Redaktion
Paris (Weltexpresso) - Ihr Film zeigt auch, dass die gesellschaftlichen, wirtschaftlichen und digitalen Teilungen, die inzwischen überall zu beobachten sind, alle miteinander zusammenhängen, nicht wahr?
BD: Selbstverständlich, all das hat miteinander zu tun. Vor einigen Tagen zeigten wir einen unserer Filme im „La Clef“, einem Aktivistenkino in Paris. Einen Film gemeinsam im Kino zu sehen ist eine vollkommen andere Erfahrung als alleine zuhause vor dem Fernseher oder dem Bildschirm zu sitzen. Deswegen auch die vielen Totalen: Es ist nicht unsere Aufgabe, mit Nahaufnahmen auf dieses oder jenes Detail zu fokussieren, sondern Sache des Publikums, die Bilder zu erkunden. Im Kino erlebt man diesen Moment gemeinsam, während du zuhause dabei ganz alleine bist und auch noch für all diese Digitalangebote bezahlst, die dich zusehends isolieren.
GK: Ganz gleich was man über die Gelbwesten denkt, hört man eine Sache immer wieder: Auf den Verkehrsinseln, wo sich die Protestler immer wieder versammelten, fingen die Menschen an, miteinander zu sprechen, sich auszutauschen und kennenzulernen. Das ist so wichtig! Das waren Nachbarn, die aber praktisch noch nie miteinander gesprochen hatten. Wie in unserem Film, der von drei einsamen Menschen handelt, die nebeneinander leben, sich aber bislang ignoriert hatten.
BD: Als Christine (Corinne Masiero) den Fahrservice kontaktiert, für den sie arbeitet, um herauszufinden, warum sie keine bessere Sterne-Bewertungen bekommt, wird sie gefragt, ob sie mehr Likes und Freunde will. Ihre Antwort ist: „Nein, ich habe alle Freunde, die ich brauche.“ Ich liebe diese Szene. Tatsächlich hat sie nämlich echte Freunde, während in der virtuellen Welt 10.000 Freunde eigentlich bedeuten, dass man keine hat.
GK: Durch die digitalen Technologien schließen immer mehr öffentliche Versorgungsbetriebe, was in ländlichen Gegenden natürlich noch deutlicher zu spüren ist, als in großen Städten. Es wird immer schwieriger, eine Post, einen Arzt oder ein Krankenhaus zu finden, denn die machen nach und nach alle zu.
Vieles, was Sie zeigen, ist natürlich alles andere als lustig. Trotzdem bringen Sie uns immer wieder zum Lachen.
GK: Wenn Bertrand (Denis Podalydès) zu einer anderen Postfiliale verwiesen wird, die 50 Kilometer entfernt ist, dann ist das natürlich komisch. Aber das Traurige daran ist, dass es eben tatsächlich so ist.
BD: Ich dachte, ich hätte mir die Formulierung „Herz von Hauts-de-France“ (so der Name der Region, in der der Film spielt, Anm. d. Red.) ausgedacht, aber sie existierte tatsächlich schon. Ein perfektes Beispiel für den unsinnigen Neusprech unserer Zeit. Klingt aber immer noch besser als „Foie de bas de France“ (wörtlich etwa: Leber von Niederfrankreich).
Obwohl Ihre Figuren knapp bei Kasse sind, sind Sie nicht mittelos. Sie zeigen damit, dass die aktuellen Krisen eben nicht nur die Ärmsten betreffen. Und dass nicht alle Konsumgüter, die an uns verhökert werden, uns auch wirklich glücklich machen.
BD: Immer, wenn ich an den Arsch der Welt zurückkehre und die Leute besuche, mit denen ich aufgewachsen bin, stelle ich fest, dass sie für heutige Verhältnisse gut dran sind. Ich bin auf einem Bauernhof aufgewachsen. Das war nicht unbedingt komfortabel, aber ich war glücklich. In den Vorstadt-Regionen des Landes befinden sich die Menschen heutzutage auch nicht in fürchterlichsten Notlagen. Aber sie leben auf Kredit.
GK: Die Wohnsiedlung, in der wir gedreht haben, ist gar nicht so schlimm, sondern eigentlich sogar ganz nett. Die Menschen, die dort leben, fühlen sich durchaus wohl. Allerdings fiel uns auf, dass sie kaum miteinander sprechen. Sie kommen abends nach Hause und gucken Fernsehen, von einer Art Gemeinschaft ist nichts zu spüren.
BD: Diese Menschen sind weniger in wirtschaftlichen als in existentiellen Nöten. Wir trafen einen Mann, der eigentlich auf den ersten Blick ein gutes Leben führte, mit Frau und Kindern im Einfamilienhaus. Er arbeitete in Paris, kam jeden Tag erst am späten Abend nach Hause – und irgendwann verlor er die Kontrolle. Er verbrachte viel zu viel Zeit mit dem Pendeln und stand ständig unter Druck. Nach einigen Jahren ertrug er das alles nicht mehr und brachte sich um.
GK: Die Kinder hatten oft ihr eigenes Zimmer, aber dort blieben sie auch und spielten Videospiele, ohne sich auch nur im Geringsten für unsere Anwesenheit zu interessieren. Wir drehten zwischen den Bewohnern dieser Siedlung und lebten beinahe bei ihnen. Einige von ihnen begegneten sich durch uns überhaupt zum ersten Mal.
Dank der Dreharbeiten passierte also im echten Leben, wovon auch der Film erzählt?
BD: Ja, und genau deswegen machen wir Filme. Jedes Mal erleben wir ein neues Abenteuer. Wir drehen immer on location und lernen die Menschen kennen, die dort leben. Und jedes Mal ist das auch für uns eine Bereicherung.
GK: Wenn wir in Häusern oder Wohnungen drehen, verändern wir dort nichts. Dafür ist es soziologisch viel zu interessant, die Inneneinrichtung anderer Menschen zu betrachten, ihren Geschmack und Lebensstil. Im Fall von ONLINE FÜR ANFÄNGER zum Beispiel stießen wir in jedem Haus auf eine Bierzapfanlage.
BD: Wir konnten das gar nicht glauben. Vermutlich, weil es keine Bar in der Nähe gab. Kein Drehbuchautor könnte sich so etwas ausdenken. Außerdem hatten alle riesige Fernsehapparate in ihren Schlafzimmern!
Basieren Ihre Filme eigentlich wirklich immer nur auf eigenen Erfahrungen und Beobachtungen oder auch auf Büchern? Ich denke da zum Beispiel an die Arbeit des Geografen Christophe Guilluy, der sich mit dem suburbanen Frankreich beschäftigt. Oder an Romane wie „Wie später ihre Kinder“ von Nicolas Mathieu.
BD: Ich lebe in einem Vorort, rund 15 Kilometer von Angoulême entfernt. Dort bewege ich mich grundsätzlich mit dem Fahrrad fort – einem elektrischen, wie ich zugeben muss. Entsprechend habe ich die Entwicklung Frankreichs in den letzten 20 Jahren sehr genau beobachtet, und es wundert mich nicht, dass sie von Filmen und Büchern aufgegriffen wird. GK: Als „Der Tag wird kommen“ in die Kinos kam, widmete das Wochenmagazin Télérama eine ganze Sektion dem Thema suburbanes Frankreich. Da kamen nicht nur wir beide, sondern auch der Fotograf Raymond Depardon und sicherlich auch besagter Geograph zu Wort.
BD: Ich will mich ja nicht brüsten, aber sobald ich sah, dass der Dieselpreis die Marke von 1,50 Euro pro Liter überstieg, wusste ich, dass es ernst wird. Daran bestand kein Zweifel. Die Leute wurden geschröpft, wie die Dodos. Erst ermutigte man sie dazu, fernab der Stadtzentren zu leben, wo es billiger war, Kredite aufzunehmen und auf Diesel zu setzen. Als dann der Dieselpreis quasi mit dem für Benzin gleichzog, brach dieses Konstrukt natürlich zusammen. In der Gelbwestenbewegung machte sich der Ärger darüber wie erwartet Luft. Kein Wunder, dass die Leute auf die Straße gingen, schließlich mussten sie das Gefühl haben, dass irgendwas mit dem System nicht stimmt. Im Fernsehen gibt es mehr Diskussionsrunden über Fußball als über die Renten, das ist doch verrückt!
In einer Szene spricht Christine über ihre Abhängigkeit nach Fernsehshows, so als seien das harte Drogen. Glauben Sie, dass Serien und TV-Shows ein Symbol der marktliberalen High Tech-Wirtschaft sind?
GK: Anfangs haben wir überlegt, den Film komplett am Telefon spielen zu lassen. Man fragte uns, wie wir das filmen wollen, ohne dass es todlangweilig wird, also dachten wir um. Aber es ist ja wirklich so, dass jeder von früh bis spät an seinem Telefon hängt, sogar die Älteren. Ich kann es wirklich kaum glauben! Das ist die neue Sucht. Dazu kommen Videospiele für die Kids und Fernsehshows für die Erwachsenen. Auch die machen abhängig, denn man hängt auf dem Sofa fest und ist glücklich, nicht irgendwo mit dem Auto hinfahren zu müssen. Mit der Zapfanlage und dem riesigen Fernsehbildschirm hat man ja quasi Bar und Kino direkt zuhause, was auch noch Kosten spart. Zumindest ist das der Eindruck, der erweckt wird. Am Ende muss man natürlich doch drei oder vier verschiedene Streaming-Abos abschließen, um all diese Serien gucken zu können.
BD: Zusammengerechnet verbringt man locker bis zu sechs Stunden am Tag mit Serien und Fernsehshows. Darauf umgelegt sind die Kosten sicherlich nicht allzu hoch. Allerdings zahlt man natürlich auch einen mentalen Preis: „bingen“ kommt schließlich vom englischen Wort für Exzess. Der Boss von Netflix hat kürzlich gesagt, ihre größte Konkurrenz sei der Schlaf der Leute. Ist das nicht unglaublich? Da wird um verfügbare Gehirn- und Lebenszeit konkurriert. GK: Früher haben wir uns an der Kaffeemaschine über Filme unterhalten, heute sind es Serien. Wer „Game of Thrones“ oder „Haus des Geldes“ nicht kennt, ist abgeschrieben. Und das Irre am Internet ist ja, dass inzwischen jeder bewertet wird, so wie Christine in unserem Film. Restaurants oder Taxis werden bewertet, aber genauso kann der Taxifahrer bewerten, ob du ein schlechter Fahrgast warst. Wir alle urteilen und werten in einer Tour, so wie früher in der Schule.
BD: Diese Bewertung ist letztlich eine Jagd nach Mängeln, um diese auszumerzen. Aber ist der Mensch nicht eine Summe von Mängeln? Geht’s bei der Menschlichkeit nicht genau darum? Wir freuen uns doch eigentlich alle so sehr darüber, irgendwann die Schule hinter uns zu lassen und wollen eigentlich nicht dahin zurück. Natürlich ist es toll, dort lesen, schreiben und rechnen zu lernen, aber gleichzeitig muss man sich eben auch anpassen und wird ständig benotet. Das kann man doch als Erwachsener nicht ernsthaft wieder wollen! Wenn wir irgendwann den Löffel abgeben, sagt uns dann irgendein Engel, dass er uns für unser Leben einen von fünf Sternen gibt? Was für ein Irrsinn!
FORTSETZUNG FOLGT
Foto:
©Verleih
Info:
Darsteller
MARIE BLANCHE GARDIN
BERTRAND DENIS PODALYDÈS VON LA COMEDIE- FRANÇAISE
CHRISTINE. CORINNE MASIERO
SEXTAPE TYP. VINCENT LACOSTE
ALIMAZONE LIEFERANT. BENOÎT POELVOORDE
GOTT BOULI LANNERS
BIOBAUER VINCENT DEDIENNE
SCHMAROTZER PHILIPPE REBBOT
SELBSTMÖRDER MICHEL HOUELLEBECQ
CATHYA CLEMENTINE PEYRICOT
SYLVAIN LUCAS MONDHER
REGIE & DREHBUCH
BENOÎT DELÉPINE & GUSTAVE KERVERN
Frankreich 2020
Länge: 112 Minuten Bildformat: 2,35:1 (cinema scope) Tonformat: 5.1
Abdruck aus dem Presseheft