den damit verbundenen sozialen Aufstieg findet.
In den letzten Jahren gab es schon eine Menge Filme, die ein ähnliches Thema ansprechen, sei es "Good Will Hunting" (1997), "Billy Elliot - I Will Dance" (2000) oder vor kurzem in "La Mélodie - Der Klang von Paris" (2017). In allen Filmen geht es nicht nur um den jungen Menschen, sondern auch um den Retter, denn durch ihre Beziehung zueinander können sich beide aus belastenden Situationen befreien.
Hier geht es also um einen jungen Mann, der eigentlich vom Klavier besessen ist, der aber immer wieder gesagt bekommt, dass es in seinem Milieu nicht gerade gerne gesehen wird, wenn man sich für klassische Musik interessiert, und einen Professor, der indem er versucht Mathieu zu fördern, auch seine eigenen Gespenster überwinden möchte.
Bernard hat mit Lambert Wilson als Pierre Geithner und Kristin Scott Thomas (mal wieder in einer französisch sprechenden Rolle) als Comtesse Buckingham zwei bekannte Schauspieler gewinnen können, die in der Lage sind, die Geheimnisse und Verletzlichkeiten ihrer Charaktere gut darzustellen. Denn nicht nur Pierre Geithner hat einen bestimmten Grund, weshalb er unter allen Umständen an Mathieu festhalten will, sondern auch die Gräfin hatte ihre Misserfolge in der Vergangenheit. Dies zeigt eine Szene, in der sie sich zusammen mit Mathieu eine Aufnahme ihres eigenen Wettbewerbsvortrags von 1981 ansieht.
Mathieu Malinski wird von dem 1998 geborenen Jules Benchetrit dargestellt. Er ist der Sohn des Regisseurs und Schauspielers Samuel Benchetrit und der 2003 verstorbenen Schauspielerin Marie Trintignant. Er ist damit auch ein Enkel des bekannten französischen Regisseurs Jean-Louis Trintignant.
Jules Benchetrit spielt Mathieu sehr gut allerdings auch sehr zurückhaltend. Manchmal hat man das Gefühl, dass der junge Mann nicht gerne etwas von sich preisgeben will und er auch nicht bereit ist, Wagnisse einzugehen.
Da der junge Schauspieler kein Pianist ist, hat er die wichtigsten Musikstücke des Films zusammen mit der Klavierlehrerin Jennifer Fichet erarbeitet, die auch die meisten verwendeten klassischen Musikstücke des Films einspielt.
Als Vorspielstück wurde für den Film Sergei Rachmaninovs Klavierkonzert Nr. 2 in c Moll, Opus 18 ausgewählt. Es ist ganz sicher reizvoll, Rachmaninovs Klavierkonzert in den Mittelpunkt dieses Films zu stellen, denn das verleiht dem Film einen einzigartigen Charme, auch wenn das Stück schon häufig in anderen Filmen verwendet wurde.
Insgesamt erzählt der Regisseur Ludovic Bernard eine nette aber nicht besonders überraschende Story über einen jungen Mann, der durch eine Spezialbegabung es schafft, aus seinem Milieu herauszukommen und der damit gleichzeitig seinem Förderer hilft, seine eigenen Probleme hinter sich zu lassen.
Der Film lebt von den guten Schauspielerleistungen vor allem von Lambert Wilson und Kristin Scott Thomas, die es schaffen, die Eigenarten und Verletzungen ihrer Charaktere langsam aufzuzeigen. Daneben gewinnt der Film auch durch die gelungene Auswahl klassischer Musik, von Rachmaninov über Liszt bis Brahms, die Stücke werden häufig glücklicherweise nicht nur kurz angespielt.
"Der Klavierspieler vom Gare du Nord" ist ein Sozialmärchen mit (Klavier-)Musik, das man sich gut ansehen kann, denn der Film mag zwar nicht sehr anspruchsvoll und auch vorhersehbar sein und hätte sicher auch mehr Potential haben können, aber er ist trotz aller Kritik immer noch sehenswerte Unterhaltung.
Foto: Mathieu Malinski (Jules Benchetrit) © Neue Visionen Filmverleih
Info:
Der Klavierspieler vom Gare du Nord (Frankreich 2018)
Originaltitel: Au Bout Des Doigts
Genre: Drama, Musik
Filmlänge: 106 Minuten
Regie: Ludovic Bernard
Drehbuch: Ludovic Bernard, Johanne Bernard nach dem gleichnamigen Roman von Gabriel Katz
Darsteller: Lambert Wilson, Kristin Scott Thomas, Jules Benchetrit u.a.
Verleih: Neue Visionen Filmverleih
FSK: ab 0 Jahren
Kinostart: 20.06.2019