f leopardDas 72. Filmfestival Locarno, Teil 2

Kirsten Liese

Locarno (Weltexpresso) -Jedenfalls handelte es sich beim Gros der um den Goldenen Leoparden konkurrierenden Beiträge um Meditationen, Kontemplationen, Stimmungsbilder, Studien oder Zustandsbeschreibungen, darunter wenig Herausragendes. Das gilt auch für das zum besten Film gekürte, von der Kritik hochgejubelte, aber doch etwas überschätzte portugiesische Werk „Vitalina Varela“.

30 Jahre lang musste die Titelheldin aus den Kapverden, die sich quasi selbst spielt und den weiblichen Darstellerpreis gewann, auf ein Flugticket warten. Nun erreicht sie endlich den Flughafen in Lissabon, jedoch zu spät, um ihren bereits beerdigten Ehemann noch einmal zu sehen. In der armseligen Behausung des Verstorbenen, die als einziges Vermächtnis zurückbleibt, bevölkert von verwahrlosten Männern, die sich kein besseres Dach über dem Kopf leisten können, vermag sich die Trauernde nicht einzurichten. Umso tiefer taucht der Film in finstere Räume und Leben. - Keine Frage, mit bedrückenden Impressionen von der tristen Existenz in einer heruntergekommenen Favela bietet Regisseur Pedro Costa  eindrucksvolle Filmkunst. Jedoch wirken die langen, ereignislosen Einstellungen und die permanent dunkle Ausleuchtung auf Dauer auch ermüdend.

Dagegen entfaltete der ebenso auf wenige Räume reduzierte französische Beitrag „Les enfants d’Isadora“ (Preis für die beste Regie) in vergleichbarer Langsamkeit eine weitaus größere emotionale Sogkraft. Dies vor allem kraft der zärtlichen, schwermütigen, genialen Musik, einer Klavieretüde von Skriabin. Wenige Jahre vor Ausbruch des Ersten Weltkriegs hatte Isadora Duncan (1877-1927), die US-amerikanische Pionierin des Ausdruckstanzes,  zu diesen Klängen die Choreographie „Die Mutter“ entworfen, inspiriert von ihrer tiefen Trauer um ihre Kinder, die sie tragisch bei einem Autounfall verloren hatte. Das imaginierte zärtliche Wiegen und Streicheln eines Kindes und das schmerzhafte Loslassen desselben bilden den Kern der minimalistischen Bewegungsstudie im heutigen Frankreich. Vier unterschiedliche Frauen– eine junge Profitänzerin,  ein Mädchen mit Down-Syndrom, deren Lehrerin und eine alte Schwarzafrikanerin – nähern sich ihr an. Über ihre unterschiedlichen Biografien vermittelt sich das Universelle der Studie, macht Regisseur Damien Manivel, selbst ursprünglich Tänzer, sichtbar, wie durchlässig die Kunstform ist und wie berührend sich das auf der Leinwand einfangen lässt. Auch ohne eine klassische Handlung war das ganz großes Kino.

Foto:
Vitalina Varela, Hauptdarstellerin, nach deren Namen auch der Film so heißt
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