f verloreneNeu auf DVD und Blu-ray ab dem 23. September 2019, Teil 3/3

Claudia Schulmerich

Frankfurt am Main (Weltexpresso) – Ein Film, der in die Zeit paßt und ein Film, der gleichzeitig aus der Zeit fällt, weil er nicht laut und lautstark sein Thema behandelt, sondern leise im badischen Dialekt, der nur gesprochen wird, wenn es unbedingt sein muß, ein Film, der also weithin stumm bleibt, aber wo es im Hintergrund gärt, das spürt man jede Sekunde.

Daß es um etwas geht, vermittelt erst einmal die brausende Musik, wenn die 18jährige Maria (Maria Dragus) Orgel spielt, man ihr konzentriertes Gesicht sieht und den zuhörenden Vater Johann (Clemens Schick), dessen Stolz auf die Tochter man auch spürt. Interessant erst einmal der Gegensatz von ländlicher Umgebung mit patriarchalischer Familienstruktur und badischem Dialekt und dem abgehobenen Bach, eigentlich eine überhöhte Kirchenmusik.

Da ist ein Kick, da ist etwas, das fühlt der Zuschauer von Anfang an. Als der Film in die Kinos kam, bat der Verleih ausdrücklich davor, von Spoilern abzusehen. Hintergrund war, daß man 45 Minuten dem Geschehen folgt – die enge Beziehung zur jüngeren Schwester Hannah (Anna Bachmann), der sie die gestorbene Mutter ersetzt und die ein munteres aufmüpfiges Wesen hat und der häuslichen Enge durch Flucht entgehen will, und für die und ihr Wohlergehen sich Maria verantwortlich fühlt, das Schweigen, das Ankommen von Valentin ( Enno Trebs), dem Zimmermannsburschen auf der Walz, der bei ihrem Vater arbeiten kann, ihr gegenseitiges Verlieben, dem sie ambivalent mal folgt, mal widersteht – also Hintergrund ist, daß erst nach 45 Minuten die Vermutung des Zuschauers zur Wahrheit wird, daß es sich bei dem Vater um einen Mann handelt, der seine Tochter mißbraucht, Inzest dazu.

Heute darf man bei dem Erscheinen der DVD offen mit dem eigentlichen Geheimnis umgehen. Maria ist die tragische Figur, weil sie in jeder Hinsicht jedem genügen will und sogar ihren Vater schützen will, seine Situation lange für wichtiger hält als ihre eigene, frei und sie selbst ist sie nur beim Orgelspiel, das deshalb eine so wichtige Funktion für sie hat und immer wieder im Film aufbraust. Darum ist auch keine andere Filmmusik zu hören, denn sie würde das Pathos, das dem Film dezent, aber deutlich innewohnt, stören.

In einer Situation von Schweigen und heimlichen Geschehen muß ein deus ex machina erscheinen, um die steinernen Verhältnisse zum Tanzen zu bringen, hier ist es eine dea, Schwester Hannah, die das fatale Familiengeheimnis durchschaut und im engen Schwesternverhältnis diejenige sein wird, die ihrer älteren Schwester die wirklich gute Schwester wird. Ob die will oder nicht.

Der Film ist so dezent wie deutlich. Gleichzeitig spürt man hinter den Personen als Grundübel die familiäre Situation, die Mißbrauch als gängiges Mittel der Vergangenheit strukturell möglich machte – und möglich macht. Der Regisseur betont an seinem Interesse für das Sujet des häuslichen Mißbrauchs das Ausmaß der sexuellen Ausbeutung von Abhängigen. Er selbst ist erst seit dem Skandal um die Odenwaldschule mit dem Thema konfrontiert worden und ist noch immer geschockt, wie er selbst betont. Und seine Erschütterung, daß Abhängige derart benutzt und geschädigt werden, Vorgänge, die ein Leben dann bestimmen, ist noch gewachsen, seit er eigene Kinder hat, weil das Schutzbedürfnis ihnen gegenüber auch seine Einstellung als Filmemacher bestärkt. VERLORENE ist übrigens sein Debüt als Spielfilmregisseur.


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© Verleih

Info:
Hintergrund aus dem Presseheft:
Eine hohe Dunkelziffer von Missbrauchsfällen wird niemals zur Anzeige gebracht. Oft fehlt den Betroffenen die Sprache für das, was passiert ist. Sie schweigen. Manchmal ein ganzes Leben. Sie sind meist von Gefühlen der Angst und Scham bestimmt. Angst vor Öffentlichkeit. Vor dem Gefühl, selbst Schuld zu sein am Begehren des Anderen. Und nicht zuletzt die Furcht, dass ihnen nicht geglaubt wird. Es existiert rund um das Tabuthema Missbrauch eine fatale ,Schweigespirale‘.

Die #MeToo-Debatte hat gezeigt, dass Scham auch dann noch vorhanden ist, wenn längst begonnen wurde, über das Thema zu sprechen. Dass ein gesellschaftliches Klima für den offenen Dialog über Missbrauch noch nicht geschaffen wurde. Jede zweite Frau in Deutschland hat bereits sexuelle Belästigung erfahren. Jedes Jahr sind eine Million Kinder und Jugendliche von sexueller Gewalt betroffen. In jeder Schulklasse sitzt mindestens ein Kind, das unerkannt betroffen ist. Wie soll man also eine Sprache finden für etwas, das unsichtbar ist?
„Verlorene“ gibt einer Zahl in der Statistik ihr Gesicht zurück. Die Geschichte von Maria.

Neu auf DVD und Blu-ray ab dem 23. September 2019
© W-film
Deutschland 2018
Filmstart in Deutschland: 17.01.2019
R: Felix Hassenfratz
B: Felix Hassenfratz
P: Max Frauenknecht, Benedikt Böllhoff
K: Bernhard Keller
Sch: Barbara Toennieshen
M: Gregor Schwellenbach, Paul Eisenach
A: Jan Lasse Hartmann
V: W-film
L: 91 Min

Darsteller:
Maria Dragus, Anna Bachmann, Clemens Schick, Enno Trebs, Meira Durand, Anne Weinknecht