berlitaline.essen70. Berlinale vom 20. 2. - 1. 3.2020, WETTBEWERB, Teil 11/18

Claudia Schulmerich

Berlin (Weltexpresso) –„Der Film gehört jedem, der ihn anschaut“, sagte auf der Pressekonferenz nach dem Film einer der Brüder D‘Innocenzo, die zusammen Regie führten. Übrigens schon zum vierten Mal im Wettbewerb eine Regie zu zweit. Und sie meinen damit, daß jeder Zuschauer das Seine in ihrem Film sieht und insofern auch Recht hat, den Film zu interpretieren. Dasselbe meinte Marcel Proust, wenn er sagt, jeder Leser ist der Leser seiner selbst.

Diese Haltung, die ich ansonsten bedingungslos teile, kann bei diesem Film zum Problem werden, weil er eine provinzielle Mittelschicht beschreibt, die gnadenlos sich selbst richtet. Dies ist ein schockierender Film, weil er keinen Ausweg zeigt. Für niemanden. Es geht um eine Reihenhaussiedlung in der Provinz, gesichtlos und so dicht aneinander gestaffelt, daß keine Intimität der Familien möglich ist und gleichzeitig die Nachbarn sich isolieren möchten.

Die Schwierigkeit, diesen Film souverän zu interpretieren, liegt schon in seiner Anlage, wo sophisticated ein Erzähler uns zum Narren hält und eine Geschichte erzählt, zu der gehört, er habe das Tagebuch eines Mädchens im Müll gefunden, gelesen, verwendet und weitergeschrieben, die er abschließt mit dem Hinweis: Der Film beruht auf einer wahren Geschichte, die auf einer Lüge basiert.“ Wie, was? Es geht um diese soziale Zwischenschicht, die Mittelschicht zu nennen, einem quer geht. Auf jeden Fall haben sie es zu einem kleinen Häuschen geschafft und sich auch Kinder angeschafft.

In der Eingangsszene, die ein Miteinander am Eßtisch der dominierenden Familie vorgaukelt – in italienischen Filmen wird gegessen, ein Zentrum des Films und absichtlich herbeigeführt – werden wir gleich Zeugen, wie die Kinder nach der Zeugnisvergabe vorgeführt werden: sie müssen ihre nur aus 1+ bestehenden Leistungen vorlesen. Aber es stellt sich kein echtes Mitleid mit den Kindern ein, denn sie sind letzten Endes Abbild ihrer so selbstgerechten wie orientierungslosen Eltern.

Wenn hinzugefügt wird, am Ende wird nur ein Kind überleben, soll nur angedeutet werden, daß Grausliches passiert, auf das wir nicht im Detail eingehen wollen, denn die Psychogramme der handelnden Personen sind wichtiger. Die Männer muß man gar nicht groß differenzieren, sie sind allesamt grobe, primitive Sexisten. Wir werden Zeugen, wie diese Bagage Frauen, die sie vor Augen haben, nur als ihnen verfügbare Sexobjekte herabwürdigen in einer Sprache der Gosse, daß man nicht glaubt, daß Familienväter so miteinander reden. Hauptobjekt ihrer herabwürdigenden Begierde ist die Hochschwangere, die später ihr Kind geboren hat und die aus dem Proletariat kommt, eine ordinäre Person, die bauernschlau auch die Kinder ausräubern will. Im Film ist man dann schon froh, endlich einem Menschen, der seine Wahrheit sagt, vorzufinden, so eklig sind diese sich besser fühlenden sozialen Aufsteiger, wobei wieder die Männer gemeint sind, denen die blasierten Frauen nicht nachstehen. Die lassen alles laufen, schützen nicht mal ihre Kinder.

Es herrscht eine unterdrückte Wut unter den Bewohnern, von denen wir drei Familien näher kennenlerne. Die Wut richtet sich gegen Sachen und Menschen. In der Pressekonferenz verwiesen die Regisseure auf die Unschuld der Kinder, daß sie für ihre Eltern nichts können, die so orientierungslos dahinleben. Aber ihr Film zeigt etwas anderes. Die Kinder sind nichts anderes als die schrecklichen Erwachsenen von morgen. Kinder sind nicht per se unschuldig. Sie sind Produkte ihrer Umgebung. So auch hier. Wenn der kleine Zehnjährige nachplappert, daß er mit der kleinen Nachbarin schlafen werde, ist das so abgeschmackt, weil zumindest dieser Junge noch überhaupt nicht über das Instrumentarium und auch nicht über die Lust verfügt, sondern einfach nachplappert, was ihm vorgemacht wird.

Überhaupt nicht angesprochen wurde etwas, was mir das Zuschauen vergällte. Eines der Mädchen ist wunderschön und wird von den Eltern auch als Puppe inszeniert. Über den Kinderszenen liegt etwas Pädophiles, von dem man ausgehen kann, daß die Regisseure das nicht beabsichtigt hatten und in diese Richtung auch keine Interpretationen wollen. Nun haben sie uns aber den Freibrief für eigenes Interpretieren gegeben, was wir hiermit tun.

Der Film rüttelt einen durch, weil nirgends ein Hoffnungsschimmer für ein besseres Leben aufscheint. Gewalt und Perversionen bestimmen das Leben.

Foto:
© Verleih

Info:
Buch und Regie: Fabio & Damiano D’Innocenzo
mit Elio Germano, Barbara Chichiarelli, Lino Musella, Gabriel Montesi, Max Malatesta