Roberto Saviano (Drehbuch und Produzent)
Rom (Weltexpresso) - Aus welchem Blickwinkel betrachten wir die Welt, die uns umgibt? Welches sind unsere Ängste? Was möchten wir verändern? Die eigene Sicht auf die Welt, die uns umgibt, wird unvermeidlich zum Kern dessen, was daraus entwächst. Und wenn der Beruf wie in meinem Fall das Schreiben ist, werden die eigenen Erzählungen von dem Wunsch geprägt sein, das, was wir um uns herum sehen und für falsch halten, durch Worte zu verändern.
Als ich als junger Mensch mit dem Schreiben begann, schickte ich meine Geschichten einem italienischen Intellektuellen, den ich sehr verehrte. Ich schickte sie in gedruckter Form, als Brief. Und er antwortete mir mit einem Brief, den ich aufbewahrt habe: „Du schreibst gut, aber du schreibst über läppischen Mist. Ich habe deine Adresse gesehen – mach das Fenster auf, schau auf die Straße und kommentiere das, was du da draußen siehst.“ Das tat ich und fing an, über das organisierte Verbrechen zu schreiben. Aber nicht, weil es das Einzige war, was ich beim Blick aus dem Fenster sah - sondern weil es vielleicht das Einzige war, was man nicht mit bloßem Augen sehen konnte, was aber trotzdem jeden Bereich des Lebens durchdrang – und nicht nur das Leben der Menschen, die in bestimmten Provinzen in Süditalien leben.
Ich war sicherlich nicht der erste, der das Thema Kriminalität in seinen Texten beleuchtetet - aber mein Blick darauf war definitiv neu, weil ich versuchte, nicht bloß Berichterstatter zu sein, nicht steril und neutral zu beschreiben, sondern mit einer gewissen Empathie die Geschichten von Gegenden zu erzählen, die sehr unter der Macht der Camorra-Clans und ihrer Bossen leiden. Dabei handelt es sich um Menschen, die nicht anders waren und sind, als wir. Es ging darum, zu verstehen, dass man das organisierte Verbrechen nicht nur an Pistolen und dem Gerede über die eigene Ehre festmachen kann - sondern vor allem am Geld, am Geld und nochmals am Geld.
Plötzlich beschuldigte man mich, mit meinen Büchern meine eigene Heimat und außerdem noch Norditalien, Spanien, Frankreich und Deutschland in den Schmutz zu ziehen. Der Verantwortliche ist nämlich nie derjenige, der das Feuer legt, sondern der, der es löscht und dadurch die Ruinen sichtbar macht, die das Feuer hinterlässt.
In diesem Klima des Hasses entstand mein Roman Der Clan der Kinder. Ich schrieb ihn inmitten einer Umgebung, in der man trotz der Gewalt auf den Straßen, trotz vieler Morde, Verhaftungen und Gerichtsurteile nicht zugeben wollte, dass das Alter der Mitglieder der Camorra-Clans in den Gassen Neapels dramatisch gesunken war. Die alten Familienstrukturen wurden durch eine neue, junge Generation, die sich im Bereich der organisierten Kriminalität bewegte, an den Rand gedrängt. Und die hatten nur ein Ziel: Schnell zu viel Geld kommen, damit sie über die Stadt herrschen konnten. Um an dieses Geld und die damit verbundene Macht zu gelangen, war ihnen jedes Mittel recht.
Betrachtet man das, was derzeit geschieht, aus der Nähe, wird der banale logische Schluss, dass du als Sohn eines Camorra-Mitglieds selbst zum Camorrista wirst, heute hinfällig. Wie sehr manch einer sich auch wünschen mag, eine klare Trennlinie zwischen Gut und Böse ziehen zu können – die jungen Menschen, die unerklärlich grausame Taten begehen, entstammen heute meistens nicht kriminellen Familien. Oft entsteht Gewalt ohne jedes Ziel, ohne jeden Zweck. Sie ist die Antwort auf eine beinah vollkommene Leere, die nicht nur fühlbar, sondern greifbar ist. Es gibt kein gesellschaftliches Ordnungssystem mehr und niemand setzt sich ernsthaft damit auseinander, in welche Richtung sich diese Jugendlichen gerade hinbewegen. Es gibt keinen Staat mehr in irgendeiner Form, wie wir ihn kennen - denn Verhaftungen und Repressalien allein sind keine Lösungen, keine Prävention. Was das bedeutet? Erst lernen die Jugendlichen nichts in der Schule, dann hängen sie auf der Straße herum, tun nichts und erlebt dort, wie einsam und perspektivlos das Leben sein kann. Hier müssten wir anfangen und uns um diese jungen Menschen kümmern. Wenn wir ein Phänomen wie das der kriminellen Jugendbanden eindämmen wollen, müssen wir damit beginnen, uns mit den jungen Menschen zu unterhalten und ihre Probleme ernst zu nehmen, um ein Gespür für ihre Sorgen und Bedürfnisse zu bekommen.
Wo Erziehungsansätze auf fruchtbaren Boden fallen, kann auf Gewalt verzichtet werden. Wo es an Bildung fehlt, entsteht Gewalt. In einer konstruktiven Diskussion über diese Probleme dürfte nie von Nachahmung, von sichtbarer Gewalt, die neue Gewalt erzeugt, die Rede sein. Nicht, weil es keine Nachahmung dieser Gewalt gäbe, sondern weil Verbote und Zensur keine Lösungen sind. Wisst ihr, was es bedeutet, Inhalte zu zensieren? Wer das tut, der sagt: „Wir denken, dass einige von euch unfähig sind, zu unterscheiden, was gut ist und was nicht. Also ist es besser, wenn ihr keinen Zugang zu bestimmten Inhalten habt. Denn wenn ihr Prostituierte im Fernsehen seht, fangt ihr an, auf den Strich zu gehen und wenn ihr Kriminelle im Kino seht, werdet ihr kriminell. Ihr dürft das nicht sehen, ihr dürft das nicht kennenlernen. Ihr dürft kein Wissen haben, denn wenn man es euch zur Verfügung stellt, gebraucht ihr es schlecht.“ Doch wer sind diese Zensoren, dass sie entscheiden können, was gezeigt und was verboten wird?
Claudio Giovannesi, Maurizio Braucci und ich haben uns bei der Filmadaption meines Buchs von der Geschichte des Stadtviertels in Neapel und den jungen Menschen, die dieses Viertel bewohnen, inspirieren lassen. PARANZA – DER CLAN DER KINDER ist ein Film darüber geworden, wie die Jugendlichen in ihrem Viertel leben, was sie am eigenen Leib erfahren, wie sie sich gegenseitig Schmerzen zufügen und dabei selbst verletzt werden. Wie sie plötzlich in etwas hineingeraten, das ihre Familien und sie gar nicht betrifft. Aber es betrifft uns alle, die erkennen müssen, dass es einen Riss in unserer Gesellschaft gibt. Auf diesen wollen wir aufmerksam machen, damit wir gemeinsam einen Weg finden, ihn zu kitten, anstatt aus Schamgefühl nicht darüber zu sprechen.
In Giovannesis Film Fiore hat mich der Blick auf die jungen Menschen und ihre eigene Unsicherheit beeindruckt. Es ist weniger eine materielle Unsicherheit, als eine Unsicherheit der Gefühle. Eine Unfähigkeit, sich eine Zukunft vorzustellen. Es kam darauf an, zu zeigen, dass die jungen Bandenmitglieder nicht vorrangig kriminell, sondern in erster Linie Jugendliche sind. Als Folge ihrer Entscheidung für das organisierte Verbrechen hören sie auf, Kinder und Jugendliche zu sein. Das will niemand wirklich verstehen - weder ihre Familien noch die Gemeinschaft, der sie angehören. Und erst recht nicht die Zivilgesellschaft, die das Leben dieser Jungen als Kollateralschaden eines Staates ad acta legt, der nicht alles kontrollieren kann. Aber diese Jungen sind Opfer und Täter zugleich. Maurizio Braucci hat mir für meine Analyse Fakten zur Jugendkriminalität geliefert. Er war das Bindeglied zwischen Claudio Giovannesi und mir: Zwischen meiner Art und Weise, die Jugendbanden der Camorra zu beschreiben, und Claudios gefühlsmäßiger Nähe zu der Welt der Jugendlichen. Das machte unsere Arbeit an dem Film PARANZA – DER CLAN DER KINDER aus. Wir wollten nicht nur auf die Dynamiken aufmerksam machen, durch die Kriminalität entsteht, sondern den Blick vor allem das komplexe Universum der Jugendkriminalität lenken. Und Neapel? Neapel fungiert wieder einmal als Versuchslabor unter freiem Himmel. Als Wunde, die erkannt werden muss, wenn man verstehen will, was genau in diesem Moment unter den Jugendlichen an den Randgebieten in Berlin, Paris, London, Johannesburg, New York und Mexiko-Stadt passiert.
FORTSETZUNG FOLGT
Foto:
© Verleih
Info;
BESETZUNG
Francesco Di Napoli Nicola
Ar Tem Tyson
Viviana Aprea Letizia
Alfredo Turitto Biscottino
Valentina Vannino Nicola’s Mutter
Pasquale Marotta Agostino
Luca Nacarlo Cristian
Carmine Pizzo Limone
Ciro Pellecchia Lollipop
Ciro Vecchione ‘O Russ
Mattia Piano Del Balzo Briatò
Aniello Arena . Lino Sarnataro
Roberto Carrano Carminiello
Adam Jendoubi Aucelluzzo
Renato Carpentieri Don Vittorio
REGIE
Claudio Giovannesi
DREHBUCH
Roberto Saviano, Claudio Giovannesi, Maurizio Braucci
Kritik zur Berlinale:
https://weltexpresso.de/index.php/kino/15191-la-paranza-dei-bambini-piranhas
https://weltexpresso.de/index.php/kino/15191-la-paranza-dei-bambini-piranhas