Bildschirmfoto 2019 10 04 um 02.39.50Das 67. San Sebastian Filmfestival, Teil 2/2

Kirsten Liese

San Sebastian (Weltexpresso) - Insgesamt bewegte sich der Wettbewerb gleichwohl auf niedrigerem Niveau als in den Vorjahren. Gerade im vergangenen Jahr präsentierte San Sebastian derart viele herausragende Werke, dass man kaum in Versuchung geriet, trotz herrlichstem Badewetter einen der schönen Strände in der baskischen Küstenstadt einer Vorführung im Kino vorzuziehen.

Dagegen fühlte man sich diesmal angesichts einer Vielzahl gesellschaftspolitisch ambitionierter, aber in der Umsetzung weniger überzeugender Sozialdramen an die Berlinale erinnert.  Sexueller Missbrauch und Kinderpornografie (Patrick),  Gewalterfahrungen sowie die schwierigen Lebenssituationen von Heranwachsenden, die von ihren Eltern im Stich gelassen werden (La hija de un ladrón, Rocks) waren die Themen solcher Werke. Nur kamen sie entweder zu  nüchtern, banal und unspektakuläre daher oder näherten sich ihrem Thema abwegig über mehrere Ecken. Ken Loach und die Gebrüder Dardenne haben ähnliche Geschichten schon weitaus packender, anrührender und leinwandtauglicher entwickelt.

Auch der Gewinner der Goldenen Muschel, der brasilianische Beitrag Pacificado zählt zu den Produktionen, die emotional wenig nachwirken. Der Film dokumentiert Szenen aus dem Leben einer 13-Jährigen in einer Favela in Rio de Janeiro inmitten harter Fehden verschiedener Männerallianzen, kommt aber seinen Figuren zu wenig nahe, um Interesse für sie zu wecken. Der ungleich bessere, beklemmende preisgekrönte Film City of God (2002) tauchte in dieses Milieu weitaus tiefer ein.

Vielversprechend, weil erfrischend politisch unkorrekt, beginnt der französische Beitrag Thalasso von Guillaume Nicloux. Der Schriftsteller Michel Houellebecq (Unterwerfung) kommt da in den ersten Minuten mit provokanten Statements  zu Wort, behauptet, Schweden sei kein demokratisches Land mehr, gar noch undemokratischer als Frankreich. Das weckt Neugier, die aber nicht befriedigt wird, weil solche Sätze unbegründet und kontextlos im Raum stehen bleiben. Es folgt ein radikaler Schnitt, dann driftet die ernste Introduktion in eine banale Komödie ab: In einem Spa-Hotel hadert Houellebecq mit seinen Therapien, dem Alkohol- und Rauchverbot und freundet sich mit dem Schauspieler Gérard Dépardieu an, der sich als ein weiterer Hotelgast selbst spielt und ebenfalls nicht ganz genau an die Verbote hält. Viel zu erzählen hat Nicloux leider nicht. Er begnügt sich mit schlichtem Humor und gelangt auch optisch nicht über die Qualitäten eines Fernsehfilms hinaus.

Stärkeren Eindruck hinterließen zwei Filme, die schon kurz zuvor in Toronto eine erfolgreiche Weltpremiere erlebten: Das Vorspiel von Ina Weisse mit der trefflichen Nina Hoss als einer Geigerin, die auf einen Schüler großen Ehrgeiz projiziert, der in ihrer eigenen Laufbahn unbefriedigt blieb, darüber grenzwertig streng wird und den eigenen Sohn mit fatalen Folgen vernachlässigt. Für ihr nuanciert-minimalistisches Spiel wurde Nina Hoss verdient mit einem geteilten weiblichen Darsteller-Preis geehrt. Zur zweiten  besten Hauptdarstellerin kürte  die Jury mit Greta Fernández ein noch weniger bekanntes apartes Gesicht. Allemal authentisch verkörpert die Spanierin in dem dokumentarisch anmutenden Film Una hija de un ladrón (A Thief’s Daughter ) eine junge Mutter, die ihren kleinen Bruder vor dem gewalttätigen Vater zu schützen sucht, der gerade aus dem Gefängnis entlassen wurde- und sich über einen Putzjob eine normale Existenz aufzubauen sucht.

Ein weiteres berührendes Porträt einer ungewöhnlichen Frauenpersönlichkeit präsentierte San Sebastian schließlich mit der deutsch-französischen Koproduktion Proxima (Spezialpreis der Jury). Es ist die Geschichte einer Astronautin namens Sarah, die ausgewählt wird, mit einem Russen und einem Amerikaner für eine längere Mission ins All zu fliegen. Zum Problem dabei wird ihre kleine Tochter Stella, um die sie sich gerne mehr kümmern würde, als es der Beruf zulässt, weshalb der Ex-Mann (Lars Eidinger) als Betreuer ran muss, von dem Sarah getrennt lebt.

Regisseurin Alice Winocour entwickelt aus dieser Konstellation eine spannende Studie mit semi-dokumentarischen Szenen, die die Heldin und ihre Kollegen beim Schwerelosigkeitstraining und simulierten Übungen unter Wasser zeigt.  Wenn das Mädchen auf der Raumstation rumturnt und Sarah es in den Arm nehmen kann, ist alles gut, aber diese Momente sind rar. Und so sieht man die Heldin immer mit sich ringen, ob sie den Weltraumtrip oder ihre Tochter aufgeben soll. Aber dann findet Winocour eine schöne Lösung für alles. Am Ende darf man staunen, dass die außergewöhnliche Handlung keineswegs aus der Luft gegriffen ist. Zahlreiche Astronautinnen der vergangenen 50 Jahre mit ihren Kindern zeigend, lässt der Abspann darüber staunen, dass es schon so lange Frauen in diesem Beruf gibt und dass diese allesamt auch noch Mütter waren.

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