Bildschirmfoto 2021 07 01 um 12.40.24Serie: Die anlaufenden Filme in deutschen Kinos vom 1. Juli 2021, Teil 18

Claudia Schulmerich

Frankfurt am Main (Weltexpresso) – Es geht einem das Herz auf bei diesem Dokumentarfilm, der den Untertitel trägt: DURCH ITALIEN AUF DEN SPUREN VON PIER PAOLO PASOLINI. Das hat auch mit dem unvergessenen italienischen Regisseur zu tun, der so tragisch durch einen bis heute mysteriösen Mord am 2. November 1975 am Lido di Ostia ums Leben kam. Aber mehr noch, mit welcher Liebe sich Pepe Danquart durch eine Reise auf seinen Spuren sich seiner erinnert. - und uns dabei mitnimmt.

Ob es eine geschickte Entscheidung war, diesen natürlich speziellen Film am 1. Juli, wo das Filmgeschäft wieder losgeht, in die Kinos zu geben, kann ich – wirtschaftlich - nicht beurteilen. Ich kann nur sagen, daß er unter all den so spektakulär am gestrigen Donnerstag, dem 1. Juli nach acht Monaten Kinopause gestarteten Filmen derjenige ist, der mir der wichtigste ist. Und – noch einmal – das hat sogar weniger mit Pasolini als mit dem Regisseur zu tun, der eine mustergültige filmische Arbeit vorlegt, die nicht nur die Ansprüche an einen derartigen Dokumentarfilm erfüllt, sondern darüberhinaus mit vollem Herzen und wachem Verstand eine Brücke schlägt zwischen dem Wirken von Pasolini und vor allem seiner Reise in den Süden und unserer Jetztzeit heute, weshalb Danquart genau diesselbe Strecke entlangfährt, also 2019 Italien umrundet, was nach – oder noch mitten in – Coronazeiten noch nachdenklicher macht.

Der Film beginnt irritierend. Da zeigt er den Massentourismus am Lido di Jesolo, die hintereinander aufgestellten Liegestühle, damit möglichst viele es am Strand bequem haben, die Frauen in Überzahl, in Bikinis, auch Badeanzügen, die beide, die Frauen und die Anzüge, schon bessere Tage - jünger, schlanker, - gesehen haben. Dann klärt uns ein einheimischer Tourismusmensch darüber auf, daß weitaus mehr Strand vorhanden ist als früher, denn man hat Sand aufgeschüttet...während er weiterspricht, und die schwarzen Strandverkäufer ins Bild kommen, die massenhaft Taschen oder Tücher mit sich führen und verkaufen wollen, kommen mir, dafür kann Danquart nichts, die Erinnerungen hoch. Als Kind durfte ich mit an den Lido di Jesolo, im Auto die ganze Strecke mit dem ersten kulturellen Höhepunkt MAILÄNDER DOM, den ich brav im nächsten Aufsatz MEIN SCHÖNSTES FERIENERLEBNIS konventionell abarbeitete und dem zweiten kulturellen Höhepunkt, das nahe Venedig, wo mir mein früh verstorbener Vater – er ist fast 50 Jahr tot – einen Ring kaufte, aus Gold mit einem Aquamarin. Damit fühlte sich ein kleines Mädchen wie eine Prinzessin.

Wie gesagt, dafür kann Danquart nichts, daß jedem, der Italien selber kennt, noch dazu das ‚alte‘ Italien, Erinnerungen hochkommen, denn Pasolini und Italien hat in meiner Generation eine ganz besondere Rolle gespielt, die für junge Menschen heute zwangsläufig kaum nachvollziehbar ist. Aber gleichzeitig ist VOR MIR DER SÜDEN überhaupt nicht nostalgisch, auch nicht romantisch verbrämt, sondern, ich sagte es schon, ein Film, der aus Liebe gemacht ist und seine Gegenstände: Pasolini und Italien sehr wahrhaftig nahebringt.

Nach dem Massentourismus zu Beginn kommen all die Individualitäten, die den Film auszeichnen. Dazu muß man etwas zu Danquarts Vorhaben erwähnen, was Sie noch viel besser in dem vorangegangenen Interview nachlesen sollten. Pasolini hatte nämlich 1959 auf der anderen Seite Italiens, am Ligurischen Meer, das weiter unten in das Thyrennische Meer übergeht, genaugenommen in Ventimiglia an der italienischen Riviera, nicht so weit von seinem Geburtsort Bologna entfernt, seine Reise begonnen, die ihn rund um Italien führte, so daß er – wiederum auf der anderen Seite – oben in Triest landete. Aber nicht nur die Reiseroute war die gleiche, auch das Auto war es. Damals war der kleine Millecento (Fiat 1100) ein Auto für jedermann, heute ist er Kult. Das bekräftigt der Regisseur, der schon wegen des Autos überall willkommen war. Allerdings fuhr er mit insgesamt drei Wagen. Denn den Fiat fuhr Aufnahmeleiter Daniel Defranceschi vorneweg, der Kamerawagen folgte, weshalb der Fiat oft im Bild ist, und der Materialwagen fuhr hintendran. Immerhin waren fast 8 000 Kilometer zu bewältigen, wofür die fünf Personen rund zwei Monate brauchten.

Das Besondere an dem Film ist, daß er einerseits ohne vorherige Recherche der Orte und Personen, ganz auf die Spontaneität der auf Interviews angesprochenen Leute sowie die des Teams setzt, was filmisch aufgeht. Man hat dauernd das Gefühl dabei zu sein, als sechste Person, wenn die Kamera über die Landschaften streicht, einzelne Gebäude, ob schön oder verfallen in den Blick nimmt und den Personen direkt ins Gesicht starrt, die sich zu Pasolini äußern, wenn sie gefragt werden. Und sie haben viele Meinungen.

Die Route war nicht nur durch Pasolinis Route festgelegt, sondern sie wird durch die von Ulrich Tukur gesprochenen Reisenotizen von Pasolini auch inhaltlich unterfüttert. Natürlich bleibt es nicht dabei, nach damals zu fragen. Aber schon das ist ein großes Glück zu erleben, daß Pasolini für Italiener lebendig geblieben ist. Sie können mit ihm etwas anfangen, positiv und negativ. Er ist in ihrem Gedächtnis. Und dieser Film hilft den Deutschen, auch das Italien von damals und den italienischen Skandalregisseur, als der er wahrgenommen wurde, bzw. zu dem er gemacht wurde, zum eigenen kulturellen Gedächtnis werden zu lassen.

Was sicher im Sinne Pasolinis wäre, das ist, daß die Interviews nicht mit „bedeutenden“, also prominenten Personen geführt werden, sondern einerseits mit Leuten, die ihn noch gekannt haben und andererseits durchaus mit Zufallsbegegnungen. Es sind also eher die kleinen Leute – die eigentliche Zielgruppe von Pasolini -, die hier zu Wort kommen und über ihr Italien, seine Veränderungen und ihr eigenes Leben räsonieren.

Nach diesem Film bekommt man eine ungeheure Lust, die Filme Pasolinis heute in einem Rutsch zu sehen, beispielsweise eine Hommage im Deutschen Filmmuseum in Frankfurt oder auch im Zeughauskino des Deutschen Historische Museums in Berlin. Schauen Sie sich die extra aufgeführte Filmografie an. Unglaublich, wieviele bedeutende Filme Pasolini in gut fünfzehn Jahren drehte. Kann einem Filmemacher wie Pepe Danquart ein höheres Lob ausgesprochen werden, als daß man flugs die Filme seines Protagonisten wiedersehen möchte.

Aber es ist mehr. Wir sind bei den Erinnerungen immer selber mit dabei. Denn wir vergleichen, so wir können, das Damals mit dem Heute. Und das ist zwieschlächtig. Denn früher war es nicht nur beschaulicher, war man mehr unter sich. Der Massentourismus, den wir eigentlich alle nicht wollen, aber die meisten vollziehen, hat eben auch Brot und Spiele in die Orte gebracht, wo vorher nur Armut herrschte. Zumindest im oberen Bereich Italiens. Der Süden ist so abgehängt vom Massentourismus wie von allem anderen. Soll man die Leute bedauern oder beglückwünschen. Das bleibt eine der Fragen.

Der Film ist eigentlich ein Widerspruch in sich. Das kann gar nicht gehen, was sich Regisseur Pepe Danquart vorgenommen hat. Aber es geht.


Filmografie  Pasolini (Auswahl)

1975 DIE 120 TAGE VON SODOM
1974 EROTISCHE GESCHICHTEN AUS 1001 NACHT
1972 PASOLINIS TOLLDREISTE GESCHICHTEN
1971 DECAMERON
1969 MEDEA
1968 TEOREMA – GEOMETRIE DER LIEBE
1967 EDIPORE – BETT DER GEWA LT
1966 GROSSE VÖGEL, KLEINE VÖGEL
1964 DAS 1. EVA NGELIUM – M ATTH ÄUS
1964 GASTM AHL DER LIEBE
1962 MAMM A ROMA
1961 ACCATONE – WER NIE SEIN BROT MIT TRÄNEN ASS
1958 LIEBE HAT KURZE BEINE

Fotos:
©presseheft

Info:
STAB

Regie                       Pepe Danquart
Drehbuch.                Pepe Danquart
Regieassistenz         Nadja Röggla
Kamera                    Thomas Eirich-Schneider
Kameraassistenz      Mattia Ott aviani
Montage                   Andrew Bird, Gregor Bartsch
Musik                        Amiina
Abspannsong           Etta Scollo
Voice-over                Ulrich Tukur
Ton                            Martin Fliri
Sounddesign            Clemens Endress
Mischtonmeister       Adrian Baumeister