Bildschirmfoto 2019 10 15 um 22.24.02Vorschau auf die Filme der  VIENNALE 24. OKTOBER – 6. NOVEMBER 2019 in Wien, Teil 1

Anna von Stillmark

Wien (Weltexpresso) - Aus der Selbstbeschreibung des Festivals anläßlich der Programmpräsentation: Nachdem das Festivalprogramm fertiggestellt ist, noch bevor der Katalog in Druck geht, und man jeden Film ein ums andere Mal hat Revue passieren lassen, steigen wie von allein Assoziationen an die Oberfläche, aus denen sich Zusammenhänge ergeben. Ein Film verweist auf den anderen, Themen wiederholen sich, Bilder und Atmosphären beschwören einander. Das diesjährige Programm versammelt weit über 300 Filme aus über 40 Ländern; und ihrer Verschiedenheit zum Trotz erschaffen sie miteinander ein Geflecht von Beziehungen, in dem sich präzise die von uns aktuell erlebte Realität reflektiert.

Solche Formulierungen verweisen darauf, daß hier jemand spricht, der in einem anderen Kulturkreis großgeworden ist, wo auch im Alltag poetische Überhöhungen an der Tagesordnungen sind. „Brasilien entflammt!“ – der Titel des dem jüngeren brasilianischen Film gewidmeten Viennale- Programms war keine Vorahnung, er beschreibt vielmehr die Konsequenz eines Zustands, den das Kino schon seit geraumer Zeit mit großer Klarheit zu lesen weiß.

Nicht wenige der Filme im Programm evozieren das Wesen des Animalischen, das die Wesen, die diesen Planeten bevölkern, miteinander teilen. Und wie gut passt das Sujet der Schlange, wenn die Filme SERPENTÁRIO, L’ÎLE AUX OISEAUX, GIRAFFE heißen und sich vielfach in Szenen und Bildern unterschiedliche tierische Präsenzen finden.

Befinden wir uns tatsächlich endgültig in der Untergangsphase unserer Zivilisation? Das Kino sucht nach Antworten: in den Lebensbedingungen an den Rändern der Gesellschaft (LA VIDA EN COMÚN); in den individuellen Entscheidungen (WILCOX); in der Provokation und im Sarkasmus (HAIL SATAN?). Da sind jene Filme, die das System auf verschiedenen Ebenen angreifen: MIDNIGHT FAMILY, SETE ANOS EM MAIO; oder die Zuflucht zur Ironie nehmen, ohne deswegen weniger kritisch zu sein: wie zum Beispiel die Dokumentar-Satire LA MAFIA NON È PIÙ QUELLA DI UNA VOLTA oder die groteske Fantasie von DIVINO AMOR. Und da sind jene Filme, die das Porträt einer Zivilisation entwerfen, deren Verantwortlichkeit sich von den Konflikten der Vergangenheit bis in die Kriege der Gegenwart und über viele Breitengrade hinweg erstreckt; von AFRICAN MIRROR bis A DOG CALLED MONEY.

Es ist kein Zufall, dass das zeitgenössische Kino mehr denn je von Monstern bevölkert wird. Von den Ahnungen, die in GHOST STRATA aus der Erde kommen, bis zu den Gespenstern, die in GHOST TROPIC und VITALINA VARELA am Rande der Gemeinschaft hausen, oder in den abgelegenen Winkeln von LA CIUDAD OCULTA. Es sind Erinnerungen an die Finsternis unserer Geschichte, eine LONGA NOITE, die nicht aufört, uns zu bedrohen. Die lebenden Toten, die aus den Kolonien und den Überseeländern kommend ihre Ansprüche erheben – in ATLANTIQUE, ZOMBI CHILD und CEMETERY –, sind Albträume, mit denen die neuen Generationen leben müssen. In einer Welt, die sich wandelt, verschwindet, vergisst und die das Kino mit den Mitteln seiner Sprache, seiner Genres und der Wucht seiner Bilder immer wieder neu erfindet, beispielsweise in RÉPERTOIRE DES VILLES DISPARUES. Das Kino packt zu und schaft Erinnerungen, indem es den Erfahrungen die Erzählungen hinzufügt; es wird Gedächtnis, wenn es mit Sanftheit auf seine eigenen Traditionen und kleinen Geschichten blickt, wie in OROSLAN und 143 RUE DU DÉSERT, oder indem es katalogisiert, analysiert und registriert wie in THOSE THAT, AT A DISTANCE, RESEMBLE ANOTHER. Und kaum blicken wir in und mit dem Kino ein wenig über unsere Gegenwart hinaus, riskiert die Welt, überflutet zu werden wie ein neues ATLANTIS.

Fortsetzung folgt

Foto:
LA VIDA EN COMÚN Ezequiel Yanco, Argentinien/Frankreich 2019© Viennale