Bildschirmfoto 2019 09 21 um 02.41.04Serie: Die anlaufenden Filme in deutschen Kinos vom 19. September 2019, Teil 15

Thomas Moritz Helm

Berlin (Weltexpresso) - Wie bist Du auf die Idee zu HEUTE ODER MORGEN gekommen und wie hast Du den Stoff entwickelt?

Ich lebe seit fast 20 Jahren in Berlin, die meiste Zeit davon in Neukölln/Kreuzberg. Als ich 2014 für ein paar Wochen das Penthouse von Freunden am Paul-Lincke- Ufer gehütet habe, bekam ich Lust, ein Drehbuch über die junge Generation im Kiez – also quasi meine Folgegene- ration – zu schreiben. Ich hatte damals das Gefühl, dass die international stark durchmischte Szene aus jungen Akademikern und Start-up-Leuten in vielerlei Hinsicht freier, mutiger und vielleicht auch „weiter“ ist als ich das mit Anfang 20 war. Aber auch widersprüchlicher, und das hat mich interessiert. Also habe ich angefangen zu recherchieren. Bei der Entwicklung der Geschichte hat sich dann ziemlich schnell herausgestellt, dass vor allem das Umschiffen von Klischees und Stereotypen wichtig ist. Denn irgendwie erwartet fast jeder bei einem Film über junge Menschen in Berlin eine Ode an die Freihei- ten, die mit der Stadt verbunden werden, wilde Partys, tätowierte und maximal modisch gekleidete und gestylte Protagonisten etc. Mein Ansatz war es, diese vermeint- lichen Erwartungen der Zuschauer an einen typischen „Berlin-Film“ zu unterlaufen und die Geschichte in erster Linie ganz nah an den Figuren zu erzählen. Was passiert, wenn ein Paar sich zur freien Liebe bekennt, dann aber Vorstellung und Praxis immer wieder auseinander driften und durch individuelle Wünsche, Egoismen und Verfeh- lungen Wunden entstehen?


Magst du noch etwas zur Entstehungsgeschichte des Films erzählen?

Nachdem im Jahr 2016 in letzter Minute die Senderbe- teiligung und somit die Förderung für den Film wegbrach, habe ich mich entschieden, die Finanzierung des Projekts in die eigene Hand zu nehmen. Ich habe angefangen, mein Erspartes zusammenzukratzen, Freunde nach Geld zu fra- gen und den Film auf Basis eines Micro-Budget Films – ein bisschen wie bei einem Dokumentarfilm – mit Mini-Team und ohne aufwendige Technik nochmal neu zu denken. Ich hatte dann das Glück, dass meine Freunde mir ihr Pent- house als Drehort und die direkt angrenzende Gästewohnung als Produktionsbüro/Aufenthalt/Techniklager für 8 Wochen zur Verfügung gestellt haben. Davon ausgehend war es dann möglich, den Ablauf so zu strukturieren, dass wir alle Beteiligten (nach sozialistischem Vorbild) in glei- cher Höhe auf Mindestlohnbasis bezahlen konnten und trotzdem noch genug Geld für Essen und ein paar Requisi- ten übrig hatten. An den Stellen, an denen uns das nötige Budget gefehlt hat, und das war eigentlich überall der Fall, haben wir versucht, aus der Not eine Tugend zu machen: Mit der Szenografin haben wir Drehorte in nächster Nähe gesucht, die man weitgehend so nehmen konnte, wie sie waren. Die Kostümbildnerin hat die Klamotten im wahrs- ten Sinne des Wortes „auf der Straße gefunden“ oder Second Hand gekauft. Unser Kameramann hat selbst die Schärfe gezogen und hauptsächlich mit natürlichem Licht gedreht. Der Tonmann hat ohne Assistent gearbeitet, und wir halfen ihm, indem wir „ruhige“ Motive ausgesucht haben, etc. Ich will diesen Arbeitsprozess nicht romanti- sieren, dafür war er wirklich zu kräftezehrend, weil man fehlendes Budget ja nur durch zusätzlichen Zeitaufwand kompensieren kann. Aber im Nachhinein bin ich schon ziemlich stolz darauf, dass wir das alles mit viel Mut, Engagement und gemeinschaftlicher kreativer Energie geschafft haben.


Alle drei Hauptdarsteller*innen feiern in HEUTE ODER MORGEN ihr Debüt in einem Kinofilm. Wie hast Du sie gefunden?

Die Auswahl der Hauptdarsteller war ein ganz zentraler Punkt bei der Konzeption des Films. Da ich ganz nah an den Figuren erzählen wollte, war insbesondere die Konstellation der Hauptdarsteller zueinander von zentraler Bedeutung. Zunächst allein und dann zusammen mit meiner Casterin Lisa Stutzky habe ich über zwei Jahre nach den passenden Schauspielern gesucht. Wir haben uns Absolventen-Jahr- gänge angesehen, zig Leute zum Kaffee getroffen und viele Runden Casting gemacht. Lisa hat dann irgendwann Paula Knüpling vorgeschlagen, der Rest ist Geschichte. Maximi- lian Hildebrandt haben wir auf dem Absolventenvorspre- chen im Deutschen Theater gesehen und Tala Gouveia kam relativ spät dazu, nachdem wir gefühlt bereits in ganz Skandinavien gesucht hatten. Gefunden haben wir sie auf einer britischen Casting-Website. Wichtig war vor allem die Chemie zwischen den dreien.


Der Film ist komplett on location gedreht, die Szenen wirken ungemein authentisch. Habt Ihr auch viel improvisiert?

Improvisiert haben wir so gut wie gar nicht. Aber zusammen mit den Schauspielern habe ich im Vorfeld und auch beim Dreh sehr intensiv und detailliert an einer „natürlichen“ Ausdrucksweise gearbeitet. Ich finde, dieser Aspekt wird im deutschen Film oft etwas stiefmütterlich behandelt, wodurch sich bei mir als Zuschauer dann gerne ein unfreiwilliger Verfremdungs-Effekt einstellt. Das wollte ich vermeiden. Außerdem bin ich ein Anhänger der Sanford- Meisner-Technik, in der ja das „Im-Moment-Sein“ und die „Glaubwürdigkeit“ des Schauspielers ein ganz zentraler Punkt ist. Bei den Leseproben sind wir zunächst das ganze Buch durchgegangen und haben überprüft, ob die Texte so stimmen – inhaltlich, aber auch, ob die Schauspieler das überhaupt so sagen können, ohne dass es unauthentisch klingt. Wo das nicht der Fall war, haben wir Anpassungen im Skript vorgenommen.


Wie würdest Du die Dynamik zwischen den Darsteller*innen am Set beschreiben, insbesondere bei den intimen oder auch den körperlichen Szenen?

Ich finde man sieht sofort, ob Schauspieler in einer intimen Szene gerne miteinander spielen, oder ob ihnen das kei- nen Spaß macht. Durch den recht langen Casting-Prozess kannten sich die drei Hauptdarsteller schon recht gut, was sicher auch geholfen hat, sich gegenseitig wahrzuneh- men, authentisch aufeinander zu reagieren, gemeinsam zu agieren. Was die Darstellung von Sexualität im Film angeht, so sollte sie als etwas lustvolles, zuweilen auch Lustiges gezeigt werden – frei von falscher Scham, vor allem aber als etwas ganz Normales. Weil keiner von uns Erfahrungen mit dem Dreh von Sexszenen hatte, haben wir uns erstmal ganz vorsichtig herangetastet. Wir haben im Vorfeld detailliert über die Grenzen und No-Go’s jedes einzelnen geredet, und die Schauspieler durften jederzeit ins Material schauen und hatten sozusagen ein Vetorecht. Explizite Szenen wollte ich ohnehin nicht – einfach auch, weil ein erigierter Penis in Zeiten der mobilen Internetpor- nografie inflationär und an sich ja nichts Besonderes mehr ist. Viel spannender und wirkungsvoller empfinde ich die Vorenthaltung der Abbildung und im Gegenzug die Illust- ration auf der Tonebene. Die Bilder, die dadurch im Kopf der Zuschauer entstehen, sind so hoffentlich intensiver und tiefgehender als es ein tatsächliches Bild sein kann.

Foto:
©

Info:
Heute oder morgen
ein Film von Thomas Moritz Helm
DE 2019, 93 Minuten,
deutsch-englische OF, teilweise mit deutschen UT

Darsteller
PaulaKnüpling                Maria
MaximilianHildebrandt    Niels
TalaGouveia.                   Chloe