f ketabcasellssSerie: Die anlaufenden Filme in deutschen Kinos vom 5. Dezember 2019, Teil 10

Redaktion

Paris (Weltexpresso) - „Mit diesen Jugendlichen muss man auf eine andere Art der Kommunikation umschalten“. Sie sagen oft, dass jeder Ihrer Filme eine Reise sei. Auf welche Art und Weise hat dieser Film begonnen?

Das Vertrauen zu Éric und Olivier war sofort da. Ich spürte, dass sie trotz der beachtlichen Erfolge ihrer Filme auch den Willen hatten, mit jedem neuen Film wieder eine Reise ins Ungewisse zu wagen. Ich verstand, was sie antrieb: Sie wollten der Arbeit von Stéphane Benhamou und Daoud Tatou ein Denkmal setzen. Als ich Érics und Oliviers Dokumentarfilm MAN MÜSSTE EINEN SPIELFILM DARAUS MACHEN gesehen habe, war ich sehr berührt. Ich wusste nichts weiter über Autismus außer dem, was ich in Filmen wie RAIN MAN oder SHINE gesehen hatte. Die Begegnung mit den Autisten in der Organisation „Le Silence des Justes“ hat mich gleichermaßen mitgenommen wie berührt. Ich entdeckte dort eine sehr vielschichtige Welt, die ein intensives Abenteuer beim Dreh versprach.

Malik, den Sie verkörpern, heißt im wahren Leben Daoud Tatou. Wie haben Sie mit ihm zusammengearbeitet?

Noch ehe ich das Drehbuch gelesen hatte, bin ich in diese Minibusse gestiegen, mit denen die Autisten jeden Morgen bei ihren Familien abgeholt und zu ihren Aktivitäten gebracht werden. Ich fuhr mit den Kindern und Jugendlichen zum Hallenfußball und zum Mittagessen im „Relais IDF“, Daoud Verein. Dann nahm er mich mit nach Marokko, nach Rabat und Oujda, wo er das erste Zentrum für Autisten in den Maghreb-Staaten aufbaut. Es hat wie „Le Silence des Justes“ einen großartigen Namen: „Les Oiseaux du Paradis“ (dt.: die Paradiesvögel). Die Situation der Autisten dort ist noch schlimmer als diejenige, die wir hier in Frankreich erleben. Wir gingen also eine Familie mit mehreren autistischen Kindern besuchen. Eines von ihnen war an der Wand festgebunden. In der Nacht danach habe ich ständig Bilder von meinem vierjährigen Sohn auf meinem Handy angesehen. Wenn man diese Situationen voller Not und Hilflosigkeit sieht und weiß, wie die menschliche Antwort von Stéphane und Daoud darauf aussieht, spürt man eine große Last der Verantwortung bei dem Gedanken, einen Menschen wie Stéphane und Daoud glaubhaft vor der Kamera darzustellen. Ich musste mich erst davon befreien, dass ALLES AUSSER GEWÖHLICH kein Biopic über Stéphane und Daoud werden soll.


Wie ist es ihnen gelungen, ihren eigenen Zugang zu ihrer Rolle zu finden?

Ich habe nach Charaktereigenschaften gesucht, in denen Daoud und ich übereinstimmen: Empathie, Dynamik, Durchhaltevermögen. Bevor Daoud über den Autismus „gestolpert“ ist, wie er es selbst formuliert, war er übrigens Rapper. Man kann ihn getrost als Bühnentier bezeichnen. Wenn man seine Treffen mit den Pflegern miterlebt, wird da zwar gearbeitet, aber auch viel gelacht. Man hat immer das Gefühl, ihn inmitten einer „Show“ zu erleben.


Malik piesackt die Pfleger ganz schön, verlangt von ihnen Pünktlichkeit, Engagement und eine ordentliche Sprache.

Wenn sie in der Organisation anfangen, fehlt es den jungen Leuten an einer Struktur und einem Bezugsrahmen. Der Film ist eine Hymne an die Energie der sogenannten Brennpunktvierteln. Er zeigt, dass diese Jungs über sich hinaus wachsen, wenn man ihnen vertraut und ihnen eine Perspektive für ihre berufliche Zukunft bietet. Daoud hatte bis dato eine Erfolgsquote von 100 Prozent: All die von ihm angestellten Jugendlichen machten ihren Abschluss und arbeiten nun als Pflegekräfte.


Hatten Sie zunächst Angst, mit den Autisten zusammenzutreffen, die im Film mitspielen?

Ja, ein wenig - und ich musste diese Angst irgendwie überwinden. Sie sind eigentlich alle Engel, aber ihre Behinderung manifestiert sich wieder durch Stöße mit dem Ellenbogen oder mit dem Kopf. Die Gründe dafür haben nichts mit Gewalt zu tun. Diese Kinder und Jugendliche spüren ihren Körper nicht. Wobei es schwierig ist, das mit Sicherheit zu sagen, denn es gibt mehr als 250 nachgewiesene Formen von Autismus. Was Codes und Gewohnheiten angeht, sind wir diesen jungen Menschen gegenüber auf verlorenem Posten. Ich musste ihre Welt nicht erobern, vielmehr habe ich mich von ihr erobern lassen. Die autistischen Kinder und Jugendlichen haben keine Filter, keine Hintergedanken. Wir, die Schauspieler schon manchmal. Wird man mich gut finden? Wird mir diese Rolle weitere Angebote bescheren? All diese Dinge, die unsere Arbeit schrecklich stören. Mit diesen Jugendlichen muss man auf eine andere Art der Kommunikation umschalten.


Der Film ist auch eine Komödie. Davor haben Sie noch nicht viele gemacht, oder?

Bei diesem Film hatte ich das Gefühl, auf einem Klavier Tasten anzuschlagen, die ich noch nie berührt hatte. Und dann ist alles sehr fließend zwischen Éric und Olivier. Wenn einer gerade nicht mehr kann, übernimmt der andere. Wir hatten sozusagen einen Regisseur mit vier Händen als Gegenüber, da war immer sehr viel Energie im Raum.


Wie war das Zusammentreffen mit Vincent Cassel?

Vincent und ich haben uns tatsächlich bei der Arbeit kennengelernt. Ich hatte große Lust, mit ihm zu spielen, aber zunächst einmal haben wir uns beschnuppert, wie das unter alten Schauspiel-Hasen so üblich ist. Am Set war es eine Freude, ihm zuzusehen, wie er mit der Herzlichkeit und Spontaneität, die sein Markenzeichen sind, die Bälle zurückgab, die ihm zugeworfen wurden. Er hat sich darauf eingelassen, diesen Film anders anzugehen: Nicht als ein Kinoabenteuer, sondern als ein menschliches.


Muss man sich im Leben dafür einsetzen, Normen zu brechen?

Unbedingt. Am Anfang dieses Projekts steht ein Paradox: Wir haben es mit einem Gesundheitsministerium zu tun, das einerseits Arbeit bestimmter Vereine und Organisationen nicht bewilligen will, andererseits aber implizit anerkennt, dass kein anderer die Arbeit, die sie leisten, machen möchte. Nun geht es aber inmitten dieser ganzen Diskussionen um das Leben der Autisten und das ihrer Familien. Für sie ist die Situation schrecklich und es trifft die ärmsten von ihnen, die es sich nicht leisten können, ihre Kinder in Obhut zu geben, um ab und zu ein bisschen durchzuatmen.


Sie sprechen viel von Ethik, wenn es um die Wahl Ihrer Rollen geht ...

Ich werde nie eine Rolle annehmen, mit der ich nicht einverstanden bin. Heute würde ich gern zur Einweihung des Zentrums in Oujda fahren und ALLES AUSSER GEWÖHNLICH an einem Abend unter freiem Himmel zeigen. Kein Film hätte mich weiter bringen könne, als dieser es vermochte.

Foto:
© Verleih

Info:
ALLES AUSSER GEWÖHNLICH (Hors normes)
von Éric Toledano & Oliver Nakache, F 2019, 113 Min.
Drama / Start: 05.12.2019

Besetzung
Bruno              Vincent Cassel
Malik               Reda Kateb
Hélène, Mutter von Joseph         Hélène Vincent
Dylan, Betreuer von Valentin       Bryan Mialoundama
Menahem, jüdischer Restaurantbesitzer      Alban Ivanov
Joseph                          Benjamin Lesieur
Valentin                         Marco Locatelli
Dr. Ronssin, Ärztin        Catherine Mouchet
Kontrollbeamter der IGAS       Frédéric Pierrot
Kontrollbeamte der IGAS        Suliane Brahim de la Comédie française
Ludivine, Krankenschwester           Lyna Khoudri
Shirel, Betreuerin                             Aloïse Sauvage