pizza1Serie: Die anlaufenden Filme in deutschen Kinos vom 27. Januar 2022, Teil 3

Claudia Schulmerich

Frankfurt am Main (Weltexpresso) – Meine Güte, wie waren wir in den Siebzigern, hier den frühen, nicht nur naiv, sondern auch frech und unternehmungslustig mit einer inneren Leichtigkeit, die einen von heute her fast erstaunt, denn diese Jugend hatte ja mit Eltern zu tun, die – in Europa noch stärker als in den USA, dort aber auch – mit Kriegstraumata lebten, die gesellschaftliche Schwere erzeugten. Und genau dagegen begehrte die Jugend auf.

Das Wundervolle, aber auch Wunderliche an diesem schönen Film ist einfach, wie das Lebensgefühl einer Generation einer ganz speziellen Zeit auf der Leinwand lebt. Man hat wirklich den Eindruck, man sei in diesem Moment dabei im San Fernando Valley von San Francisco, wo die Geschichte spielt, die auch im Kern gar keine Geschichte ist, sondern eine Abfolge von Bildern, weil die Kamera den beiden wichtigsten Protagonisten in dieser Lebensphase ständig folgt.

Die Protagonisten sind eine erwachsene, wenngleich junge Frau und ein großer 16jähriger Junge auf dem Weg zum Mannwerden. Der Altersunterschied ist zehn Jahre, also dann schon wieder einer, wo eine 25jährige Alana Kane (Alana Haim), wenn sie sich mit dem 15jährigen Jungen trifft, Gary Valentine (Cooper Hoffman), nicht auf die Gedanken von Liebhaber kommen muß, was andererseits genau die sexuellen Phantasien des Pubertierenden ausmachen, der auch die Pickel und den Babyspeck dieses Alters trägt. Übrigens ist Licorice Pizza, der Name eines dortigen Schallplattenladens,für beide Hauptdarsteller Spielfilmdebüt. Bekannt sind sie in den USA beide. Alana Haim als eine von drei Schwestern der Rockband HAIM aus dem nämlichen Valley und Cooper Hoffman als Sohn des durch seinen Drogentod schrecklich und früh aus dem Leben gerissenen Philip Seymour Hoffman, für mich einer der stärksten Schauspieler. Den Debütanten stehen dann im Film geradezu konterkariert eine Menge der bekanntesten amerikanischen Schauspieler gegenüber, die alle kleine, aber feine Rollen spielen, die natürlich allein durch ihre bekannten Gesichter in sehr phantasievollen Perücken und den schrägen Kleidern der Siebziger hineißende Auftritte hinlegen.

Von vorne. Gary Valentine erblickt Alana Kane und ist hin. Er soll mit aufs Bild der Highschool in ihrem Jahrbuch, sie ist die Assistentin des Fotografen. Zu Hause erklärt er, er habe heute die Frau getroffen, die er heiraten wird. Doch so lange dauert der Film nicht. Und vor allem weiß sie nichts davon, weshalb sie wohl, als sie auf seine Einladung zum Ausgehen so leichthin anmerkt, das könne er sich nicht leisten. Das ist die erste Überraschung, daß dieser Knabe über viel Geld verfügt, eigenes Geld, weil er eine Firma gegründet hatte und überhaupt einer ist, der nicht nur ständig voller Gedanken steckt, sondern diese auch umsetzt. Da kann sie nur staunen, denn sie laboriert eigentlich noch am eigenen Leben herum, privat und beruflich.

Wir erleben also wie aus so gegensätzlichen Welten und Gefühlen auf einmal eine persönliche Ebene zwischen beiden entsteht, die weder durch Alter und ich möchte fast sagen: Geschlecht bestimmt ist. Die beiden verstehen sich einfach gut in ihren unkonventionellen Lebensansichten, aus denen die schrägsten Aktionen entstehen, von denen sicher die mit dem Wasserbett die skurrilste ist. Und absolut zeittypisch. Zeittypisch sind auch die Verfolgungsjagden im Film, zu Fuß, mit Auto und überhaupt, wo James Bond unterwegs war oder im Fernsehen Richard Kimble ewig auf der Flucht war. Da ist ständig Bewegung, die wichtiger ist, als das, worum es gerade geht. Zeittypisch sind auch die Schallplatten der Zeit und ihre Interpreten. Ja, genau so war es, daß Musik in der Luft liegt und eine Super 8 das Aufwachsen der Kinder verfolgt, was anschließend im Heim an die Wand geworfen wird.

Das Interessante an der Geschichte ist die gegensätzliche Orientierung des Paares. Der unternehmungslustige Knabe ist das Geschäftsgenie und zudem derjenige, dessen Gefühle alles in Gang setzen und letzten Endes auch die ganze Beziehung tragen. Wie Cooper Hoffman dies als – heute würde man sagen: Nerd – in Schwung bringt, ist beachtlich. Er hat eine Leinwandpräsenz, die einen sprachlos macht, weil sie einfach aus dem Nichts kommt. Er stolpert vor sich hin mit dem Hemd über der Hose und ist jederzeit cool zu einer Zeit, als es nicht cool war, cool zu sein, weil dies kein sprachlicher Ausdruck dieser Zeit war. Selten konnte man einen Schauspieler so unspektakulär spektakulär sehen! Dem gegenüber ist die doch so erwachsene Mitzwanzigerin gerade die, die sich durch den Schwung des Jungen mitziehen läßt, die eben noch keinen gefestigten Boden für sich selbst hat und nun auf einen derart selbstbewußten Jugendlichen trifft, wo sich der Zuschauer genauso wie sie fragt, woher der Junge das überhaupt hat. Aber er hat es, jede Sekunde und darum ist der Film noch viel interessanter als hier dargestellt.

Einfach ein schöner Film, der auch neugierig macht darauf, wie es mit Cooper Hoffman weitergeht.


Fotos:
©Verleih

Info:
STAB
Buch & Regie    PAUL THOMAS ANDERSON
Produktion        SARA MURPHY, ADAM SOMNER, PAUL THOMAS ANDERSON

BESETZUNG
Rolle                    Schauspieler                                     Synchronstimme
Alana                   ALANA HAIM                                    Maria Koschny
Gary                    COOPER HOFFMAN                         Patrick Baehr
Jon Peters          BRADLEY COOPER                          Tobias Kluckert
Joel Wachs         BENNY SAFDIE                                 Henning Nöhren
Rex Blau             TOM WAITS                                       Ekkehardt Belle
Jack Holden        SEAN PENN

133 Min 32 Sek