Redaktion
Frankfurt am Main (Weltexpresso) - Was hat Dich an Pasolinis Reisereportage von vor 60 Jahren fasziniert?
Also, wenn ich ehrlich bin, wollte ich diese Reise rund um den italienischen Stiefel schon immer machen. Privat. Als italophiler Deutscher wollte ich so das Land durch eine lange Reise besser kennen lernen, verstehen, wie sich der industrialisierte Norden gegen den verarmten Süden absetzt, wie sich die verschiedenen Provinzen voneinander unterscheiden, das Gemeinsame wie das Trennende entdecken. Als ich im Fenster einer Buchhandlung dann dieses Buch „Die lange Straße aus Sand“ sah, kaufte ich es als erklärter Pasolini-Fan sofort, ohne auf den Inhalt zu achten und legte es beiseite. Als ich mich dann einige Wochen später in das Buch vertiefte, lag diese Reise, die ich schon immer vorhatte, plötzlich poetisch und prophetisch vor mir. Geschrieben vor sechzig Jahren, aber noch immer so aktuell wie damals. Der Stil der Reportage war damals neu, philosophisch, politisch und privat und noch heute aufregend spannend. Pasolini untersuchte dabei die Veränderungen, die sich durch die Industrialisierung des Landes bei den Menschen, in der Politik, im Alltag einstellten. Er benannte den Verlust von Dialekt und Klassenzugehörigkeit, er sah im gerade aufkommenden Tourismus der 60er Jahre im vorigen Jahrhundert eine große Gefahr und im immer stärker werdenden Konsumismus den Identitätsverlust der Menschen eines ganzen Landes: durch die Vereinheitlichung der Wunschproduktion. Er empfand dies schlimmer als jede Diktatur, nannte es den „hedonistischen Faschismus“, der mehr und nachhaltig die Menschen zu manipulierbaren, für die Mächtigen funktionierenden Wesen verändern wird. Seine Hoffnung lag im archaischen armen Süden der Halbinsel Italien, im Subproletariat der Industriestädte, zuletzt auch in der afrikanischen Migration, in der er Hoffnung auf Veränderung sah.
All das war in poetischer Form in diesem Buch zu lesen, das mit Fotos des berühmten Fotografen Paolo di Paolo illustriert war, und ich dachte bei mir, dass all diese Vorahnungen über die Entwicklung des Landes sich beinahe prophetisch eingestellt hatten: der überbordende Massentourismus, der zum Kollaps ganzer Städte führte (Beispiel Venedig), der Konsumismus, der durch das Internet global wurde und wie die Migrationsbewegungen aus Afrika eine Bedrohung (statt Befreiung) Europas wurden. Da entstand die Idee, statt nur einer privaten Reise einen Film mit seinen Visionen und Texten über das heutige Italien zu machen. Voilà: VOR MIR DER SÜDEN. Ein Roadmovie als Hommage an den Dichter, Filmemacher und Poeten Pier Paolo Pasolini.
Was verbindet Dich mit dem italienischen Filmregisseur, Dichter und Publizist Paolo Pasolini?
Schon mein ganzes berufliches Leben als Filmemacher begleitet mich der Autor, Philosoph und Poet Pier Paolo Pasolini als Vorbild. In meinen Anfängen Mitte der 1970er Jahre faszinierten mich seine neorealistischen Filme wie ACCATONE, MAMMA ROMA oder sein Dokumentarfi lm GASTMAHL DER LIEBE, eine Untersuchung des Sexualverhaltens der Italiener. Sie trafen mein politisches wie cinematographisches Herz. Er war DER Filmemacher, Schriftsteller, Intellektuelle für mich, er mischte die italienische Gesellschaft auf wie kaum jemand vor oder nach ihm. Pier Paolo Pasolini verehrte den Papst, liebte Fußball – die Kommunisten schlossen ihn als Homosexuellen aus, er lebte dennoch als einer der Ersten in Italien weiterhin offen offensiv homosexuell. Sein Tod im November 1975 bleibt mythenbehaftet – Tod im Strichermilieu oder organisierter Mord. Daran scheiden sich die Geister, obwohl das für mich ein politisches Attentat auf einen der kritischsten Denker wider das homophobe Establishment war.
Seine Werke wurden Meilensteine der Filmgeschichte: ACCATONE, MAMMA ROMA, DECAMERON und DIE 120 TAGE VON SODOM, dieser Spielfi lm über das Ausmaß unkontrollierter Machtausübung, der wie ein Dokumentarfi lm über die Machthaber in den Vernichtungslagern der Nazis daherkommt. Kaum zu ertragen in seiner Brutalität des Realen. Sein Werk reicht für mich ins Sakrale. Seine stärksten Filme montieren das kulturelle, prosaische Erbe Europas neu. Dazu gehören Filmepen wie DAS 1. EVANGELIUM MATTHÄUS (1964), EDIPORE – BETT DER GEWALT (1967) oder wie schon erwähnt das anthropologisch zutiefst pessimistische, in der Bildsprache schockierende Werk DIE 120 TAGE VON SODOM (1975). Seine filmischen Arbeiten beschränkten sich auf ein einziges Jahrzehnt (der 1960er Jahre), seine philosophischen Schriften und seine eigene Theorie des Kinos allerdings überdauerten ihn selbst. Als er 1975 umgebracht wurde, begann gerade meine eigene filmische Laufbahn – die maßgeblich von ihm beeinfl usst ist. Bis heute.
Die Kultur des Verreisens hat sich in den letzten 50 Jahren massiv gewandelt. Wie bewertest Du die jüngsten Entwicklungen des massenhaften Individual-Tourismus?
„5,62 Millionen Deutsche reisten 2016 nach Italien; die Zahlen steigen seit Jahren an. Weltweit gesehen rangiert Italien bei den beliebtesten Reisezielen nach Anzahl der Besucher im Jahr 2016 auf Rang fünf – mit einer Besucherzahl von insgesamt etwa 52,6 Millionen Besucher“, meldete der Nachrichtensender ntv.
In den 1950er und 1960er Jahren war Italien zum ersten Reiseland Europas geworden. Man durchquerte es mit Autos, deren Leistungsfähigkeit begrenzt war. Auch Pasolini reiste mit einem kleinen Fiat. Man übernachtete noch in Unterkünften, deren Aussehen und Komfort gerade im Umbruch war. Überall mischten sich Menschen, Lebensentwürfe und Körper, und überall gingen dabei Reste des Vergangenen noch in die Signaturen eines Kommenden ein, um wie in einem Wirbel erfasst zu werden und darin zu verschwinden. Die Strände waren nicht nur von Deutschen und Italienern, Reichen und Armen übersät. Hier vermischten sich Lebensstile und Temperamente, Befi ndlichkeiten und Schicksale, Lebensentwürfe und Verschlossenheiten, um, wie in Amalgamen, die Signaturen eines kommenden Europas vorzuzeichnen.
Der Tourismus heute versetzt auf seine Weise alles in Bewegung. In seinen Anfängen wollte sich der Tourismus aus der Erholung und Entspannung begründen, auf die Arbeitende Anspruch hätten, später aus dem Kampf um eine Exotik der Ferne, die sich der Tourist am Reiseziel als Statussymbol aneignen wollte. Beide Motive aber blieben einem noch trügerischen Selbstbild des Tourismus verhaftet. Die Vorstellung, aus dem eigenen Land aufzubrechen, um mit einem Mehrwert an „Erholung“ oder „Kultur“ heimzukehren, demontierte sich von Anfang an. Zwar werden auch heute noch Urlaubsregionen „erschlossen“ wie Anbaugebiete, Absatzmärkte oder Rohstoff quellen, doch als Tourist träumt der kleine Mann nicht den Traum des Kolonialherren, der eine Welt erschließt, um mit Beute zurückzukehren. Konsum, Tourismus und Internet erwiesen sich als unwiderstehliche Mächte. Sie setzten jenen „hedonistischen Faschismus“ in Szene, dessen Konturen Pasolini vorgezeichnet hatte. Diese Mächte schlossen mit dem ab, was sein Reisebericht von 1959 nur hatte skizzieren können: „Von der ‚kulturellen’ Gleichschaltung, die sich daraus ergeben hat, sind alle betroffen: Volk und Bourgeoisie, Arbeiter und Subproletarier. Der gesellschaftliche Zusammenhang hat sich im Sinne einer extremen Vereinheitlichung gewandelt. Es ist ein und derselbe Schoß, aus dem heute sämtliche Italiener kriechen.“ (Pier Paolo Pasolini)
Warum ausgerechnet Italien?
Wie in einem Brennglas könnte sich am Schicksal dieses Landes eine Logik durchgesetzt haben, die längst ganz Europa betrifft . Von Migrationsbewegungen erschüttert, von Ungleichzeitigkeiten gezeichnet und von unterschiedlichen Geschwindigkeiten, ökonomischen, sozialen und kulturellen Gefällen unterbrochen, steht der Name dieses Kontinents selbst auf dem Spiel. Spardiktate, technologische Revolutionen und drohende Finanzkrisen lassen nationalistische Ressentiments wuchern, die an Einfluss gewinnen. Und wie stets, wenn ein Konsens zerfällt, werden die Kämpfe um die mediale Deutungshoheit virulenter. Denn wo Begriffe fehlen, die der Wirklichkeit gewachsen wären, eskaliert der sogenannte „Fake“, der Wirklichkeiten produziert. Auch jetzt in der sogenannten „Coronakrise“ wird manifest, dass Solidarität unter den Staaten des europäischen Kontinents noch immer unter dem Einfluss von nationalen Kapitalinteressen steht, sie faktisch nicht stattfindet. Italien und Spanien hat es in dieser Krise am schlimmsten getroffen. Unverschuldet. Dort hat sich das Virus als erstes verbreitet, ist das Gesundheits- und Finanzsystem zusammengebrochen, die Krankenhäuser kollabierten, es gab die meisten Toten. Das Land war vorher schon am volkswirtschaftlichen Abgrund. Die Zentrale des europäischen Kontinents in Brüssel aber bleibt vage, verweigert wirkliche und direkte Hilfe. Kein Schuldenerlass, keine Eurobonds, das leistet dem Rückzug in die nationale Abschottung Vorschub. Wieder fühlen sich die Italiener (und die Spanier, und die Griechen mit den gestrandeten Flüchtlingen in den völlig überforderten Lagern) von Europa alleingelassen. Und wie ich meine, tun sie dies zu Recht.
Hattest Du noch andere – literarische oder filmische – Referenzen als die Pasolini-Reisereportage für VOR MIR DER SÜDEN, und wenn ja welche?
In mehreren starken allegorischen Bildern und mit einer drohenden Katastrophe im Hintergrund kündigte Pasolini Ereignisse an, die dann wirklich geschehen sind, nicht, weil er – wie schon gesagt – mythische Eigenschaften hatte, sondern weil ihm seine Analyse der Industrialisierung in der Moderne ermöglichte, eine bessere und genauere Darstellung der epochalen Lage als die Fortschrittsschwärmer zu liefern. Die Gegenüberstellung zwischen Norden und Süden (zwischen Wohlstandsgesellschaft und der armen marktlosen Landwirtschaft ) war von Pasolini schon damals als Hauptproblem bezeichnet worden, während er gleichzeitig den Wohlstandsmythos radikal kritisierte. „Was hat die Industrialisierung getan: sie hat ein Volk, die Arbeiter, die Niedrigsten aus ihren alten Traditionen herausgerissen, aus den besonderen, realen, konkreten Werten, und sie auf den Weg gebracht, Kleinbürger zu werden.“ (Pier Paolo Pasolini)
Dies alles erinnerte mich an Walter Benjamins Beschreibung eines Bildes von Paul Klee, das „Angelus Novus“ heißt. Ein bekanntes Bild und auch die Interpretation von Walter Benjamin wird vielen bekannt sein. Dennoch sei sie hier nochmals zitiert: „Ein Engel ist darauf (dem Bild) dargestellt, der aussieht, als wäre er im Begriff , sich von etwas zu entfernen, worauf er starrt. Seine Augen sind aufgerissen, sein Mund steht offen und seine Flügel sind ausgespannt. Der Engel der Geschichte muss so aussehen. Er hat das Antlitz der Vergangenheit zugewendet. Wo eine Kette von Begebenheiten vor uns erscheint, da sieht er eine einzige Katastrophe, die unablässig Trümmer auf Trümmer häuft und sie ihm vor die Füße schleudert. Er möchte wohl verweilen, die Toten wecken und das Zerschlagene zusammenfügen. Aber ein Sturm weht vom Paradiese her, der sich in seinen Flügeln verfangen hat und so stark ist, dass der Engel sie nicht mehr schließen kann. Dieser Sturm treibt ihn unaufhaltsam in die Zukunft, der er den Rücken kehrt, während der Trümmerhaufen vor ihm zum Himmel wächst. Das, was wir den Fortschritt nennen, ist dieser Sturm.“
Die Kritik und Bestandsaufnahme an den Ergebnissen oder Auswüchsen der Moderne, die wir Fortschritt nennen, oder Digitalisierung der Welt oder Globalisierung oder Massentourismus oder ökologischer Kollaps der Welt ist Gegenstand dieses Dokumentarfilms.
Welche Themen waren Dir für den Film wichtig?
Kein Thema, das ich je behandelt habe, entsprach dem Bild, dass ich vorher davon hatte. Je mehr über die Welt berichtet wird, je entfernter schaut sie zurück. Das hat Alexander Kluge in abgewandelter Form schon erkannt, und ich wollte mit diesem Film ausloten, wie präzise man sich einer Wirklichkeit nähert, die vor 60 Jahren bereits erahnt und beschrieben wurde. Wie das damals Zukünftige heute Gegenwart geworden ist und im Vergleich mit dem Vergangenen einen anderen Blick auf die Welt gestattet.
Natürlich kann eine solche Reise dann auch zu Widersprüchen führen und Pasolinis Sicht der Dinge widersprechen. Man kann Dinge finden, bei denen seine Sicht überholt ist. So zum Beispiel seine Naturbeschreibungen an spezifischem Ort, wenn Hotelkomplexe den Blick verstellen und ein ganzes Dorf seinen Arbeitsplatz dort gefunden hat und dabei die Fischerei und andere Handwerksberufe obsolet geworden und verschwunden sind - aber heute keine Not und keine Armut mehr herrscht.
Verändert hat sich auch der romantische Blick, den Pasolini auf die Küstenlandschaften und das Meer wirft , dieser Blick, der sich so heute nicht mehr wiederholen lässt, und zwar gerade wegen der globalen politischen Situation. Das Meer ist heute nicht mehr nur das Bild, das in seiner endlosen Weite die Sehnsucht der Touristen erfüllt, sondern auch Seeweg von Flüchtlingen, die nach Europa gelangen wollen. Die Richtung der Sehnsucht hat sich verkehrt! Das Meer hat sich als Bild politisiert! Der Blick darauf hat sich im Lauf der Zeit verändert, ist aber im Ergebnis auch eine Konsequenz aus dem, was Pasolini als Voraussetzung beschrieben hat. VOR MIR DER SÜDEN sollte im Ergebnis ausloten, wie offen man sich der Wirklichkeit annähern kann. Ich tat es in absolut spontaner Herangehensweise, ohne einer Recherchereise zuvor, mit Zufallsbegegnungen und einer wachen und neugierigen Haltung den Menschen und den Orten gegenüber.
Das Reisen und insbesondere die Reiseerfahrung hat einen Boom im Dokumentarfilm-Bereich ausgelöst. Filme wie WEIT oder EXPEDITION HAPPINESS waren Riesenerfolge im Kino. Wie erklärst Du Dir das Phänomen, und worin unterscheidet sich VOR MIR DER SÜDEN von diesen Filmen?
VOR MIR DER SÜDEN ist jenseits des essayistischen Ansatzes auch ein dokumentarisches Roadmovie, eine Art Reiseformat, das sich aber ausdrücklich und gerade gegen die üblichen Reiseformate im Fernsehen und im Kino wendet, die eben Teil daran haben, das Begehren zu produzieren, von dem Pasolini spricht und warnt. Der Film nimmt in diesem Sinne sich also einer bekannten Erzählform an, nur um sie gleichzeitig zu unterlaufen. Das unterscheidet meinen Film grundsätzlich von den genannten Werken wie WEIT oder EXPEDITION HAPPINESS. Die beiden Filme bedienen sich der Sehnsucht, den Alltag hinter sich zu lassen und irgendwo auf der Welt neu zu beginnen, ohne den Zwängen, denen man im Hier und Jetzt unterworfen ist. Wenn auch nur auf Zeit. Ich wollte mit meinem Film aber auf dieses Hier und Jetzt verweisen, am Beispiel Italien zeigen, dass individuelles Reisen heute kaum noch möglich ist, es Neues nicht mehr zu entdecken gibt, dass wir alle einer mächtigen (Tourismus)Industrie unterworfen sind, vor der es kein Entrinnen gibt. Nicht an den Stränden Italiens, nicht in den Alpen unter Schnee oder an den Sandstränden der Karibik.
Dennoch bediente ich mich dem klassischen Muster eines Reisefilms, eines Roadmovies, auf das klare Vorgaben und Erwartungshaltungen des Publikums warten. Eine festgelegte Reiseroute, spektakuläre Landschaft saufnahmen, Begegnungen, und natürlich ein Narrativ. Hier ein Reisetagebuch eines anderen, kein subjektives. Das erklärt auch die Tatsache, dass ich nicht selbst im Bild auft auche. Ein Auto, ein Fiat Millecento, mit dem schon Pasolini die Reise unternahm, steht als symbolisches „Alter Ego“, für die Off -Erzählung aus dem Reisetagebuch Pasolinis. Das Fahrzeug lässt Gewesenes in die Gegenwart einfallen, um beides gleichsam kurzzuschließen (Hans-Joachim Lenger).
Was hat für Dich den Reiz dieser Italienreise vor Ort ausgemacht?
Zum ästhetischen Prinzip wollte ich bei diesem Film die Zufallsbegegnung machen. Also keine vorbereiteten Interviews, ausgewählte Protagonisten, recherchierte Orte. Ich suchte Wahrhaftigkeit allein durch eine vorgegebene Reiseroute, die mich insofern frei von inhaltlichen Zwängen machte, da ich keinem bestimmten engen Thema hinterherreiste. Ich war offen für das, was bei einer Reise passiert. Ich verweilte auch nicht an Orten, vertiefte wie gewohnt die Lebensumstände meiner Protagonisten und erörterte ein thematisch vorgegebenes Thema. Ich hatte nur eine begrenzte Zeit und eine feste Route, und versuchte, jeden Tag den Abgleich mit dem Tagebuch Pasolinis zu machen. Ich traf völlig zufällig auf Menschen, mit denen ich ins Gespräch kam: über Pasolini, über ihre Lebensumstände, über die Situation des Meeres oder die maroden Straßen, ihre Arbeitsbedingungen oder warum keine ausländischen Touristen sich nach Kalabrien verirren. Ich traf Flüchtlingskinder auf den Straßen von Palermo oder den Angestellten eines neuen Resort-Hotels an der Amalfiküste, Campingplatzbetreiber oder Bauarbeiter einer zusammengebrochenen Autobahnbrücke nahe der Küstenstraße in Genua. Ich war auf dieser Reise permanent auf der Suche nach Bildern, die Pasolini antizipierte, als er über die Moderne, den Fortschritt, den Konsumismus nachdachte. Ich suchte Situationen, in denen alle Menschen beim Feiern den gleichen äußeren „Look“ anstreben, einer vorgegebenen Mode nacheiferten und dabei gleichzeitig Individualität für sich beanspruchen. Wie sie sich nur im „Selfi “ ihres Smartphones wirklich fanden. Wie das „Wohlgefühl“ der Urlauber neben der Armut der durch die europäische Wirtschaftskrise Ausgestoßenen keinen Anstoß nimmt, und wie das Bewusstsein der Menschen über sich und die Welt, in der sie leben, sich ändert, je weiter man vom Norden in den Süden reist, und die Träume doch dieselben bleiben. Vereinfacht gesagt, ich war auf der Suche nach einem filmischen Ausdruck für die leeren Versprechungen der industrialisierten Wunschproduktion. So sind die „heutigen“ Bilder, die an den Reisestationen Pasolinis entstanden, nicht nur „dokumentarisch“ im banalen Sinn. Sie lassen durchscheinen, so hoffe ich, was Pasolinis weit geöffneten Augen bis an die Grenzen eines Erblindens sahen, indem er in ihnen ein künftiges europäisches oder sogar globales Problem erblickte. Diese Reise filmisch festzuhalten, bedeutete deshalb nicht, sich im vermeintlich Vergangenen zu verlieren. Es bedeutete, in den Gebrochenheiten Italiens jene von Europa zu entziffern. Denn es sind „unsere“ Gebrochenheiten, wie wir es erneut in diesen Tagen erleben.
Wer war mit Dir auf Reisen, und wie haben die Mitreisenden zum Gelingen des Films beigetragen?
Ich war mit einem kleinen Team von fünf Personen und drei Fahrzeugen unterwegs, was mich flexibel und unser Team kommunikativ machte. Denn es war das erste Mal, dass ich mit einer mir unbekannten Crew aus jungen Leuten arbeitete. Die meisten von ihnen kamen aus Südtirol, weil wir ja eine deutsch-italienische Koproduktion waren. Und der Vorteil in Südtirol ist, dass die Menschen dort zweisprachig sind.
Mein Italienisch ist leidlich gut, meine Assistentin/Tausendsassa im Team, Nadja Röggla, war mit ihrem offenen Charakter für die (Zufalls)Gespräche mit den Menschen und ihrem Organisationstalent eine nicht wegzudenkende Hilfe. Ebenso ein bilingualer Tonmensch, Martin Fliri, der eine Menge Erfahrung für dokumentarische Filme fürs Kino mitbrachte und ein Kameramann, Thomas Eirich-Schneider, der mit seiner Erfahrung bei Milo Rau (DAS KONGO TRIBUNAL, 2017) beim Improvisieren und mutigen dokumentarischen Hineingehen in kritische Situationen großartige Bilder in 4K-Auflösung in Szene setzte. Die Weitwinkelaufnahmen im meist stehenden Bildausschnitt hatten eine dokumentarische Kraft , die fiktional auch nicht zu toppen gewesen wäre. Er erspürte Wahrhaftigkeit im Ausdruck eines Gesichts genauso wie in der Abbildung einer Landschaft . Er erkannte Situationen auf Anhieb und löste diese dann in Einstellungen auf, als ob sie inszeniert wären. Zuhause, das heißt in Berlin und Bozen, war eine kleine Schaltzentrale, mit Susa Kusche und Wilfried Gufler, die immer wussten, wo wir uns befanden. Sie mussten mit einem gewissen Vorlauf Genehmigungen einholen, Gesprächspartner recherchieren, notwendige Papiere besorgen und ab und an Serviceleute organisieren, soweit wir sie brauchen konnten. Mehr war nicht nötig ...
Wir waren knapp zwei Monate unterwegs, um auf nahezu 8.000 Kilometer täglich hellwach zu sein, zu sehen, zu entdecken, zu drehen – und nicht zu vergessen, zu fahren. Regie/Kamerawagen, Materialwagen und das „Spielauto“, ein Fiat Millecento (Fiat 1100), der vom Aufnahmeleiter Daniel Defranceschi gefahren wurde. Zu Pasolinis Zeiten das avancierteste Auto seiner Zeit, heute ein Oldtimer, der die Reise top überstand.
Ich hatte eine Super-8-Kamera mitgenommen, um besondere radikal-subjektive Momente festzuhalten und um dem Phänomen der Zeit Tribut zu zollen: Zelluloid für die Vergangenheit und ästhetisch kontrapunktisch zu den hochaufgelösten Bildern der digitalen Systemkamera. Ich freute mich darüber hinaus, wenn Martin Fliri sich aufmachte, um Töne zu sammeln, die nur ohne Kamera eingefangen werden können (keine Zusatzgeräusche) oder wenn Thomas Eirich-Schneider nachts mit seinem Assistenten Mattia Ottaviani loszog, wenn beide nicht schlafen konnten, um ausschließlich atmosphärische Stimmungen am Meer oder den nächtlichen süditalienischen Städten einzufangen. Für das Drehen bedeutete dies alles: gleiche Augenhöhe mit dem gesamten Team, beständig und ohne Pause Material sammeln für den Schnitt, den Andrew Bird mit all seiner Coolness (er editierte alle Filme von Fatih Akin) bereits zu schneiden begann, während wir noch unterwegs waren.
Du erzählst im Film auch von der wirtschaftlichen Geschichte Italiens. Warum sollte sich das deutsche Publikum dafür interessieren?
„Ich bin eine Kraft der Vergangenheit...“ sagte Pasolini. Seine Filme, Interviews und Sprache, die menschlich und voller Leben sind, dienen mir ausschließlich dazu, Wahrhaftigkeit heute in einem Land zu finden, das den Deutschen das Liebste seiner Nachbarländer ist. Das Land, das mit seinen frühen Migranten der 1950/1960er Jahren heute schon unser alltägliches Leben im eigenen Land weitgehend verändert hat. „Wir riefen nach Arbeitern. Und es kamen Menschen.“ (Max Frisch)
Dieses Zitat beantwortet die Frage sehr genau. Deutschland suchte im Wirtschaftswunder zu Beginn der 1960er Jahre verzweifelt Arbeitskräfte und fand sie vornehmlich im Süden Europas. Die meisten kamen aus Italien, was in jenen Jahren die größte Migrationsbewegung in Europa hervorgerufen hat: Drei Millionen Süditaliener wanderten innerhalb weniger Jahre in den Norden, dann über die Grenze der Schweiz zu uns und Frankreich. Heute ist das gesellschaftliche Leben in Deutschland nicht mehr ohne Pizzeria, Cappuccino und italienische Feinkostläden denkbar. Sie haben unsere Kultur erweitert, wurden von Gastarbeitern zu Mitbürgern, viele von ihnen schon in der dritten Generation. Noch immer ist Italien Deutschlands beliebtestes Reiseziel. Seit die Türkei totalitärer wird und auch Ägypten zum Risiko-Ferienziel durch terroristische Anschläge und dem Krieg im Nahen Osten, verbringen nun noch mehr Bundesbürger ihre Ferien am Gardasee oder an den Küsten Italiens, die ich in diesem Film abgefahren bin. Apulien, Sizilien, die Toskana und die Adria mit Campingplätzen sind „Hot Spots“ der deutschen Tourismusindustrie. Warum sollte dieses (Millionen)Publikum das nicht interessieren?
Und gerade in diesen Zeiten, wo Corona dieses Land in „Geiselhaft “ nimmt, wir jeden Tag die furchtbaren Bilder sehen müssen, wie Militärfahrzeuge die Särge der Toten in Bergamo bzw. der ganzen Lombardei in ferne Kühlhäuser bringen, wie die Wirtschaft dort wie bei uns zusammenbricht, wir erkennen müssen, dass kein nationalstaatliches Denken das Virus aufh ält. Genauso verhält es sich doch mit der Wirtschaft. Wir haben eine gemeinsame Währung – und damit auch eine gemeinsame Verantwortung zur Stabilisierung derselben. Es genügt nicht mehr, das Dolce Vita Italiens für ein oder zwei Wochen zu genießen und danach maulend auf die faulen „Itaker“ zu schimpfen. Was sie alles in der Krise falsch gemacht haben, warum sie nicht schon vorher besser gewirtschaft et haben, ecetera ecetera. Heute ist Solidarität in Form von Schuldenerlass und Eurobonds für ein Land ohne Touristen gefragt, das von Touristen lebt. Nur so kommt Italien wieder auf die Beine – und die Deutschen bekommen ihr Urlaubsland zurück. Um dieser Einsicht willen sollten sich viele für die wirtschaftliche Geschichte Italiens interessieren.
Welche Erlebnisse auf der Reise haben Dich am meisten beeindruckt?
Da ich seit über zehn Jahren zeitweise in Italien lebe, war ich beeindruckt, wie sehr das Nord-Süd-Gefälle das Land in zwei völlig unterschiedliche Teile trennt. Theoretisch weiß man das ja. Mailand, Rom, Turin und die Toskana prägen das Italienbild, prägten auch das meine. Als ich jetzt den Süden entdeckte – Neapel und die südlichen Provinzen wie Kalabrien, Sizilien, Apulien – war ich fassungslos überrascht. Das Land dort erinnert eher an Afrika mit seinen ärmsten Ländern und Provinzen. Industrieruinen prägen das Landschaftsbild, afrikanische Migranten arbeiten zu Tausenden auf den Tomatenfeldern unter erbärmlichen Bedingungen, die Dörfer sind verlassen und verfallen, der Tourismus hat es nicht südlicher geschafft als Rom. Armut und damit einhergehende Arbeitslosigkeit ist überall sichtbar. Ein anderes Land, das dennoch Italien heißt. Aber nirgendwo in Italien habe ich so freundliche Menschen getroffen, so offen und gastfreundlich, Menschen, die sprichwörtlich das letzte Brot mit dir teilen. Auch landschaftlich faszinierend mit seiner Weite und ohne die industrielle Zerstörung. Beeindruckt hat mich auch die Tatsache, dass Pasolini als Person und Dichter sowie als Filmemacher noch so präsent ist in fast allen Köpfen, quer durch die gesellschaft lichen Schichten. Ob Arbeiter oder Intellektueller, ob Fischer oder Beamter: Jeder hatte eine Erinnerung an ihn, eine persönliche Geschichte, die er zum Besten gab oder wenigstens einen Film oder ein Gedicht, das er erinnerte. Während hierzulande kaum einer den Namen buchstabieren kann. Und schlussendlich hat mich umgehauen, wie unser alter Fiat eine Sensation war, wo immer er auft auchte. Er wurde angefasst, bewundert, man suchte das Gespräch mit dem Fahrer, die Ah’s und Oh’s hörten nicht auf, wenn Menschen sich ihm näherten. Die Menschen dort sind in dieses Auto verliebt, und ich hatte manchmal den Eindruck, als ob sich das Zusammengehörigkeitsgefühl eines so unterschiedlichen Landes wie Italien sich im Millecento konzentriert. Faszinierend.
Filmografie Pasolini (Auswahl)
1975 DIE 120 TAGE VON SODOM
1974 EROTISCHE GESCHICHTEN AUS 1001 NACHT
1972 PASOLINIS TOLLDREISTE GESCHICHTEN
1971 DECAMERON
1969 MEDEA
1968 TEOREMA – GEOMETRIE DER LIEBE
1967 EDIPORE – BETT DER GEWA LT
1966 GROSSE VÖGEL, KLEINE VÖGEL
1964 DAS 1. EVA NGELIUM – M ATTH ÄUS
1964 GASTM AHL DER LIEBE
1962 MAMM A ROMA
1961 ACCATONE – WER NIE SEIN BROT MIT TRÄNEN ASS
1958 LIEBE HAT KURZE BEINE
Fotos:
©presseheft
Info:
STAB
Regie Pepe Danquart
Drehbuch. Pepe Danquart
Regieassistenz Nadja Röggla
Kamera Thomas Eirich-Schneider
Kameraassistenz Mattia Ott aviani
Montage Andrew Bird, Gregor Bartsch
Musik Amiina
Abspannsong Etta Scollo
Voice-over Ulrich Tukur
Ton Martin Fliri
Sounddesign Clemens Endress
Mischtonmeister Adrian Baumeister
Abdruck aus dem Presseheft
All das war in poetischer Form in diesem Buch zu lesen, das mit Fotos des berühmten Fotografen Paolo di Paolo illustriert war, und ich dachte bei mir, dass all diese Vorahnungen über die Entwicklung des Landes sich beinahe prophetisch eingestellt hatten: der überbordende Massentourismus, der zum Kollaps ganzer Städte führte (Beispiel Venedig), der Konsumismus, der durch das Internet global wurde und wie die Migrationsbewegungen aus Afrika eine Bedrohung (statt Befreiung) Europas wurden. Da entstand die Idee, statt nur einer privaten Reise einen Film mit seinen Visionen und Texten über das heutige Italien zu machen. Voilà: VOR MIR DER SÜDEN. Ein Roadmovie als Hommage an den Dichter, Filmemacher und Poeten Pier Paolo Pasolini.
Was verbindet Dich mit dem italienischen Filmregisseur, Dichter und Publizist Paolo Pasolini?
Schon mein ganzes berufliches Leben als Filmemacher begleitet mich der Autor, Philosoph und Poet Pier Paolo Pasolini als Vorbild. In meinen Anfängen Mitte der 1970er Jahre faszinierten mich seine neorealistischen Filme wie ACCATONE, MAMMA ROMA oder sein Dokumentarfi lm GASTMAHL DER LIEBE, eine Untersuchung des Sexualverhaltens der Italiener. Sie trafen mein politisches wie cinematographisches Herz. Er war DER Filmemacher, Schriftsteller, Intellektuelle für mich, er mischte die italienische Gesellschaft auf wie kaum jemand vor oder nach ihm. Pier Paolo Pasolini verehrte den Papst, liebte Fußball – die Kommunisten schlossen ihn als Homosexuellen aus, er lebte dennoch als einer der Ersten in Italien weiterhin offen offensiv homosexuell. Sein Tod im November 1975 bleibt mythenbehaftet – Tod im Strichermilieu oder organisierter Mord. Daran scheiden sich die Geister, obwohl das für mich ein politisches Attentat auf einen der kritischsten Denker wider das homophobe Establishment war.
Seine Werke wurden Meilensteine der Filmgeschichte: ACCATONE, MAMMA ROMA, DECAMERON und DIE 120 TAGE VON SODOM, dieser Spielfi lm über das Ausmaß unkontrollierter Machtausübung, der wie ein Dokumentarfi lm über die Machthaber in den Vernichtungslagern der Nazis daherkommt. Kaum zu ertragen in seiner Brutalität des Realen. Sein Werk reicht für mich ins Sakrale. Seine stärksten Filme montieren das kulturelle, prosaische Erbe Europas neu. Dazu gehören Filmepen wie DAS 1. EVANGELIUM MATTHÄUS (1964), EDIPORE – BETT DER GEWALT (1967) oder wie schon erwähnt das anthropologisch zutiefst pessimistische, in der Bildsprache schockierende Werk DIE 120 TAGE VON SODOM (1975). Seine filmischen Arbeiten beschränkten sich auf ein einziges Jahrzehnt (der 1960er Jahre), seine philosophischen Schriften und seine eigene Theorie des Kinos allerdings überdauerten ihn selbst. Als er 1975 umgebracht wurde, begann gerade meine eigene filmische Laufbahn – die maßgeblich von ihm beeinfl usst ist. Bis heute.
Die Kultur des Verreisens hat sich in den letzten 50 Jahren massiv gewandelt. Wie bewertest Du die jüngsten Entwicklungen des massenhaften Individual-Tourismus?
„5,62 Millionen Deutsche reisten 2016 nach Italien; die Zahlen steigen seit Jahren an. Weltweit gesehen rangiert Italien bei den beliebtesten Reisezielen nach Anzahl der Besucher im Jahr 2016 auf Rang fünf – mit einer Besucherzahl von insgesamt etwa 52,6 Millionen Besucher“, meldete der Nachrichtensender ntv.
In den 1950er und 1960er Jahren war Italien zum ersten Reiseland Europas geworden. Man durchquerte es mit Autos, deren Leistungsfähigkeit begrenzt war. Auch Pasolini reiste mit einem kleinen Fiat. Man übernachtete noch in Unterkünften, deren Aussehen und Komfort gerade im Umbruch war. Überall mischten sich Menschen, Lebensentwürfe und Körper, und überall gingen dabei Reste des Vergangenen noch in die Signaturen eines Kommenden ein, um wie in einem Wirbel erfasst zu werden und darin zu verschwinden. Die Strände waren nicht nur von Deutschen und Italienern, Reichen und Armen übersät. Hier vermischten sich Lebensstile und Temperamente, Befi ndlichkeiten und Schicksale, Lebensentwürfe und Verschlossenheiten, um, wie in Amalgamen, die Signaturen eines kommenden Europas vorzuzeichnen.
Der Tourismus heute versetzt auf seine Weise alles in Bewegung. In seinen Anfängen wollte sich der Tourismus aus der Erholung und Entspannung begründen, auf die Arbeitende Anspruch hätten, später aus dem Kampf um eine Exotik der Ferne, die sich der Tourist am Reiseziel als Statussymbol aneignen wollte. Beide Motive aber blieben einem noch trügerischen Selbstbild des Tourismus verhaftet. Die Vorstellung, aus dem eigenen Land aufzubrechen, um mit einem Mehrwert an „Erholung“ oder „Kultur“ heimzukehren, demontierte sich von Anfang an. Zwar werden auch heute noch Urlaubsregionen „erschlossen“ wie Anbaugebiete, Absatzmärkte oder Rohstoff quellen, doch als Tourist träumt der kleine Mann nicht den Traum des Kolonialherren, der eine Welt erschließt, um mit Beute zurückzukehren. Konsum, Tourismus und Internet erwiesen sich als unwiderstehliche Mächte. Sie setzten jenen „hedonistischen Faschismus“ in Szene, dessen Konturen Pasolini vorgezeichnet hatte. Diese Mächte schlossen mit dem ab, was sein Reisebericht von 1959 nur hatte skizzieren können: „Von der ‚kulturellen’ Gleichschaltung, die sich daraus ergeben hat, sind alle betroffen: Volk und Bourgeoisie, Arbeiter und Subproletarier. Der gesellschaftliche Zusammenhang hat sich im Sinne einer extremen Vereinheitlichung gewandelt. Es ist ein und derselbe Schoß, aus dem heute sämtliche Italiener kriechen.“ (Pier Paolo Pasolini)
Warum ausgerechnet Italien?
Wie in einem Brennglas könnte sich am Schicksal dieses Landes eine Logik durchgesetzt haben, die längst ganz Europa betrifft . Von Migrationsbewegungen erschüttert, von Ungleichzeitigkeiten gezeichnet und von unterschiedlichen Geschwindigkeiten, ökonomischen, sozialen und kulturellen Gefällen unterbrochen, steht der Name dieses Kontinents selbst auf dem Spiel. Spardiktate, technologische Revolutionen und drohende Finanzkrisen lassen nationalistische Ressentiments wuchern, die an Einfluss gewinnen. Und wie stets, wenn ein Konsens zerfällt, werden die Kämpfe um die mediale Deutungshoheit virulenter. Denn wo Begriffe fehlen, die der Wirklichkeit gewachsen wären, eskaliert der sogenannte „Fake“, der Wirklichkeiten produziert. Auch jetzt in der sogenannten „Coronakrise“ wird manifest, dass Solidarität unter den Staaten des europäischen Kontinents noch immer unter dem Einfluss von nationalen Kapitalinteressen steht, sie faktisch nicht stattfindet. Italien und Spanien hat es in dieser Krise am schlimmsten getroffen. Unverschuldet. Dort hat sich das Virus als erstes verbreitet, ist das Gesundheits- und Finanzsystem zusammengebrochen, die Krankenhäuser kollabierten, es gab die meisten Toten. Das Land war vorher schon am volkswirtschaftlichen Abgrund. Die Zentrale des europäischen Kontinents in Brüssel aber bleibt vage, verweigert wirkliche und direkte Hilfe. Kein Schuldenerlass, keine Eurobonds, das leistet dem Rückzug in die nationale Abschottung Vorschub. Wieder fühlen sich die Italiener (und die Spanier, und die Griechen mit den gestrandeten Flüchtlingen in den völlig überforderten Lagern) von Europa alleingelassen. Und wie ich meine, tun sie dies zu Recht.
Hattest Du noch andere – literarische oder filmische – Referenzen als die Pasolini-Reisereportage für VOR MIR DER SÜDEN, und wenn ja welche?
In mehreren starken allegorischen Bildern und mit einer drohenden Katastrophe im Hintergrund kündigte Pasolini Ereignisse an, die dann wirklich geschehen sind, nicht, weil er – wie schon gesagt – mythische Eigenschaften hatte, sondern weil ihm seine Analyse der Industrialisierung in der Moderne ermöglichte, eine bessere und genauere Darstellung der epochalen Lage als die Fortschrittsschwärmer zu liefern. Die Gegenüberstellung zwischen Norden und Süden (zwischen Wohlstandsgesellschaft und der armen marktlosen Landwirtschaft ) war von Pasolini schon damals als Hauptproblem bezeichnet worden, während er gleichzeitig den Wohlstandsmythos radikal kritisierte. „Was hat die Industrialisierung getan: sie hat ein Volk, die Arbeiter, die Niedrigsten aus ihren alten Traditionen herausgerissen, aus den besonderen, realen, konkreten Werten, und sie auf den Weg gebracht, Kleinbürger zu werden.“ (Pier Paolo Pasolini)
Dies alles erinnerte mich an Walter Benjamins Beschreibung eines Bildes von Paul Klee, das „Angelus Novus“ heißt. Ein bekanntes Bild und auch die Interpretation von Walter Benjamin wird vielen bekannt sein. Dennoch sei sie hier nochmals zitiert: „Ein Engel ist darauf (dem Bild) dargestellt, der aussieht, als wäre er im Begriff , sich von etwas zu entfernen, worauf er starrt. Seine Augen sind aufgerissen, sein Mund steht offen und seine Flügel sind ausgespannt. Der Engel der Geschichte muss so aussehen. Er hat das Antlitz der Vergangenheit zugewendet. Wo eine Kette von Begebenheiten vor uns erscheint, da sieht er eine einzige Katastrophe, die unablässig Trümmer auf Trümmer häuft und sie ihm vor die Füße schleudert. Er möchte wohl verweilen, die Toten wecken und das Zerschlagene zusammenfügen. Aber ein Sturm weht vom Paradiese her, der sich in seinen Flügeln verfangen hat und so stark ist, dass der Engel sie nicht mehr schließen kann. Dieser Sturm treibt ihn unaufhaltsam in die Zukunft, der er den Rücken kehrt, während der Trümmerhaufen vor ihm zum Himmel wächst. Das, was wir den Fortschritt nennen, ist dieser Sturm.“
Die Kritik und Bestandsaufnahme an den Ergebnissen oder Auswüchsen der Moderne, die wir Fortschritt nennen, oder Digitalisierung der Welt oder Globalisierung oder Massentourismus oder ökologischer Kollaps der Welt ist Gegenstand dieses Dokumentarfilms.
Welche Themen waren Dir für den Film wichtig?
Kein Thema, das ich je behandelt habe, entsprach dem Bild, dass ich vorher davon hatte. Je mehr über die Welt berichtet wird, je entfernter schaut sie zurück. Das hat Alexander Kluge in abgewandelter Form schon erkannt, und ich wollte mit diesem Film ausloten, wie präzise man sich einer Wirklichkeit nähert, die vor 60 Jahren bereits erahnt und beschrieben wurde. Wie das damals Zukünftige heute Gegenwart geworden ist und im Vergleich mit dem Vergangenen einen anderen Blick auf die Welt gestattet.
Natürlich kann eine solche Reise dann auch zu Widersprüchen führen und Pasolinis Sicht der Dinge widersprechen. Man kann Dinge finden, bei denen seine Sicht überholt ist. So zum Beispiel seine Naturbeschreibungen an spezifischem Ort, wenn Hotelkomplexe den Blick verstellen und ein ganzes Dorf seinen Arbeitsplatz dort gefunden hat und dabei die Fischerei und andere Handwerksberufe obsolet geworden und verschwunden sind - aber heute keine Not und keine Armut mehr herrscht.
Verändert hat sich auch der romantische Blick, den Pasolini auf die Küstenlandschaften und das Meer wirft , dieser Blick, der sich so heute nicht mehr wiederholen lässt, und zwar gerade wegen der globalen politischen Situation. Das Meer ist heute nicht mehr nur das Bild, das in seiner endlosen Weite die Sehnsucht der Touristen erfüllt, sondern auch Seeweg von Flüchtlingen, die nach Europa gelangen wollen. Die Richtung der Sehnsucht hat sich verkehrt! Das Meer hat sich als Bild politisiert! Der Blick darauf hat sich im Lauf der Zeit verändert, ist aber im Ergebnis auch eine Konsequenz aus dem, was Pasolini als Voraussetzung beschrieben hat. VOR MIR DER SÜDEN sollte im Ergebnis ausloten, wie offen man sich der Wirklichkeit annähern kann. Ich tat es in absolut spontaner Herangehensweise, ohne einer Recherchereise zuvor, mit Zufallsbegegnungen und einer wachen und neugierigen Haltung den Menschen und den Orten gegenüber.
Das Reisen und insbesondere die Reiseerfahrung hat einen Boom im Dokumentarfilm-Bereich ausgelöst. Filme wie WEIT oder EXPEDITION HAPPINESS waren Riesenerfolge im Kino. Wie erklärst Du Dir das Phänomen, und worin unterscheidet sich VOR MIR DER SÜDEN von diesen Filmen?
VOR MIR DER SÜDEN ist jenseits des essayistischen Ansatzes auch ein dokumentarisches Roadmovie, eine Art Reiseformat, das sich aber ausdrücklich und gerade gegen die üblichen Reiseformate im Fernsehen und im Kino wendet, die eben Teil daran haben, das Begehren zu produzieren, von dem Pasolini spricht und warnt. Der Film nimmt in diesem Sinne sich also einer bekannten Erzählform an, nur um sie gleichzeitig zu unterlaufen. Das unterscheidet meinen Film grundsätzlich von den genannten Werken wie WEIT oder EXPEDITION HAPPINESS. Die beiden Filme bedienen sich der Sehnsucht, den Alltag hinter sich zu lassen und irgendwo auf der Welt neu zu beginnen, ohne den Zwängen, denen man im Hier und Jetzt unterworfen ist. Wenn auch nur auf Zeit. Ich wollte mit meinem Film aber auf dieses Hier und Jetzt verweisen, am Beispiel Italien zeigen, dass individuelles Reisen heute kaum noch möglich ist, es Neues nicht mehr zu entdecken gibt, dass wir alle einer mächtigen (Tourismus)Industrie unterworfen sind, vor der es kein Entrinnen gibt. Nicht an den Stränden Italiens, nicht in den Alpen unter Schnee oder an den Sandstränden der Karibik.
Dennoch bediente ich mich dem klassischen Muster eines Reisefilms, eines Roadmovies, auf das klare Vorgaben und Erwartungshaltungen des Publikums warten. Eine festgelegte Reiseroute, spektakuläre Landschaft saufnahmen, Begegnungen, und natürlich ein Narrativ. Hier ein Reisetagebuch eines anderen, kein subjektives. Das erklärt auch die Tatsache, dass ich nicht selbst im Bild auft auche. Ein Auto, ein Fiat Millecento, mit dem schon Pasolini die Reise unternahm, steht als symbolisches „Alter Ego“, für die Off -Erzählung aus dem Reisetagebuch Pasolinis. Das Fahrzeug lässt Gewesenes in die Gegenwart einfallen, um beides gleichsam kurzzuschließen (Hans-Joachim Lenger).
Was hat für Dich den Reiz dieser Italienreise vor Ort ausgemacht?
Zum ästhetischen Prinzip wollte ich bei diesem Film die Zufallsbegegnung machen. Also keine vorbereiteten Interviews, ausgewählte Protagonisten, recherchierte Orte. Ich suchte Wahrhaftigkeit allein durch eine vorgegebene Reiseroute, die mich insofern frei von inhaltlichen Zwängen machte, da ich keinem bestimmten engen Thema hinterherreiste. Ich war offen für das, was bei einer Reise passiert. Ich verweilte auch nicht an Orten, vertiefte wie gewohnt die Lebensumstände meiner Protagonisten und erörterte ein thematisch vorgegebenes Thema. Ich hatte nur eine begrenzte Zeit und eine feste Route, und versuchte, jeden Tag den Abgleich mit dem Tagebuch Pasolinis zu machen. Ich traf völlig zufällig auf Menschen, mit denen ich ins Gespräch kam: über Pasolini, über ihre Lebensumstände, über die Situation des Meeres oder die maroden Straßen, ihre Arbeitsbedingungen oder warum keine ausländischen Touristen sich nach Kalabrien verirren. Ich traf Flüchtlingskinder auf den Straßen von Palermo oder den Angestellten eines neuen Resort-Hotels an der Amalfiküste, Campingplatzbetreiber oder Bauarbeiter einer zusammengebrochenen Autobahnbrücke nahe der Küstenstraße in Genua. Ich war auf dieser Reise permanent auf der Suche nach Bildern, die Pasolini antizipierte, als er über die Moderne, den Fortschritt, den Konsumismus nachdachte. Ich suchte Situationen, in denen alle Menschen beim Feiern den gleichen äußeren „Look“ anstreben, einer vorgegebenen Mode nacheiferten und dabei gleichzeitig Individualität für sich beanspruchen. Wie sie sich nur im „Selfi “ ihres Smartphones wirklich fanden. Wie das „Wohlgefühl“ der Urlauber neben der Armut der durch die europäische Wirtschaftskrise Ausgestoßenen keinen Anstoß nimmt, und wie das Bewusstsein der Menschen über sich und die Welt, in der sie leben, sich ändert, je weiter man vom Norden in den Süden reist, und die Träume doch dieselben bleiben. Vereinfacht gesagt, ich war auf der Suche nach einem filmischen Ausdruck für die leeren Versprechungen der industrialisierten Wunschproduktion. So sind die „heutigen“ Bilder, die an den Reisestationen Pasolinis entstanden, nicht nur „dokumentarisch“ im banalen Sinn. Sie lassen durchscheinen, so hoffe ich, was Pasolinis weit geöffneten Augen bis an die Grenzen eines Erblindens sahen, indem er in ihnen ein künftiges europäisches oder sogar globales Problem erblickte. Diese Reise filmisch festzuhalten, bedeutete deshalb nicht, sich im vermeintlich Vergangenen zu verlieren. Es bedeutete, in den Gebrochenheiten Italiens jene von Europa zu entziffern. Denn es sind „unsere“ Gebrochenheiten, wie wir es erneut in diesen Tagen erleben.
Wer war mit Dir auf Reisen, und wie haben die Mitreisenden zum Gelingen des Films beigetragen?
Ich war mit einem kleinen Team von fünf Personen und drei Fahrzeugen unterwegs, was mich flexibel und unser Team kommunikativ machte. Denn es war das erste Mal, dass ich mit einer mir unbekannten Crew aus jungen Leuten arbeitete. Die meisten von ihnen kamen aus Südtirol, weil wir ja eine deutsch-italienische Koproduktion waren. Und der Vorteil in Südtirol ist, dass die Menschen dort zweisprachig sind.
Mein Italienisch ist leidlich gut, meine Assistentin/Tausendsassa im Team, Nadja Röggla, war mit ihrem offenen Charakter für die (Zufalls)Gespräche mit den Menschen und ihrem Organisationstalent eine nicht wegzudenkende Hilfe. Ebenso ein bilingualer Tonmensch, Martin Fliri, der eine Menge Erfahrung für dokumentarische Filme fürs Kino mitbrachte und ein Kameramann, Thomas Eirich-Schneider, der mit seiner Erfahrung bei Milo Rau (DAS KONGO TRIBUNAL, 2017) beim Improvisieren und mutigen dokumentarischen Hineingehen in kritische Situationen großartige Bilder in 4K-Auflösung in Szene setzte. Die Weitwinkelaufnahmen im meist stehenden Bildausschnitt hatten eine dokumentarische Kraft , die fiktional auch nicht zu toppen gewesen wäre. Er erspürte Wahrhaftigkeit im Ausdruck eines Gesichts genauso wie in der Abbildung einer Landschaft . Er erkannte Situationen auf Anhieb und löste diese dann in Einstellungen auf, als ob sie inszeniert wären. Zuhause, das heißt in Berlin und Bozen, war eine kleine Schaltzentrale, mit Susa Kusche und Wilfried Gufler, die immer wussten, wo wir uns befanden. Sie mussten mit einem gewissen Vorlauf Genehmigungen einholen, Gesprächspartner recherchieren, notwendige Papiere besorgen und ab und an Serviceleute organisieren, soweit wir sie brauchen konnten. Mehr war nicht nötig ...
Wir waren knapp zwei Monate unterwegs, um auf nahezu 8.000 Kilometer täglich hellwach zu sein, zu sehen, zu entdecken, zu drehen – und nicht zu vergessen, zu fahren. Regie/Kamerawagen, Materialwagen und das „Spielauto“, ein Fiat Millecento (Fiat 1100), der vom Aufnahmeleiter Daniel Defranceschi gefahren wurde. Zu Pasolinis Zeiten das avancierteste Auto seiner Zeit, heute ein Oldtimer, der die Reise top überstand.
Ich hatte eine Super-8-Kamera mitgenommen, um besondere radikal-subjektive Momente festzuhalten und um dem Phänomen der Zeit Tribut zu zollen: Zelluloid für die Vergangenheit und ästhetisch kontrapunktisch zu den hochaufgelösten Bildern der digitalen Systemkamera. Ich freute mich darüber hinaus, wenn Martin Fliri sich aufmachte, um Töne zu sammeln, die nur ohne Kamera eingefangen werden können (keine Zusatzgeräusche) oder wenn Thomas Eirich-Schneider nachts mit seinem Assistenten Mattia Ottaviani loszog, wenn beide nicht schlafen konnten, um ausschließlich atmosphärische Stimmungen am Meer oder den nächtlichen süditalienischen Städten einzufangen. Für das Drehen bedeutete dies alles: gleiche Augenhöhe mit dem gesamten Team, beständig und ohne Pause Material sammeln für den Schnitt, den Andrew Bird mit all seiner Coolness (er editierte alle Filme von Fatih Akin) bereits zu schneiden begann, während wir noch unterwegs waren.
Du erzählst im Film auch von der wirtschaftlichen Geschichte Italiens. Warum sollte sich das deutsche Publikum dafür interessieren?
„Ich bin eine Kraft der Vergangenheit...“ sagte Pasolini. Seine Filme, Interviews und Sprache, die menschlich und voller Leben sind, dienen mir ausschließlich dazu, Wahrhaftigkeit heute in einem Land zu finden, das den Deutschen das Liebste seiner Nachbarländer ist. Das Land, das mit seinen frühen Migranten der 1950/1960er Jahren heute schon unser alltägliches Leben im eigenen Land weitgehend verändert hat. „Wir riefen nach Arbeitern. Und es kamen Menschen.“ (Max Frisch)
Dieses Zitat beantwortet die Frage sehr genau. Deutschland suchte im Wirtschaftswunder zu Beginn der 1960er Jahre verzweifelt Arbeitskräfte und fand sie vornehmlich im Süden Europas. Die meisten kamen aus Italien, was in jenen Jahren die größte Migrationsbewegung in Europa hervorgerufen hat: Drei Millionen Süditaliener wanderten innerhalb weniger Jahre in den Norden, dann über die Grenze der Schweiz zu uns und Frankreich. Heute ist das gesellschaftliche Leben in Deutschland nicht mehr ohne Pizzeria, Cappuccino und italienische Feinkostläden denkbar. Sie haben unsere Kultur erweitert, wurden von Gastarbeitern zu Mitbürgern, viele von ihnen schon in der dritten Generation. Noch immer ist Italien Deutschlands beliebtestes Reiseziel. Seit die Türkei totalitärer wird und auch Ägypten zum Risiko-Ferienziel durch terroristische Anschläge und dem Krieg im Nahen Osten, verbringen nun noch mehr Bundesbürger ihre Ferien am Gardasee oder an den Küsten Italiens, die ich in diesem Film abgefahren bin. Apulien, Sizilien, die Toskana und die Adria mit Campingplätzen sind „Hot Spots“ der deutschen Tourismusindustrie. Warum sollte dieses (Millionen)Publikum das nicht interessieren?
Und gerade in diesen Zeiten, wo Corona dieses Land in „Geiselhaft “ nimmt, wir jeden Tag die furchtbaren Bilder sehen müssen, wie Militärfahrzeuge die Särge der Toten in Bergamo bzw. der ganzen Lombardei in ferne Kühlhäuser bringen, wie die Wirtschaft dort wie bei uns zusammenbricht, wir erkennen müssen, dass kein nationalstaatliches Denken das Virus aufh ält. Genauso verhält es sich doch mit der Wirtschaft. Wir haben eine gemeinsame Währung – und damit auch eine gemeinsame Verantwortung zur Stabilisierung derselben. Es genügt nicht mehr, das Dolce Vita Italiens für ein oder zwei Wochen zu genießen und danach maulend auf die faulen „Itaker“ zu schimpfen. Was sie alles in der Krise falsch gemacht haben, warum sie nicht schon vorher besser gewirtschaft et haben, ecetera ecetera. Heute ist Solidarität in Form von Schuldenerlass und Eurobonds für ein Land ohne Touristen gefragt, das von Touristen lebt. Nur so kommt Italien wieder auf die Beine – und die Deutschen bekommen ihr Urlaubsland zurück. Um dieser Einsicht willen sollten sich viele für die wirtschaftliche Geschichte Italiens interessieren.
Welche Erlebnisse auf der Reise haben Dich am meisten beeindruckt?
Da ich seit über zehn Jahren zeitweise in Italien lebe, war ich beeindruckt, wie sehr das Nord-Süd-Gefälle das Land in zwei völlig unterschiedliche Teile trennt. Theoretisch weiß man das ja. Mailand, Rom, Turin und die Toskana prägen das Italienbild, prägten auch das meine. Als ich jetzt den Süden entdeckte – Neapel und die südlichen Provinzen wie Kalabrien, Sizilien, Apulien – war ich fassungslos überrascht. Das Land dort erinnert eher an Afrika mit seinen ärmsten Ländern und Provinzen. Industrieruinen prägen das Landschaftsbild, afrikanische Migranten arbeiten zu Tausenden auf den Tomatenfeldern unter erbärmlichen Bedingungen, die Dörfer sind verlassen und verfallen, der Tourismus hat es nicht südlicher geschafft als Rom. Armut und damit einhergehende Arbeitslosigkeit ist überall sichtbar. Ein anderes Land, das dennoch Italien heißt. Aber nirgendwo in Italien habe ich so freundliche Menschen getroffen, so offen und gastfreundlich, Menschen, die sprichwörtlich das letzte Brot mit dir teilen. Auch landschaftlich faszinierend mit seiner Weite und ohne die industrielle Zerstörung. Beeindruckt hat mich auch die Tatsache, dass Pasolini als Person und Dichter sowie als Filmemacher noch so präsent ist in fast allen Köpfen, quer durch die gesellschaft lichen Schichten. Ob Arbeiter oder Intellektueller, ob Fischer oder Beamter: Jeder hatte eine Erinnerung an ihn, eine persönliche Geschichte, die er zum Besten gab oder wenigstens einen Film oder ein Gedicht, das er erinnerte. Während hierzulande kaum einer den Namen buchstabieren kann. Und schlussendlich hat mich umgehauen, wie unser alter Fiat eine Sensation war, wo immer er auft auchte. Er wurde angefasst, bewundert, man suchte das Gespräch mit dem Fahrer, die Ah’s und Oh’s hörten nicht auf, wenn Menschen sich ihm näherten. Die Menschen dort sind in dieses Auto verliebt, und ich hatte manchmal den Eindruck, als ob sich das Zusammengehörigkeitsgefühl eines so unterschiedlichen Landes wie Italien sich im Millecento konzentriert. Faszinierend.
Filmografie Pasolini (Auswahl)
1975 DIE 120 TAGE VON SODOM
1974 EROTISCHE GESCHICHTEN AUS 1001 NACHT
1972 PASOLINIS TOLLDREISTE GESCHICHTEN
1971 DECAMERON
1969 MEDEA
1968 TEOREMA – GEOMETRIE DER LIEBE
1967 EDIPORE – BETT DER GEWA LT
1966 GROSSE VÖGEL, KLEINE VÖGEL
1964 DAS 1. EVA NGELIUM – M ATTH ÄUS
1964 GASTM AHL DER LIEBE
1962 MAMM A ROMA
1961 ACCATONE – WER NIE SEIN BROT MIT TRÄNEN ASS
1958 LIEBE HAT KURZE BEINE
Fotos:
©presseheft
Info:
STAB
Regie Pepe Danquart
Drehbuch. Pepe Danquart
Regieassistenz Nadja Röggla
Kamera Thomas Eirich-Schneider
Kameraassistenz Mattia Ott aviani
Montage Andrew Bird, Gregor Bartsch
Musik Amiina
Abspannsong Etta Scollo
Voice-over Ulrich Tukur
Ton Martin Fliri
Sounddesign Clemens Endress
Mischtonmeister Adrian Baumeister
Abdruck aus dem Presseheft