Günter Berg
Hamburg (Weltexpresso) - „In unserer Welt wird auch der Kunstler zum Mitwisser - zum Mitwisser von Rechtlosigkeit, von Hunger, von Verfolgung und von riskanten Traumen[...]. Es scheint mir, daß seine Arbeit ihn erst dann rechtfertigt, wenn er seine Mitwisserschaft zu erkennen gibt, wenn er das Schweigen nicht ubergeht, zu dem andere verurteilt sind.“ (Siegfried Lenz, Dankesrede zur Verleihung des Bremer Literaturpreises 1962)
Der Roman „Deutschstunde“ hat seit seinem Erscheinen im September 1968 einen enormen Erfolg bei den Leserinnen und Lesern. Das Buch wurde in mehr als 20 Sprachen übersetzt und steht seit über 50 Jahren auf Bestellerlisten und den Lektürelisten der Schulen. Die erste Rezension erschien in der Welt; Helmuth de Haas, selbst Lyriker, Essayist und seinerzeit Kulturchef der Zeitung schildert seine Lektureerfahrung so: „In zwanzig Kapiteln von großer sprachlicher Schönheit verschränkt Siegfried Lenz die Jahre 1943 bis 1954, läßt sie ineinander phosphoreszieren. Was er den Dörfern des nördlichsten Deutschlands oder der kargen Haftanstalt auf der Elbinsel an Leben, an kräftigen Mustern entwindet, stellt totale Gegenwart von Sprache her. Transzension deutscher Bindung an Schuld, an Schande und Scham in ein bedeutendes Werk: Selbstüberprüfung und Selbstverständigung, angeboten von einem Erzähler, der eher zu viel als zu wenig tut, um das Netz aus falschem Gehorsam und falscher Pflichterfüllung zu zerreißen. Siegfried Lenz hat sein Meisterwerk geschrieben. Er hat, mit unbeirrbarer Geduld, alle Möglichkeiten des epischen Prinzips durchforscht.“ Gewiss war der Erscheinungszeitpunkt, das Jahr 1968 mit allen gesellschaftlichen Veränderungen für diese klare Sicht auf den Kern des Romans von Lenz überaus günstig.
Dabei war Lenz selbst gewiss nicht, was man einen „68er“ nannte; dafür war sein Leben bis zu diesem Zeitpunkt anders verlaufen. Er hatte, wenn auch nur wenige Monate, Kriegsdienst als Seekadett auf der Admiral Scheer geleistet und war bei Kriegsende 19 Jahre alt. Seinen Blick auf diesen grauenvollen Krieg hatte er wenige Jahre nach Kriegsende in seinem zweiten Roman zu gestalten versucht: „Der Überläufer“. Sein Verlag riet ihm ab, die Zeiten seien doch nun andere, man möge die Vergangenheit doch ruhen lassen... „Der Überläufer“ blieb zu Lebzeiten des Autors unveröffentlicht. Lenz zog sich daraufhin eher zurück, schrieb „So zärtlich war Suleyken“ oder „Der Mann im Strom“, durchaus soziakritische Bücher, jedoch ohne einen politischen „Auftrag“. Lenz haderte weder mit dem Verlust seiner ostpreußischen Heimat noch spürte er in sich jene jugendlich-oppositionelle Energie oder die ideologische Gewissheit, die ihn laut und öffentlich hätten aufbegehren lassen. So erschien er manchen Kritikern und Kollegen als eher unpolitisch und konventionell. Dabei zeigen seine Arbeiten und zahlreiche Notizen der 60er Jahre, dass er es als seine, als die Aufgabe des Schriftstellers schlechthin ansah, Aufklärung zu betreiben über die Verblendungen der Nazizeit. Doch auch, wenn er später mit Willy Brandt nach Polen reiste und seinen Freund Helmut Schmidt unterstützte, in den Dienst irgendeiner Ideologie mochte er sich nicht mehr stellen.
Die vier Jahre, die er an der „Deutschstunde“ nahezu ununterbrochen arbeitete, lange Monate davon in seinem Sommerhaus auf Alsen in Dänemark, bestärkten ihn in seiner Gewissheit, als Autor Verantwortung übernehmen zu müssen für die Deutung der deutschen Vergangenheit. Aber eben mit seinen persönlichen Ausdrucksmöglichkeiten, mit seiner Art, Figuren zu erfinden und Geschichten zu erzählen. Die Freundschaft des Malers Max Ludwig Nansen mit Jens Ole Jepsen, dem „nördlichsten Polizeiposten Deutschlands“ und den Bruch dieser Freundschaft, ausgelöst durch den verordneten Starrsinn des Naziregimes, gestaltet Lenz als großes Erinnerungswerk seines jungen Protagonisten Siggi Jepsen. Als Kind wurde Siggi Zeuge der irrwitzigen „Pflichterfullung“ seines Vaters, als jugendlicher Insasse eines Erziehungsheims gerat er durch die verordnete Strafarbeit in einen Erinnerungstaumel, dem er sich nicht mehr entziehen kann. Der Roman ist dieser Strudel der Erinnerung.
Es gibt nur wenige Bücher von Zeitgenossen mit einer ähnlich starken Intensität wie Deutschstunde. Zu nennen waren Anna Seghers‘ „Das siebte Kreuz“, Uwe Johnsons „Jahrestage“ und Gunter Grass‘ Novelle „Im Krebsgang“. Diese Bücher, die immer wieder neu aufgelegt und auch hervorragend verfilmt wurden, regen die Phantasie ihrer Leserinnen und Leser in ganz besonderer Weise an – wie sie unsere Vorstellungen für eine Zeit wachhalten, deren tiefes Verständnis durch das Studium der Geschichte alleine nicht möglich ist.
Über diesen wichtigen Roman von Siegfried Lenz wurde im Laufe der letzten 50 Jahre viel Kluges geschrieben und gesagt. Die Einschätzung von seinem Freund Amos Oz, „‘Deutschstunde‘ ist wie eine Symphonie. Lenz bringt das Meer darin zum Klingen, die Kunst beginnt zu leben!“, ist besonders gelungen.
26.6.2019
Foto:
© Verleih
Info:
STAB
Regie Christian Schwochow
Drehbuch Heide Schwochow
Produzent*innen Jutta Lieck-Klenke
Dr. Dietrich Kluge
Ulf Israel
BESETZUNG
Jens Ole Jepsen Ulrich Noethen
Max Ludwig Nansen Tobias Moretti
Siggi Jepsen (Kind) Levi Eisenblätter
Ditte Nansen Johanna Wokalek
Gudrun Jepsen Sonja Richter
Hilke Jepsen Maria Dragus
Siggi Jepsen (Jugendlicher) Tom Gronau
Klaas Jepsen Louis Hofmann
Abdruck aus dem Presseheft
Dabei war Lenz selbst gewiss nicht, was man einen „68er“ nannte; dafür war sein Leben bis zu diesem Zeitpunkt anders verlaufen. Er hatte, wenn auch nur wenige Monate, Kriegsdienst als Seekadett auf der Admiral Scheer geleistet und war bei Kriegsende 19 Jahre alt. Seinen Blick auf diesen grauenvollen Krieg hatte er wenige Jahre nach Kriegsende in seinem zweiten Roman zu gestalten versucht: „Der Überläufer“. Sein Verlag riet ihm ab, die Zeiten seien doch nun andere, man möge die Vergangenheit doch ruhen lassen... „Der Überläufer“ blieb zu Lebzeiten des Autors unveröffentlicht. Lenz zog sich daraufhin eher zurück, schrieb „So zärtlich war Suleyken“ oder „Der Mann im Strom“, durchaus soziakritische Bücher, jedoch ohne einen politischen „Auftrag“. Lenz haderte weder mit dem Verlust seiner ostpreußischen Heimat noch spürte er in sich jene jugendlich-oppositionelle Energie oder die ideologische Gewissheit, die ihn laut und öffentlich hätten aufbegehren lassen. So erschien er manchen Kritikern und Kollegen als eher unpolitisch und konventionell. Dabei zeigen seine Arbeiten und zahlreiche Notizen der 60er Jahre, dass er es als seine, als die Aufgabe des Schriftstellers schlechthin ansah, Aufklärung zu betreiben über die Verblendungen der Nazizeit. Doch auch, wenn er später mit Willy Brandt nach Polen reiste und seinen Freund Helmut Schmidt unterstützte, in den Dienst irgendeiner Ideologie mochte er sich nicht mehr stellen.
Die vier Jahre, die er an der „Deutschstunde“ nahezu ununterbrochen arbeitete, lange Monate davon in seinem Sommerhaus auf Alsen in Dänemark, bestärkten ihn in seiner Gewissheit, als Autor Verantwortung übernehmen zu müssen für die Deutung der deutschen Vergangenheit. Aber eben mit seinen persönlichen Ausdrucksmöglichkeiten, mit seiner Art, Figuren zu erfinden und Geschichten zu erzählen. Die Freundschaft des Malers Max Ludwig Nansen mit Jens Ole Jepsen, dem „nördlichsten Polizeiposten Deutschlands“ und den Bruch dieser Freundschaft, ausgelöst durch den verordneten Starrsinn des Naziregimes, gestaltet Lenz als großes Erinnerungswerk seines jungen Protagonisten Siggi Jepsen. Als Kind wurde Siggi Zeuge der irrwitzigen „Pflichterfullung“ seines Vaters, als jugendlicher Insasse eines Erziehungsheims gerat er durch die verordnete Strafarbeit in einen Erinnerungstaumel, dem er sich nicht mehr entziehen kann. Der Roman ist dieser Strudel der Erinnerung.
Es gibt nur wenige Bücher von Zeitgenossen mit einer ähnlich starken Intensität wie Deutschstunde. Zu nennen waren Anna Seghers‘ „Das siebte Kreuz“, Uwe Johnsons „Jahrestage“ und Gunter Grass‘ Novelle „Im Krebsgang“. Diese Bücher, die immer wieder neu aufgelegt und auch hervorragend verfilmt wurden, regen die Phantasie ihrer Leserinnen und Leser in ganz besonderer Weise an – wie sie unsere Vorstellungen für eine Zeit wachhalten, deren tiefes Verständnis durch das Studium der Geschichte alleine nicht möglich ist.
Über diesen wichtigen Roman von Siegfried Lenz wurde im Laufe der letzten 50 Jahre viel Kluges geschrieben und gesagt. Die Einschätzung von seinem Freund Amos Oz, „‘Deutschstunde‘ ist wie eine Symphonie. Lenz bringt das Meer darin zum Klingen, die Kunst beginnt zu leben!“, ist besonders gelungen.
26.6.2019
Foto:
© Verleih
Info:
STAB
Regie Christian Schwochow
Drehbuch Heide Schwochow
Produzent*innen Jutta Lieck-Klenke
Dr. Dietrich Kluge
Ulf Israel
BESETZUNG
Jens Ole Jepsen Ulrich Noethen
Max Ludwig Nansen Tobias Moretti
Siggi Jepsen (Kind) Levi Eisenblätter
Ditte Nansen Johanna Wokalek
Gudrun Jepsen Sonja Richter
Hilke Jepsen Maria Dragus
Siggi Jepsen (Jugendlicher) Tom Gronau
Klaas Jepsen Louis Hofmann
Abdruck aus dem Presseheft