Bildschirmfoto 2020 10 07 um 21.41.14Serie: Die anlaufenden Filme in deutschen Kinos vom 8. Oktober 2020, Teil 1

Redaktion

Berlin (Weltexpresso) - Wie kam es zu diesem Projekt?

Es ist glücklichen Umständen zu verdanken. Ich verließ im Sommer 2017 UniFrance, wo ich über vier Jahre lang Präsident war. In meinen letzten Monaten dort war ich im Rahmen der weltweiten Pressetour für den Film ELLE von Paul Verhoeven viel mit Isabelle Huppert unterwegs. Wir verstanden uns gut. Am Ende dieser Promo-Reisen sagte ich ihr, dass ich wirklich gerne mit ihr zusammenarbeiten möchte. Sie antwortete gleich: „Oh ja, eine Komödie wäre toll!“ In der Zwischenzeit dachte Marc Irmer, der den Film DER PFLICHTVERTEIDIGER (2009) von Hannelore Cayre produzierte, bei der Verfi lmung ihres bejubelten Romans „Die Alte“ (La Daronne) an mich. Ich bekam das Buch und liebte es sofort. Ich mochte vor allem seine Tonalität und die Mischung aus Komödie und Thriller. Gleichzeitig sah ich auch das Potential eines sehr interessanten Frauenporträts, eine große Rolle für Isabelle Huppert. Ich stellte mir den Kontrast vor zwischen ihr, mit ihrer etwas zerbrechlichen Erscheinung, und der harten Männerwelt, mit Polizisten und Porsche Cayenne fahrenden Dealern. Und dann stellte ich mir ihre respektlose Art vor, wie sie mit den Männern umgeht.


Haben Sie sich mit Gerichtsdolmetschern getroffen?

Ja, mit zweien. Einer half uns bei der Übersetzung des Drehbuchs ins Arabische. Er kannte die Begriffe der Dealer. Dann hatten wir eine Dolmetscherin, die aus dem Portugiesischen übersetzte. Sie ist spezialisiert auf Fälle mit der brasilianischen Gemeinschaft, z.B. gefälschte Ausweispapiere, Kokainhandel usw. Sie gab uns Einblicke in ihre Arbeit. Sie übersetzt auch häufi g Abhörbänder von zu Hause. Manchmal bügelt sie dabei. Beide hatten an Polizeieinsätzen, wie der Verhaftung zu Beginn des Films, teilgenommen. Lange Zeit wurde diese Art der Arbeit übersehen: Juristische Dolmetscher wurden vom Justizministerium aus dem Budget für „Briefmarken und Umschläge“ bezahlt. Es gab keine Beiträge zur Altersvorsorge. Das hat sich erst vor kurzem geändert. Es erklärt, warum Patience sich Sorgen um ihre Zukunft macht.

Ich habe mich auch mit Polizisten der Drogenfahndung getroffen, um zu sehen, wie sie mit den Übersetzern zusammenarbeiten, wie die Verhöre ablaufen, das Warten und die langen Nächte der Abhörungen. Ich bat sie, die Szenen zu lesen, und sie gaben mir interessante Rückmeldungen.


Die Natürlichkeit des Films ist auch eng verbunden mit der Darstellung des heutigen Paris.

Im April 2017 zog ich nach Ménilmontant. Der Filmdreh ermöglichte mir, meine Nachbarschaft zu entdecken. Manchmal ging ich zu Fuß zum Set. Das kleine Hotel, in dem die Dealer verhaftet werden, ist in Couronnes, nur zwei Blocks von meiner Wohnung entfernt. Auch das Altersheim ist ganz in der Nähe. Einige der Drehorte habe ich selbst erkundet. Ich habe Fotos mit meinem Handy gemacht und dem Produktionsteam gesagt, sie sollen sich das ansehen. Auch habe ich nach höher gelegenen Aussichten gesucht, um Paris aus einer anderen Perspektive zu zeigen, wie die Sicht auf den Eiffelturm von der Rue de Ménilmontant. Diese Aufnahme zeigt das Hôtel-Dieu und den neuen Gerichtskomplex von oben, um dann die Stadt in den Blick zu nehmen, bevor man schließlich in sie eintaucht. Wenn ich nicht im Inneren eines Gebäudes drehen kann, weil ich keine Erlaubnis bekomme, zeige ich gerne das Äußere. Ich glaube, das macht die Sequenz glaubwürdig und authentisch. Ich hielt es für wichtig, das heutige Paris und die Stadtviertel um Belleville und Ménilmontant zu fi lmen, die man im französischen Kino nicht so oft sieht. Hier leben viele unterschiedliche Gemeinschaften nebeneinander, wie die Wenzhou-Community, die dort einige Geschäfte unterhält, aber auch Nordafrikaner, orthodoxe Juden usw. Ich wollte, dass dieser Schmelztiegel, der in amerikanischen Filmen ganz natürlich ist, auf der Leinwand erscheint, insbesondere bei den Statisten und ohne Karikaturen zu schaffen. Madame Fo, die vor ungefähr 20 Jahren nach Frankreich kam, hat ihren Akzent beibehalten, aber ihr Sohn spricht perfekt Französisch. Und ja, Hochzeiten in Wenzhou sind oft das Ziel von Überfällen, weil dort viel Geld      fließt! 


Wie hat sich Isabelle Huppert auf die Dreharbeiten vorbereitet?

Da sie kein Arabisch spricht, musste sie ihre Texte phonetisch lernen. Das ist harte Arbeit, was für sie kein Problem darstellt. Wir begannen mit den Dreharbeiten im November 2018. Bereits im Sommer hatten wir aber alle ihre Zeilen auf verschiedene Weise aufgenommen, gesprochen von einem Mann, von einer Frau, in normaler Geschwindigkeit oder verlangsamt. Sie lernte sie Silbe für Silbe, Intonation für Intonation. Ich machte mir ein bisschen Sorgen, weil es schon ziemlich schwierig ist. Ihr Trainer, der mit uns bis zu den Dreharbeiten arbeitete, beruhigte mich aber. Isabelle war vorher bei den Dreharbeiten für FRANKIE in Portugal. Ich glaube, sie lernte unseren Text zwischen den Aufnahmen, wann immer sie Zeit hatte. Als es soweit war, konnte sie alles auswendig. Es war erstaunlich. Im schlimmsten Fall hätten wir sie auch teilweise synchronisieren können. Aber es war nicht nötig. Die Marokkaner hörten sich ihre Texte an. Sie sagten, sie spricht gut, mit einem leichten französischen Akzent. Marité Coutard kreierte ihre Garderobe und machte sie zu einer reichen Matriarchin, die die kleinen Dealer beherrscht, wenn sie sich mit ihnen in einem Luxushotel trifft, oder zu einer bescheideneren Mutterfigur, wenn sie die Ware in einem vorstädtischen Lebensmittelladen weitergibt.


Isabelle Huppert ist eine Schauspielerin, bei der es mehr um Performance als um Intention geht...

Wir sprachen jeden Morgen, während der Maske, über die Szenen und Dialoge des Tages. Sie wollte absolut sicher sein, dass sie die Motivation und die Bedeutung hinter jeder Zeile verstanden hatte. Zum Beispiel bei der Szene, in der Madame Fo und Patience darüber sprechen, wie man Geld wäscht, wollte sie sicher sein, dass sie den Vorgang verstand. Wenn man sich auf die endgültige Form der Dinge geeinigt hat, macht man sich an die Umsetzung. Man muss das richtige Tempo, den richtigen Zeitpunkt für sie und ihre Schauspielpartner fi nden. Sie besitzt das Gespür, das ihr erlaubt, zu sagen: „OK, ich hab‘s“, oder „Noch mal, ich kann noch mehr aus der Sache rausholen“. Sie ist immer auf der Suche. Ich glaube, sie mochte diese Figur sehr, die ihr einen großen schauspielerischen Spielraum gab. Sie sagte, dass es selbst in der kleinsten Zeile so viel zu tun gäbe. Patience lügt sehr viel, um ihr Doppelleben zu verbergen. Isabelle musste manchmal Reaktionen erfi nden, Überraschung vortäuschen.


Liliane Rovère ist nur eine von mehreren schillernden Nebenrollen. Wie kamen sie alle zum Projekt?

Ich wollte Lilianes Einfallsreichtum und mochte den Hintergrund, dass sie mit ihrer Tochter jiddisch sprechen konnte. Wir wollten eine gegenwärtige Figur schaffen, die auch ein bisschen trocken mit Patience umgeht. In der Szene, in der Patience die Pfl egerin Khadija im Altersheim vor der Gefahr warnt, die von den Cherkaoui-Brüdern ausgeht, wies mich Liliane darauf hin, dass sie noch zu passiv ist: „Diese Figur könnte einige Geistesblitze in das Gespräch einbringen.“ Wir beschlossen, dass sie Kommentare abgeben würde über die Gesprächsfetzen, die sie aufschnappt, wie: „Wer war im Gefängnis.“ Dafür brauchte die Szene den richtigen Rhythmus, aber es hat sich gelohnt.

Schwieriger war es, Madame Fo zu fi nden. Jade ist Vietnamesin, aber es gelang ihr schnell, sich in eine Chinesin zu verwandeln. Sie entschied sich gleich für den komödiantischen Ansatz. Ich konnte sehen, dass sie mit dem Flow des Films im Einklang stand.

Die Casting-Leiterin Juliette Vincent und ich suchten auch in Kategorien wie der italienischen Komödie: Die Cherkaoui-Brüder sind ziemlich bedrohlich, aber für Scotch und Chocapic mussten wir ein Paar wie Laurel und Hardy fi nden. Sie sind Handlanger, und der Film verspottet sie sanft, ohne sie zu karikieren.


Was ist mit der Figur von Hippolyte Girardot?

Zunächst dachten wir an einen verrückteren Charakter. Dann erkannten wir, dass die Figur bodenständiger sein muss, sodass sie diese ziemlich verrückte Geschichte in einer gewissen Normalität verankert. Hippolyte spielte die Rolle sehr glaubhaft. Als Leiter des Drogendezernats besitzt er Autorität, hat aber auch einen distanzierten und sanften Charakter. Anhand seiner Gutmütigkeit und seiner Liebe zu Patience könnte man denken, dass er sich leicht manipulieren lässt, aber nur bis zu einem gewissen Punkt. Die beiden sind nicht auf der gleichen Wellenlänge: Er möchte eindeutig mit ihr ein neues Leben beginnen.


Der Film beginnt wie ein Thriller, geht dann in eine Komödie über und entwickelt sich allmählich zu einem Frauenporträt mit Gefühlsstärke. Waren diese drei Teile während der Schreibphase schon vorhanden?

Diese Struktur entstand im Schneideraum. Die Cutterin Valérie Deseine und ich sahen, wie der Film diesen Verlauf vorgab. Die Hauptfigur befreit sich von dem, was sie zurückhält. Sie wirft ab, was sie seit Jahren belastet. Sie erbt Schulden von ihrem Ehemann, der sich wie ihre Eltern in ziemlich undurchsichtigen Geschäften versuchte. Sie hat eine sichere Arbeit gefunden, die aber schlecht bezahlt ist. Und dann bot sich ihr diese Gelegenheit. Im Filmvergleich ist Patience eine Art THELMA UND LOUISE, nur dass sie nicht springt...


Bekommt sie das Boot ihres Vaters zurück oder ist das ein anderes mit ihrem Namen?

Sie kauft das Boot ihres Vaters zurück. Sie kann es sich leisten. Dies ist die Geschichte einer Frau, die beschließt, nicht mehr zu trauern und sich einen Teil ihres verlorenen Paradieses zurückzuholen. „Du könntest einen Neuanfang machen“, sagt eine ihrer Töchter zu ihr. „Was wäre, wenn ich beschließe, weiter Trübsal zu blasen?“, antwortet Patience. Sie ist auf eine fröhliche Art missgelaunt. In der letzten Phase des Schreibens bat ich meinen Sohn, Antoine Salomé, um seine Unterstützung. Er meinte, es fehle noch ein starkes Element, etwas Verrücktes: Patience wurde nicht zu der Matriarchin, nur um ihre Schulden zu bezahlen. In einer schlafl osen Nacht erinnerte ich mich an diese schönen italienischen Boote, Rivas, die Sammlercharakter haben. Isabelles rote Haare, das Boot aus Mahagoni, das ergab ein wunderschönes fi lmisches Bild. Ich unterbreitete der Autorin Hannelore Cayre meine Idee. Es kam keine Antwort, obwohl sie normalerweise sehr schnell reagierte. Also rief ich sie ein wenig ‚besorgt‘ an. „Hör zu, Jean-Paul, ich bin sehr bewegt. Ich schicke dir ein Foto.“ Als ich es bekam, war sie es als Kind auf einer Riva! Das Schiff hieß Hannelore.

Außerdem hat es Isabelle Huppert unheimlich viel Spaß bereitet, dieses Boot über einen marokkanischen See zu steuern. 



Der Regisseur Jean-Paul Salomé

Jean-Paul Salomé, 1960 in Paris geboren, ist ein französischer Regisseur und Drehbuchautor. Er studierte Filmwissenschaft an der Sorbonne, bis er sein Studium abbrach, um 1981 an Claude Lelouchs Film EIN JEGLICHER WIRD SEINEN LOHN EMPFANGEN als Aushilfe mitzuarbeiten. Nach einigen Dokumentationen erfolgte 1991 Salomés erste fi ktionale Regiearbeit für den Fernsehfi lm „Crimes et Jardins“, für den er auch das Drehbuch schrieb. Sein Kinodebüt feierte er drei Jahre später mit der französischen Komödie RACHE IST WEIBLICH (1994), für den er beim Festival du Film Policier de Cognac den Jurypreis erhielt. Es folgten Filme wie ARSÈNE LUPIN (2004), FEMALE AGENTS – GEHEIMKOMMANDO PHOENIX (2008) oder DAS CHAMÄLEON (2010), für die er ebenfalls auch federführend am Drehbuch mitwirkte. 2006 war Salomé Jurymitglied der Internationalen Filmfestspiele von Cannes. Ein Jahr später wurde er zum Präsident der französischen Autoren-, Regisseur- und Produzentengilde (ARP) gewählt. Dieses Amt behielt mit einer zweijährigen Unterbrechung bis 2012. Danach ernannte man ihn zum Präsident von UniFrance, der Auslandsvertretung der französischen Filmbranche, wo er von 2013 bis 2017 tätig war.


DIE FRAU MIT BERAUSCHENDEN TALENTEN ist sein erster Kinofilm nach seiner Amtszeit im Dienste des französischen Films.

Filmografi e (Auswahl):
2020 EINE FRAU MIT BERAUSCHENDEN TALENTEN
2013 JE FAIS LE MORT
2010 DAS CHAMÄLEON
2008 FEMALE AGENTS – GEHEIMKOMMANDO
PHOENIX
2004 ARSÈNE LUPIN
2001 BELPHÉGOR – DAS PHANTOM DES LOUVRE
1994 RACHE IST WEIBLICH

Foto:
© Verleih

Info:
F2020. R: Jean-Paul Salomé. D: Isabelle Huppert, Hippolyte Girardot, Fairda Ouchani u.a. 104 Min. Start: 8.10. Verleih: Neue Visionen

Abdruck aus dem Presseheft