Serie: Die anlaufenden Filme in deutschen Kinos vom 21. April 2022, Teil 5
Robert Eggers
London (Weltexpresso) – Ich wollte nie einen Wikingerfilm machen. Ich hielt Wikinger immer für gewalttätige, grobschlächtige Unmenschen ohne interessante Aspekte. Meine Frau hingegen war sehr angetan von den Isländersagas, vielgeschätzten mittelalterlichen Geschichten von Wikingermythen, und sie wusste, dass ich sie auch lieben würde. Aber selbst auf ihr Drängen hin habe ich nie eines dieser tollen Bücher aufgeschlagen. Als wir dann 2015 nach Island fuhren, haben mich die gewaltigen und überwältigenden Landschaften restlos begeistert. Ich musste sofort an einsame Figuren aus dem 10. Jahrhundert denken, zu Pferde und regelrecht in den Schatten gestellt von übernatürlich gefärbten Bergen, Gletschern und einem scheinbar endlosen Himmel.
Die Elemente und das Elementare hatten etwas an sich, das förmlich aus den Landschaften herausschrie. In der Folge begann ich, mehr über Wikinger nachzudenken und erfuhr, was im Skandinavien der ersten Jahrzehnte des 10. Jahrhunderts wirklich existiert hatte, während ich gleichzeitig misstrauisch
wurde gegenüber den Neuinterpretationen und den eher ungenauen Elementen, die in den folgenden Jahrtausenden auf die Wikingerkultur projiziert wurden. Ich entdeckte eine vollständige, komplexe Zivilisation mit schöner Kunst, einer Verschmelzung von Kultur und Religion, fortschrittlicher Technologie, ausgefeilten Bräuchen sowie Ehren- und Gerechtigkeitskodexen.
Aber es war auch eine Kultur extremer Gewalt und Unterwerfung, eine Kultur mit nicht enden wollenden schrecklichen Rachezyklen. Die Menschheit, so scheint es, ändert sich nie. Vielleicht zieht es mich deshalb so in die Vergangenheit. Sie ist ein dunkler, ferner Spiegel. Nach einem schicksalsträchtigen Mittagessen mit Alexander Skarsgård wurde aus der Idee, einen Wikingerfilm zu machen, Wirklichkeit. Ich wusste (man möge mir die Hybris verzeihen), dass ich versuchen müsste, den Wikingerfilm zu machen. Den definitiven Wikingerfilm. Mit Hilfe des brillanten isländischen Schriftstellers und Dichters Sjón machten wir uns daran, den historisch genauesten und fundiertesten Wikingerfilm aller Zeiten zu drehen. Wir arbeiteten mit Archäologen und Historikern zusammen und versuchten, die Details der physischen Welt nachzubilden, während wir gleichzeitig probierten, die innere Welt des Wikingergeistes wertungsfrei einzufangen: den Glauben, die Mythologie und das rituelle Leben der Wikinger.
Das bedeute, dass das Übernatürliche in diesem Film genauso realistisch sein musste wie das Alltägliche – denn das war es auch für sie. Aktuelle Fernseh-, Film- und Videospieldarstellungen der Wikingermythologie sowie der altnordischen Kultur werden oft romantisiert und sollen auffällig und cool aussehen. Die
öffentliche Wahrnehmung eines Wikingers gleicht heute eher der eines Sci-fi-Rockstars als der einer altnordischen Priesterin, eines Bauern, eines Kriegers oder einer Königin. Mit unserer fanatischen Recherche versuchten wir, dieses Bild mit etwas so Bodenständigem und Elementaren wie den inspirierenden nordischen Landschaften neu zu definieren.
Die bildende Kunst der Wikingerzeit ist ebenso wie ihre Poesie reich, raffiniert und komplex – aber im Gegensatz zur Poesie ist sie abstrakt und nicht atmosphärisch. Visuell sollten es also Landschaften und die Elemente sein – Wind, Schlamm, Regen, Schnee, Schmutz, Eis, Asche und Feuer –, die die Atmosphäre dieses Films schaffen würden. Außerdem die Geräusche der Natur, begleitet von den Klängen von Instrumenten aus der Wikingerzeit. Die Kameraführung sollte versuchen, zeitlos zu sein, grafisch, organisiert, inszeniert – nüchtern und nordisch. Und diese sich ständig bewegende Kamera sollte hypnotisch und mitreißend sein – die langen Einstellungen, die in diese Welt entführen, um jene alte Epoche zu erleben, entfalten sich förmlich vor den Augen der Zuschauer. Diese langen, intensiven Einstellungen, die gleichzeitig die Geschichte erzählen, während sie das Publikum tiefer in diese Kultur eintauchen lassen, erforderten enorme Disziplin und eine reibungslose Zusammenarbeit.
Alle Beteiligten, von den Schauspielern, den Kamera- und Stuntleuten, den Kostümbildnern, Juwelieren, Waffenschmieden, Requisiteuren, Tierpflegern,
Birkenhorn- und Knochenflötenspielern bis hin zu den Studiobossen, konzentrierten sich geschlossen auf das Ziel, dieses eine zusammenhängende Meisterwerk gemeinsam zu kreieren, das in der Geschichte wurzelt. Wir alle motivierten uns gegenseitig, unser Bestes zu geben und über unsere Fähigkeiten hinauszuwachsen. In der altnordischen Schöpfungsgeschichte bestehen die Welt und ihre Elemente aus den Körperteilen eines getöteten Riesen. Wir alle bildeten gemeinsam – und nur gemeinsam – diese Teile: das Blut, die Knochen, die Zähne und das Gehirn des unvollkommenen erschlagenen Riesen: THE NORTHMAN.
Foto:
©Verleih
Info:
STAB
Regie ROBERT EGGERS
Drehbuch ROBERT EGGERS, SJÓN
BESETZUNG
Rolle Schauspieler Synchronstimme
Amleth ALEXANDER SKARSGÅRD Sascha Rotermund
Fjölnir CLAES BANG Thomas Schmuckert
Königin Gudrún NICOLE KIDMAN Petra Barthel
Olga ANYA TAYLOR-JOY Lina Rabea Mohr
König Aurvandil ETHAN HAWKE Frank Schaff
Heimir WILLEM DAFOE Reiner Schöne
Junger Amleth OSCAR NOVAK Vicco Clarén
Abdruck aus dem Presseheft