f morlaische4Serie: Die anlaufenden Filme in deutschen Kinos vom 20. Juni 2019, Teil 12

Corinne Elsesser

Frankfurt am Main (Weltexpresso) - Auf einer nächtlichen Heimfahrt wird der Pathologe Dr. Kaveh Nariman (Amir Agha'ee) von einem Auto gestreift. Als er versucht auszuweichen, rammt er ein ohne Licht am Strassenrand fahrendes Motorrad, auf dem eine vierköpfige Familie unterwegs ist. Der achtjährige Sohn Amir Ali ist leicht verletzt und klagt über Kopfschmerzen. Der Arzt bietet an, ihn in ein nahegelegenes Krankenhaus zu bringen, doch der Vater Moosa (Navid Mohammadzadeh) lehnt jede Hilfe ab und besteht darauf, sein Motorrad an Ort und Stelle zu reparieren.

Am nächsten Morgen wird der Leichnam des kleinen Jungen wegen unklarer Todesursache in die Pathologie eingeliefert. Dr. Nariman erkennt den kleinen Amir Ali und fragt sich, ob möglicherweise der Unfall seinen Tod ausgelöst haben könnte. Seiner Kollegin Dr. Sayeh Behbahani (Hediyeh Tehrani) teilt er seine Vermutung zunächst nicht mit, auch dann nicht, als eine Lebensmittelvergiftung festgestellt wird. Dr. Nariman entschliesst sich, seinen Zweifeln  nachzugehen, auch wenn er sich damit selbst belasten könnte.
Diese "moralische Entscheidung" des Arztes bildet den Ausgangspunkt der Filmerzählung, die Beweggründe bleiben jedoch unklar. Dr. Nariman kontaktiert die Familie und muss mitansehen, wie das Obduktionsergebnis einen Ehestreit auslöst und die Frau ihren Mann zu verlassen droht. Dieser seinerseits zieht wie wild zum Schlachthof, an dem er zuvor zwei Hühner gekauft hatte, was unter der Hand geschehen war und nicht offen reklamiert werden kann. Die Auseinandersetzung artet in einer Schlägerei mit brutalen Folgen aus. Währenddessen beantragt Dr. Nariman in der Klinik eine zweite Leichenschau. Da ist der Junge schon längst begraben und sein Vater sitzt wegen Mordes im Gefängnis. Die erneute Obduktion übernimmt der Arzt nun selbst, aber sehr zögerlich. Als seine Kollegin auf dem Nachhauseweg nachfragt, ob seine Vermutung bestätigt wurde, reagiert er nur vage und bleibt eine Antwort schuldig.

Mit seinem zweiten Spielfilm stellt sich der aus Teheran gebürtige Regisseur Vahid Jalilvand ganz in die Tradition des neueren iranischen Kinos von Asghar Farhadi ("Nader und Simin - Eine Trennung", "Le Passé") oder Jafar Panahi ("Taxi Teheran", "Drei Gesichter"), sucht allerdings nach eigenen Wegen. Wie in den Filmen Panahis wird das Auto zu einem abgeschirmten Raum, an dem man unbeschadet reden kann. Jalilvand lässt jedoch die Gespräche im Ungewissen. Vieles bleibt auch im Schutzraum des Autos undeutlich und geheimnisvoll und lässt den Zuschauer mit Fragen zurück. Werden die Gegensätze zwischen Arm und Reich bei Asghar Farhadi über deren Religiosität definiert, welche die Gesellschaft spaltet und damit politisch wirkt, bleibt Jalilvand bemerkenswert unpolitisch. Begegnungen mit staatlichen Institutionen, Polizisten, Richtern oder der Krankenhausverwaltung, siedelt er am Rande an und bleibt stattdessen nahe an den Personen, um deren Nöte und Probleme und vor allem um deren Entscheidungen er kreist. Auf diese Weise ermöglicht Jalilvand ebenso prägnante Einblicke in die krassen gesellschaftlichen Unterschiede.

Für den angesehenen Arzt Dr. Nariman wird die Suche nach Wahrheit und Schuld zunehmend obsessiv. Er wirkt verstockt, gibt wenig von sich preis. Warum er das alles auf sich nimmt und sogar bereit ist, seinen Beruf aufs Spiel zu setzen, lässt sich nur vermuten. Moosa, dessen Familie unter dem Existenzminimum lebt, hat mit dem Tod des Sohnes nicht nur seine Rolle als Familienvater und seine Glaubwürdigkeit, diese ernähren zu können, verspielt. Er hat vor allem sein Gesicht verloren und fühlt sich in die Enge gedrängt. Verzweifelt und aggressiv versucht er, einen Schuldigen an seiner Misere ausfindig zu machen. Navid Mohammadzadeh spielt diese Rolle überzeugend und ausdrucksstark, wofür er am Filmfest von Venedig als bester Nebendarsteller ausgezeichnet wurde.

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