Harrer links neben Hitler 2019Die Dokumentation zum ‚arischen‘ Ahnenerbe mit ‚Rassehygiene‘, Germanisierung und tödlichen Experimenten der NS-Herrschaft - auf Arte,  Teil 3/3
 
Heinz Markert

Frankfurt am Main (Weltexpresso) - Dass Himmler auf etwas derart Skurriles kommt, offenbart, dass er in einer Blase zu leben liebte. Der elektrische Super-Thors-Hammer sollte alle Kommunikationseinrichtungen der Aliierten mit einem Schlag zusammenbrechen lassen.

Wie soll es nun weitergehen?

Am 4. September fragt Wolfram Sievers schriftlich bei Himmler an, was mit den Leichen in Straßburg geschehen solle. Solle die Sammlung erhalten bleiben oder ganz oder zeitweilig aufgelöst werden? Himmler antwortet, dass ein Teil der Sammlung erhalten bleiben solle. Aber: es müsse Gewähr gegeben sein, dass eine völlige Auflösung rechtszeitig erfolgen könne – gemäß der Lage in Straßburg.
 
Der Film schließt daraus: Das zeige, dass den Nazis durchaus bewusst war, was sie getan hatten. Und dass sie wussten, dass die Entdeckung der Sammlung weltweite Empörung auslösen würde. Die Aliierten erreichen am 23. November Straßburg. Der Umbruch wird bejubelt, aber: die Funde in den Kellern der Universität sind grausig. Sie gleichen Erscheinungen wie aus einem Horrorfilm. Tanks sind voller Leichen und Leichenteile. Es finden sich 17 vollständige Leichen und hunderte von Körperteilen, Arme, Beine, offenbar von Assistenten angeschnittene Köpfe. Jedoch: von Himmler fehlt jede Spur. Er befindet sich im Strom der Millionenflüchtlinge.
 
Das ist paradigmenhaft für die Art und Weise, wie sich die Täter des NS-Staates aus dem Staub machten. Der deutsche Nachkriegsstaat wird sich unter dem Regiment Adenauers eifrig darum bemühen, die Millionen an Tätern in ihren Schlupflöchern zu belassen. Am 21. Mai wird Himmler bei Rothenburg-Wimme erkannt und festgenommen. Himmler hat 5 Millionen Tote am Stecken, das aber versucht er mit Wortspielen zu verkleinern. Doch er weiß um sein Tätersein. Er war der Architekt des Völkermordes. Nach einem Auszug aus einer britischen Wochenschau stehen „er und seine SS für das Böse schlechthin“. Es gelingt ihm, mit einer in einer Zahnlücke verborgenen Kalikapsel seinen Tod herbeizuführen. Nun wird auch von Himmlers Gesicht ein Abdruck genommen. Damit ist das Ahnenerbe Projekt beendet.
 
Am 30. April 1945 hatte sich Hitler das Leben genommen. Für die Ahnenerbe-Finsterlinge lautete das Gebot der Stunde: „Vernichtung der Archive, Flucht, Untertauchen“. Daraus wurde im darauffolgenden Staat eine Massenbewegung der Schergen und „Mitläufer“, wie der zuständige Ausdruck lautete. Am 7. Mai wird die Gesamtkapitulation Deutschlands in Reims mit Geltungsdatum 8.Mai 1945 unterzeichnet. Die sistierten Führungspersonen des sog. Dritten Reiches lassen sich widerstandslos festnehmen.

 
Welch dubioses Bindeglied verknüpfte das nazistische Ahnenerbe eigentlich mit der auf Achtsamkeit mit dem Leben bedachten Kultur der Tibeter?
 
Dieses Selbstmissverständnis wird auf immer ein Geheimnis bleiben. Vielleicht könnte Heinrich Harrer, Bergsteiger und Tibet-Forschungsreisender, hierzu eine hinkende Erklärung liefern, wenn er noch lebte. Im November 1945 beginnt der erste Nürnberger Kriegsverbrecherprozess. Die Haupttäter stehen vor Gericht. Der Film zeigt wie einer nach dem andern sich für „nichtschuldig“ erklärt.
 
Im Dezember 1946 müssen sich 23 Ärzte und führende Verwaltungsfachleute als Vertreter der staatlichen medizinischen Dienste Deutschlands im Nürnberger Ärzteprozess verantworten. Der Amerikaner Telford Taylor bezieht sich in seinem Eröffnungsplädoyer auf eine besondere Charakteristik der Angeklagten und stellt fest: „Das ist nicht lediglich ein Mordprozess“. Er konstatiert eine „Normalität und Schlichtheit der gebildeten Angeklagten“, die zu mörderischen Praktiken fähig waren, obwohl ihr sichtliches Auftreten auf keine niederen Beweggründe schließen lässt.

 
„Aber viele andere fehlen“
 
Der Arzt von Dachau, Sigmund Rascher, wurde auf Befehl Himmlers kurz vor der Befreiung Dachaus erschossen, er wird wegen seiner geplant tödlichen Menschenversuche vom Gericht des Nürnberger Ärzteprozesses als unmenschlich und verbrecherisch klassifiziert. Er gilt als Prototyp des NS-Medizinverbrechers. August Hirt, der Skeletteur von Straßburg, hat sich kurz nach Kriegsende erschossen. Das einzige Mitglied des Ahnenerbes, das in Nürnberg angeklagt wird, ist Wolfram Sievers, der Geschäfstführer. Er wird vom Militärgericht 1 der Verbrechen gegen die Menschlichkeit und der Zugehörigkeit zu einer kriminellen Organisation – gemäß dem Urteil des internationalen Militärgerichts - für schuldig befunden. Der Spruch lautete: „Das Militärgericht 1 verurteilt Sie, Wolfram Sievers, zum Tod durch den Strang. Möge Gott Ihrer Seele gnädig sein“.

 
„Es war ein intellektueller Amoklauf“
 
Zwischen 1933 und 1945 haben die Experimente der Nazi-Ärzte fast 100 000 Opfer gefordert. Der Film folgert: „Wissenschaftlicher Größenwahn verband sich mit den niedersten Instinkten“. – „Die Aktivitäten des Ahnenerbes waren nichts anderes als eine großangelegte Fälschung der Geschichte, mit der die Welt davon überzeugt werden sollte, das deutsche Volk sei zum vermeintlichen Herrenmenschentum bestimmt“. Am Ende sei auch der Ruf der deutschen Wissenschaft auf der Strecke geblieben.
 
Der Film bietet ab Min. 1:28 Kommentatoren auf, die das Versagen der wissenschaftlichen Eliten in Worte zu fassen versuchen. Das Deutschland der Jahre 1900 bis 1930 sei mit Max Planck, Einstein und Heisenberg wissenschaftlich führend gewesen. Ab 1945 seien in den USA, in Princeton, Stanford, die maßgeblichen Fortschritte in der Physik erreicht worden. Die Nazis aber seien die gewesen, die die Güte und Vorherrschaft in den deutschen Wissenschaften zunichte gemacht hätten. Der maßgebliche Teil der Wissenschaftler wurde vertrieben und der Rest habe sich willig in den Dienst der NS-Weltanschauung gestellt.
 
Am Ende steht die brennende Frage: „Wie können Sie mit dieser Haltung etwas erreichen? – Wenn Sie Rassismus mit objektivem Materialismus vermischen?“ – Das sei einer der Gründe, dass die Deutschen nie eine Atombombe entwickeln konnten – weil sie nicht die richtigen Leute hatten. Sie haben die fähigen jüdischen Physiker hinausgeworfen und hatten „nur noch ein paar sog. arische Wissenschaftler, die vielleicht mehr oder weniger gut waren, die es aber einfach nicht hinbekamen“. Das eben zeige die Auswirkung von Ideologie.

 
Unmittelbare Täter waren den Aliierten von Interesse, die anderen kamen glimpflich davon
 
Wo doch die Archäologen „Grenzen des sog. Reiches neu gezeichnet haben“, Biologen und Anthropologen „über das Thema Rasse promovierten“, Juristen „Plünderungen und Massenmord gerechtfertigt haben“. In den Augen ihrer Richter hätten sie kein Blut an den Händen gehabt, unter den vielen ganz offensichtlichen Verbrechern. Die ‚Minderbelasteten‘ konnten, um sich reinzuwaschen, „auf willige Helfer im akademischen Milieu zählen“.

Die Aliierten gaben sich mit der lauen Art einer Entnazifizierung zufrieden. Es wurde üblich, sich einander Persilscheine auszustellen, nach dem Motto: „Du sagst, ich hätte nichts mit der SS zu tun gehabt [...] und wenn Du an der Reihe bist, sage ich über Dich dasselbe“.
 
Das Wort der Stunde war: Wiederaufbau
 
Unter diesem Rubrum gestaltete sich die Verharmlosung und das Herunterspielen der nationalsozialistischen Täterkultur im Nachkriegsdeutschland. Fast jeder Spätgeborene erinnert sich an Versuche Älterer, sich reinzuwaschen oder sich komplett zu rechtfertigen. Der Wiederaufbau sollte nicht in ein schiefes Licht geraten. Es sollte stracks nach vorn geblickt werden. Das Gerede, dass alte Eliten für den Wiederaufbau gebraucht werden, um Krankenhäuser zu leiten, eine Stadt im Bürgermeisteramt zu verwalten und dass altgediente Juristen eine Bürokratie zum Funktionieren bringen müssten, war ein Standard, mit dem noch heute ausgiebig operiert wird, um schlechte Verhältnisse zu zementieren und als ewig gültig abzusegnen.


Auch in die Universitäten wurden die alten Nazis wiedereingegliedert
 
Hierzu wurde für den Film ein Peter Schöttler ausgemacht, der 1968 zu studieren angefangen hatte und mit einem Soziologieprofessor konfrontiert wurde, der unter den Nazis promoviert und habilitiert hatte und jetzt, in den Sechziger Jahren, sich als Berater der griechischen Militärjunta betätigt. Dieser Professor wurde boykottiert. Oft hätten diese Professoren ihre Schriften aus den Bibliotheken entfernt und aus ihren Biographien seien die frühen Schriften getilgt worden. „Danach veränderte sich vieles, aber noch in den Siebziger Jahren saßen diese Professoren noch auf ihren Lehrstühlen“.

Foto:
Harrer links neben Hitler © Angelofjustice.org   

Info:
https://www.arte.tv/de/videos/080962-000-A/blut-und-boden-nazi-wissenschaft/


Die Teile der Serie in WELTEXPRESSO

1. Nationalsozialismus ist Ur-Fake - Folge: tödliche NS-Wissenschaft und Arier-Humbug
https://weltexpresso.de/index.php/kino/16327-nationalsozialismus-ist-ur-fake-folge-toedliche-ns-wissenschaft-und-arier-humbug
2. Wissenschaftliche Forschungen und Erkenntnisse, die den Tod der Experimentierobjekte einpreisten
https://weltexpresso.de/index.php/kino/16328-wissenschaftliche-forschungen-und-erkenntnisse-die-den-tod-der-experimentierobjekte-einpreisten