Bildschirmfoto 2019 09 21 um 00.22.09Serie: Die anlaufenden Filme in deutschen Kinos vom 19. September 2019, Teil 16

Thomas Moritz Helm 

Berlin (Weltexpresso) - Berlin spielt als Ort der Möglichkeiten eine zentrale Rolle. Was bedeutet die Stadt für Dich – als Filmkulisse, für die Geschichte und auch ganz persönlich?

Als ich damals nach Berlin gekommen bin, war das für mich die totale Freiheit. Hier kannte mich niemand und ich konnte – sofern ich wollte – mich jeden Tag neu erfinden. Außerdem waren Wohnungen und auch die Lebenserhaltungskosten extrem niedrig. Meine erste Wohnung hat 200 D-Mark gekostet, warm inkl. Heizung, und mein „Lieblingsrestaurant“ hat Döner plus Ayran für 1,50 verkauft. Wenn man keine Lust drauf hatte, hat man eben mal ein paar Monate nicht gejobbt, hat nur gelesen, Filme geguckt und sich abends auf verrauchten Kellerpartys mit Pfandsammeln einen schönen Abend gemacht.

Der Mythos Berlin zehrt heute in gewisser Weise immer noch von dieser Zeit, obwohl das mit der Lebensrealität nur noch wenig zu tun hat. Heute können sich Studenten ein Leben in einem „Szenekiez“ von ihrem Bafög kaum noch leisten. Insofern war es mir wichtig, dass der Film auf diesen Wandel, der natürlich auch viel mit der vielbeschworenen Gentrifizierung zu tun hat, Bezug nimmt: Das Penthouse, in dem die beiden Hauptfiguren wohnen, gehört einem reichen IT-Onkel, Essen wird gestohlen, die englische Sprache nervt latent etc. Wenn man einen Film macht, der über die junge Generation im heutigen Berlin erzählt, dann gehört das meiner Meinung nach mit dazu.


Der Film beginnt sehr direkt: Maria versucht einen Künstler zu verführen, irgendwann kommt Niels dazu und macht einfach mit. Wieso war Dir dieser unvermittelte Einstieg wichtig?

Dieser Einstieg war eigentlich nicht so geplant und ist erst im Schnittprozess entstanden. Meine Editorin Elena Weihe und ich haben versucht, klassische Szenenübergänge zu vermeiden und immer so spät wie möglich in Szenen ein- und so früh wie möglich wieder auszusteigen. Regt man die Zuschauer dazu an, sich in einer Szene zu orientieren und selbst zurecht zu finden, so schließen sich Leerstellen normalerweise automatisch. Gerade wenn ein Film nicht von gigantischen Konflikten, einer wilden Heldenreise oder ähnlichen erzählerischen Mechanismen getragen wird, ist das ein spannendes filmisches Mittel. Bei dem Prolog hatten wir das Gefühl, dass man hier subtil in knapp zwei Minuten unglaublich viel über die Figuren, ihre Beziehung, den Umgang miteinander und ihren Spaß an dieser Art von „Teamsport“ erfährt – eine recht präzise Etablierung der Figuren und ihrer Welt. Im Grunde war das ja genau das, was mich interessiert und was auf eine Art den Kern des Films bildet: die Beziehungen der Figuren zu- und ihr Umgang miteinander.


Du hast zusammen mit Deiner Hauptdarstellerin Paula Knüpling eine radikale weibliche Hauptfigur geschaffen. Was war Euch bei der Konzeption von Maria wichtig? Und warum fühlt sie sich im Vergleich zu den meisten anderen Frauenfiguren im Kino so besonders an?

Das könnte natürlich daran liegen, dass weibliche Filmfiguren – auch im Jahr 2019 – noch immer unterrepräsentiert sind. Zwar gibt es einen deutlichen Trend hin zur starken Heldin im Populärfilm, wie etwa die Erfolge von „Wonder Woman“ oder „Captain Marvel“ deutlich machen, aber weiblichen Hauptfiguren sind im Hollywoodkino immer noch stark unterrepräsentiert. In Deutschland sieht es nicht viel besser aus. Frauenfiguren sind meist eindimensional und passiv – und bestätigen damit ein streng konservatives Rollenbild. Insofern kann es gut sein, dass man eine Figur wie Maria, die Entschei- dungen trifft und die die Handlung vorantreibt, die nicht immer nur nett ist, sondern auch mal Dinge tut, die nicht okay sind, als „etwas Besonderes“ wahrnimmt. Uns war wichtig, Maria als eine starke, eigenwillige und scham- lose Frau zu zeichnen; eine Frau, die sich nimmt was sie haben will, ohne um Erlaubnis zu fragen, und die dabei manchmal auch ziemlich egoistisch ist. Das dramaturgi- sche „Sympathiekonzept“, nach dem die Zuschauer die Hauptfigur zwingend sympathisch finden müssen, damit sie der Handlung gerne folgen, haben wir bewusst außer Acht gelassen. Wir haben vielmehr versucht, Maria als eine komplexe Figur zu entwerfen, deren Aktionen die Zuschauer dann selbst beurteilen und bewerten kön- nen. In einer Szene klaut sie etwa einem Mädchen den Geburtstagskuchen um sich bei Niels für ihr Fremdgehen zu entschuldigen. Man könnte durchaus argumentieren, dass es sich dabei um eine romantische Geste handelt. Grundsätzlich ist das etwas, worüber ich oft nachdenke: Die verflixte Trennschärfe zwischen Gut und Böse.


Dein Film ist im wahrsten Sinne des Wortes lustvoll: Du zeigst selbstbewusste Frauen und schamlose Männer in einer Welt, in der Lust und Liebe potentiell überall hinfallen und frei aufblühen dürfen. Du zeichnest die Liebesgeschichte zwischen den dreien aber auch ambivalent: Du hinterfragst nicht nur die Konzepte von Heteronormativität und Monogamie, sondern themati- siert auch Eifersucht und Verlustängste. Ist diese offene Beziehungsform Deiner Meinung nach eine Utopie und allenfalls in einer Stadt wie Berlin möglich – oder poten- tiell überall?

Natürlich lässt sich in einer Stadt wie Berlin einfacher eine Art soziale Enklave aus Gleichgesinnten erschaffen, in der Utopien gelebt und vorurteilsfrei akzeptiert werden kön- nen. Durch die Anonymität der Großstadt ist das leich- ter als an anderen Orten. Aber in der Realität eckt solch ein Lebensmodell permanent an den Erwartungen der Gesellschaft an und provoziert durch die doppelte Ladung „Nonkonformität“ – freie Liebe UND gleichgeschlechtliche Liebe – mitunter harte Reaktionen. Deswegen wollte ich diesen Aspekt in HEUTE ODER MORGEN blasenhaft über die gesellschaftlichen Implikationen, die so ein „unkonventionelles“ Konstrukt mit sich bringt, hinweg schweben lassen. Es war mir wichtig, das komplett zu entproblema- tisieren und ein positives Repräsentationsmodell ohne die bekannte gesellschaftliche Gegenwirkung zu erstellen. Ich wollte völlig unideologisch bestimmte Dinge einfach vorschlagen – quasi eine utopische Realität erschaffen und mit dieser dann wie selbstverständlich umgehen. Der Moment, in dem dieses Modell auf die Erwartungen der Zuschauer trifft, ist für mich dann jener, in dem der Film politisch werden kann. Denn je nach Sozialisierung kön- nen die Zuschauer sich an dem Gezeigten reiben, abar- beiten, ergötzen, freuen oder auch stören und empören – und sich vielleicht sogar mit Menschen, die ganz andere Empfindungen und Meinungen haben, über den Film austauschen. Außerdem soll es der Film dem Publikum ermöglichen, einen Ort der Freiheit und der unbegrenzten Möglichkeiten zu entdecken.


Eine der intimsten Szenen im Film spielt auf einer Park- bank, auf der Niels Maria befriedigt und ihr seine Fan- tasien ins Ohr flüstert. Die Kamera bleibt für mehrere Minuten bei den beiden und stellt eine besondere Nähe zwischen den Figuren und dem Publikum her. Geht es in dieser Szene – und in einer Reihe anderer, ähnlich naher Szenen – auch darum, die Zuschauer*innen aus ihren gewohnten Perspektiven herauszulocken?

Zunächst mal finde ich den Mut der Darsteller in dieser Szene bemerkenswert. Sie wirkt ja nur deshalb so unglaub- lich intensiv, weil die beiden sich das in dieser ganz direk- ten, ungeschminkten Form getraut haben. Hinzu kommt noch die Kamera, die subtil und fast unmerklich über die gesamte Szene hinweg immer näher an die zwei heran- geht. Im Sounddesign haben wir dann diese „intime Blase“ noch weiter verstärkt. Ich habe HEUTE ODER MORGEN immer als Kinofilm gedacht. Die Kraft und das Besondere daran, einen Film im Kino zu gucken, liegt unter anderem darin, dass man in einem dunklen Saal zusammen mit vie- len anderen Menschen sitzt. Umschalten oder wegklicken geht nicht, sich am Handy ablenken ist auch nicht gern gesehen, und das Rausgehen ist sowieso mit Umständen verbunden. Dies wollte ich nutzen und die Zuschauer in dieser Szene sozusagen zum Hinschauen und Imaginieren zwingen. So sollte das Gefühl entstehen, dass man etwas zu sehen bekommt, das man eigentlich nicht sehen darf. Insofern war es schon mein Ziel, die Zuschauer ein wenig zu kitzeln und über ihre eigenen Grenzen hinauszuschie- ben. Wie geht man hier mit seiner eigenen Scham um? Lässt man das zu und lässt sich mitreißen, oder blockiert man und stößt das Ganze lieber von sich? Diese Art der Grenzüberschreitung kann einer der interessantesten Momente des Films sein – wenn man sich traut, mitzugehen.

Natürlich ist die Szene aber auch inhaltlich für die Figur von Niels sehr wichtig, denn es ist ja keinesfalls nor- mal und durchaus mutig, was er da macht – sich derart zu öffnen und über seine Wünsche zu sprechen. Dieses Intimitätslevel beschreibt ganz gut den Reifegrat der Bezie- hung zwischen ihm und Maria: wie offen und angstfrei die beiden miteinander umgehen können. Die Szene fasst für mich zusammen, was Maria an Niels so mag – und warum die beiden ein Paar sind. •

Foto:
©

Info:
Heute oder morgen
ein Film von Thomas Moritz Helm
DE 2019, 93 Minuten,
deutsch-englische OF, teilweise mit deutschen UT

Darsteller
PaulaKnüpling                Maria
MaximilianHildebrandt    Niels
TalaGouveia.                   Chloe