70. Berlinale vom 20. 2. - 1. 3.2020, GALAS, Teil 1
Claudia Schulmerich
Berlin (Weltexpresso) – Wenn ein Film zum Eröffnungsfilm eines Filmfestivals gewählt wird, dann denkt man sich bei den, sich als politisch verstehenden Internationalen Filmfestspielen Berlin, daß der Eröffnungsfilm gezielt ausgewählt wurde. Erst recht, wenn eine neue Leitung der Berlinale antritt und das 70te Festival gefeiert wird.
Wir haben den Film auch durchaus mit solchen Augen gesehen, mit kritischen Augen, weil in diesem Wohlfühlfilm eine Vergangenheit beschwört wird, die erst 25 Jahre zurückliegt, aber einem warm und einfach zu durchschauen vorkommt, noch nicht einmal Computer gab es oder Handys, verbunden mit einem New York, das wir alle lieben, ‚“wir“, das sind die, die es damals kannten, in der guten alten Zeit. Wir dachten uns, daß die Beschwörung eines warmen Amerika, einer literarischen Welt von damals auch damit zu tun habe, daß das heutige Amerika kalt und superkapitalistisch ist. Und daß so ein Film, in dem es gar nicht um Geld geht, die Wirklichkeit von heute entlarven solle.
Das Erstaunliche ist nur, daß es dem Regisseur darum gar nicht ging. In völliger Harmlosigkeit, so vermittelte Philippe Falardeau, hat er sich zur Verfilmung des erfolgreichen Romans von Joanna Rakoff entschlossen, mit einem winzigen gesellschaftspolitischen Anliegen, die Rolle der Frauen, ihre Kraft und ihren Einsatz für eine gelingende individuelle und soziale Gesellschaft deutlich zu machen. Mehr dazu in der Besprechung der Pressekonferenz nach der Filmvorführung im folgenden Artikel.
Die junge Schauspielerin Margaret Qualley brachte es auf den Punkt. Sie sagte, sie habe sich in ihrer Rolle als Joanna Rakoff gegenüber der erfolgreichen Literaturagentin Margaret (Sigourney Weaver) genauso gefühlt wie im richtigen Leben, nämlich als junge Schauspielelevin Margaret Qualley gegenüber der gesettelten, erfolgreichen Schauspielerin Sigourney Weaver.
Die junge Joanna kommt in den Neunzigern aus der Provinz nach New York, ihre Freundin zu besuchen, weiß aber, daß sie bleiben möchte, weil sie Schriftstellerin werden will, was ihr hier eher gelingen wird. Nun muß sie aber Geld verdienen, weshalb sie beide Motive zu verbinden sucht. So landet sie im Literaturgeschäft und kann als Assistentin der Literaturagentin Margaret anfangen, die u.a. auch Jerome David Salinger, den wir als D.J. Salinger (1919-2010) kennen, betreut. Der in Manhattan geborene Salinger ist der Ur-New Yorker, der mit DER FÄNGER IM ROGGEN weltbekannt wurde, weitere erfolgreiche Bücher schrieb und dann verstummte, sich aus der Öffentlichkeit zudem völlig zurückzog. Eh dieser Strang weiterverfolgt wird, muß sich Joana unter harten Bedingungen bewähren. Es ist die Zeit, wo sich der Computer auch in den Büros längst durchgesetzt hat, aber die Chefin erlaubt nur die Schreibmaschinen und ist auch ansonsten eine Beinharte, die genau weiß, was sie will und was sie nicht will: keine Angestellte, die sich für eine Schriftstellerin hält. Selber schreiben ist verboten. Und so scheitert die gefühlvolle Joana gleich bei ihrem ersten Arbeitsgebiet. Sie muß die Fanpost für Salinger lesen und schreddern? Warum lesen, wenn es eh weggeworfen wird. Und warum werden die Briefe weggeworfen? Lesen ist nötig, falls irgendwo ein Verdacht auf Gewalttätigkeit vorkommt. Denn der Attentäter, der John Lennon ermordet hatte, las gerade Salinger! Und weggeworfen werden sie, weil der Kultautor mit den Briefen nicht belästigt werden soll und will.
Hier ist wichtig, zu betonen, daß die echte Joanna Rakoff genau dies erlebt hat, zumindest sagt sie das, mit ihrem Job aufhörte und einen Roman daraus machte. Diesen Weg wird nun also Joana gehen. Sie beißt sich durch alle anfallende Arbeit durch und verkraftet die vielen Demütigungen, die ihr die Chefin angedeihen läßt. Längst wohnt sie nicht mehr bei der Freundin, sondern hat sich mit einem vitalen Möchtegernschriftsteller zusammengetan, und auf die Briefe ihres in der Heimat zurückgelassenen Freundes Karl einfach nicht geantwortet. Schlimmer noch, sie hat sie nicht gelesen, weil sie über die Anrede: Liebe Jo, nicht hinauskam, weil nur er sie so nannte. Aha, da bleibt also noch etwas übrig, was sicher gären wird.
Halt. Uns hat der Film lange richtig gut gefallen, weil solche Literaturverfilmungen, die in schönen alten Räumen mit vielen Büchern und noch mehr Stapeln von Manuskripten stattfinden, für uns etwas Heimeliges haben. Aber ab irgendwann, doch wir können den Punkt, die Szene exakt benennen, kam uns in den Sinn, was der Berlinale Jurypräsident gerade zwei Stunden vorher in der Pressekonferenz verkündet hatte. Auf die Frage nach seinen Kriterien, eine schauspielerische Leistung zu beurteilen, sagte er sinngemäß: er habe eine tolle Schauspielerin auf der Leinwand gesehen, die dramatisch spielte, weinte, und so voller Emotionen war, die sie ausdrücken konnte, daß er sich als Zuschauer mitten im Film sagte: „Hallo, diese Emotionen soll doch ich als Zuschauer bekommen, die Darsteller auf der Leinwand sollen möglich machen, daß ich die Gefühle habe.“ So aber bleibt es bei den Gefühlen der Filmdarsteller.
Genauso ging es mir auf einmal mit dem Film. Nicht nur, daß man genau wußte, wie es weitergeht, daß sich Joana von dem New Yorker Lover trennen wird und mit Karl wieder etwas möglich wird. Ich wußte auch – und kenne den Roman nicht – daß sich Joana so bewähren wird, längst darf sie schon Manuskripte lesen und beurteilen, daß ihr von Chefin Margaret eine bessere Position angeboten wird, die sie ablehnen wird, weil sie als Schriftstellerin, hier als Poetin reüssieren will.
Und genauso geschieht dann alles. Handwerklich ist der Film gut gemacht, die Schauspieler spielen genauso perfekt, aber es ist ein steriles Element eingedrungen in die Betrachtung, in die Beurteilung dessen, was man da sieht. Es ist tatsächlich eine unechte heile Welt, die man auf einmal spürt, weil man das Gefühl nicht mehr los wird, daß hier etwas kaschiert wird und etwas aus der Vergangenheit hochgeholt wird, wo alles harmlos gewesen sei. Seicht ist das, sentimental, nett verpackt, aber im Kern stinkreaktionär, auch wenn das Positive, daß Frauen hier Hauptrollen spielen, hoch gehalten werden soll.
Warum die 70. Berlinale, die sich wie gesagt, politisch versteht, mit diesem Film das Festival eröffnet, ist ehrlich gesagt nicht zu verstehen.
Nur eine kleine Schlamperei fällt auf. Es gibt kleine Nettigkeiten wie diese, daß der Einsamkeitsapostel Salinger bei seiner Agentin anruft, also immer seine Bezugsperson Joana ans Telefon bekommt, die er – notorisch nicht zuhörend und schwerhörig dazu – konsequent Suzanna nennt. Doch ohne Erklärung für den Zuschauer nennt er sie im letzten Drittel des Films bei ihrem richtigen Namen.
Foto:
1+2© Verleih
3© Redaktion
Info:
Regie, Buch
Philippe Falardeau, nach dem gleichnamigen Buch von Joanna Rakoff
Kamera Sara Mishara
Darsteller
• Margaret Qualley (Joanna)
• Sigourney Weaver (Margaret)
• Douglas Booth (Don)
• Seána Kerslake (Jenny)
• Brían F. O’Byrne (Hugh)
• Colm Feore (Daniel)
• Théodore Pellerin (Junge aus Winston-Salem)
• Yanic Truesdale (Max)
• Hamza Haq (Karl)
• Leni Parker (Pam)