kirberl20 malmkrog70. Berlinale 2020, erste Zusammenfassung

Kirsten Liese

Berlin (Weltexpresso) - Eine Pflegemutter will ihm den Teufel austreiben, ein Lehrer behauptet, der verhaltensgestörte Junge verdiene es nicht zu existieren. Es gibt noch viele andere schreckliche Kindheitserfahrungen in dem insgesamt eher traurigen, freudlosen Leben des 1899 in Zürich geborenen Malers Antonio Ligabue, dem der italienische Filmemacher Giorgio Diritti mit seinem Film „Volevo Nascondermi“ („Hidden Away“) ein Denkmal gesetzt hat. Es ist bislang einer der stärksten Beiträge im Wettbewerb der 70. Berlinale, was freilich recht gut dazu passt, dass der neue Leiter des größten deutschen Filmfestivals in Gestalt von Carlo Chatrian ebenfalls ein Italiener ist.

Mit Elio Germano, der den gebeutelten Künstler  eindringlich verkörpert, empfiehlt sich zugleich schon ein höchst achtbarer Kandidat für einen Darsteller-Bären.

Ein paar Rückblenden in die traumatische Kindheit genügen, um zu verstehen, warum dieser Toni eine störrische Person mit dem Gemüt eines Kindes ist,  der, wenn er ein Huhn malt, wie ein solches kräht und flattert, überhaupt eine besondere Liebe zu Tieren hegt, die ihn nicht so quälen wie die grausamen Menschen.

Noch lieber aber verwandelt sich Ligabue, der heute als einer der bedeutendsten Vertreter der naiven Malerei gilt, in Raubtiere. Er brüllt und faucht wie Tiger und Löwen, wenn er entsprechende Skulpturen macht, springt sie an,  reagiert schnell auch aggressiv, wenn  ihm etwas zuwiderläuft. Als  ihn beispielsweise jemand fragt, ob sich seine Bildhauerkunst nur auf Tiere beschränkt, wirft er seine Skulpturen kurzerhand wütend aus dem Fenster. Das sind freilich besonders dankbare Szenen für einen Schauspieler, der es versteht, sich seiner eigenwilligen Figur glaubwürdig anzunähern.

Und doch widerfährt dem „Störenfried“, nachdem die ordnungsliebende Schweiz ihn in die Heimat seiner Eltern zurückschickte, wo er lange Zeit ein trauriges Dasein in Armut und Obdachlosigkeit als einsamer Eremit fristete, auch Glück: Einer anderer Maler entdeckt das Außergewöhnliche seiner Kunst, macht ihn bekannt und verhilft ihm damit zu einer Rückkehr zu den Menschen. Und doch nimmt das Leben dieses Außenseiters, das Diritti mit ruhigen, schönen Bildern in Cinemascope nachzeichnet, ein trauriges Ende, als sich seine Sehnsucht nach der Verbindung mit einer Frau nicht erfüllt und er nach einem Schlaganfall wieder in Einsamkeit und Armut verfällt.

Zweifellos lebt das Kino von solchen packenden und berührenden Geschichten, aber bisweilen reicht auch eine weniger spektakuläre Geschichte aus, wenn sie so reizvoll umgesetzt ist wie der französische Beitrag „Le Sel Des Larmes“ von Altmeister Philippe Garrel. Mit kunstvoll komponierten Bildern in Schwarzweiß und Anflügen von trockenem, lakonischen Humor gibt der Franzose Einblicke in das Liebes- und Sexualleben eines jungen Mannes, der für eine Lehre zum Kunsttischler  nach Paris zieht, zwanghaft hübsche Frauen verführt und von einer Romanze in die nächste schliddert. Das erste Objekt der Begierde war vielleicht zu schüchtern, vor der zweiten Kandidatin ergreift Luc die Flucht, als sie ihm eröffnet, dass sie schwanger von ihm ist, weil er sich mitten in der Lehre der Rolle des Vaters noch nicht gewachsen sieht, die dritte schließlich bringt noch einen anderen Liebhaber mit. Das alles ist leicht komponiert wie es nur die Franzosen vermögen, und doch gewinnt dieser Film  unverhofft  an Tiefe über die Nebenfigur von Lucs Vater, der berührend am Leben seines Sohnes Anteil nimmt und dem Film über eine schicksalhafte Wendung einen völlig unerwarteten tragischen Ausgang beschert.

Überhaupt lässt sich nach den ersten Berlinale-Tagen ein positives Resümee ziehen, dies vor allem auch dank eines Meisterwerks in einem zusätzlichen neuen Encounters-Wettbewerb, der  „ästhetisch und strukturell wagemutigen Arbeiten von unabhängigen, innovativen Filmschaffenden eine Plattform bieten“ soll. „Malmkrog“, das dreistündige Opus des vielfach ausgezeichneten Rumänen Cristi Puiu, besticht mit atemraubend schönen Bildern von verschneiten Schneelandschaften, prächtigen Räumen in einem Herrenhaus des Fin de siècle und mit geistreichen, philosophischen Dialogen in bestem Französisch.

Es ist in erster Linie ein Konservationsfilm, in dem Gutsbesitzer Nikolai und seine vier Gäste über moralische Fragen nach Staatsräson und Krieg, die  Vorherrschaft der Europäer in der Welt, den christlichen Glauben und das Evangelium debattieren. Das hohe intellektuelle Niveau verdankt sich dem russischen Philosophen Wladimir Solowjow, der die Vorlage zu dem Drehbuch lieferte.

Das Schöne daran: Alle reden fern jedweder politischen Korrektheit frei und unzensiert.

Was nicht heißt, dass  Gutsbesitzer Nikolai nicht auch Einwänden erreichen, wenn er seiner Überzeugung Raum gibt, dass Europa seiner geistigen Elite wegen gegenüber primitiveren Kulturen die Vormachtstellung in der Welt gebühre.

Aber es wird so weitaus sachlicher, differenzierter, gepflegter und intelligenter gestritten als in der emotional aufgeheizten, zutiefst gespaltenen gegenwärtigen deutschen Gesellschaft.

Zu einem besonderen Werk der Filmkunst wird „Malmkrog“ darüber hinaus dank seines surrealen Anstrichs, diskutieren sich doch die Adeligen nicht nur im wahrsten Sinne des Wortes zu Tode, sondern sogar darüber hinaus endlos weiter.

Foto:
Malmkrog
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