Die Wettbewerbsfilme der 64. Berlinale vom 6. bis 16. Februar 2014, Film 20

 

Claudia Schulmerich

 

Berlin (Weltexpresso) – Einen rundherum schönen Film sah man mit Richard Linklaters BOYHOOD, an dem das Besondere ist, daß er 12 Jahre lang immer für zwei Wochen einer Filmfamilie beim Großwerden und den kleinen Dingen des Alltags zusah, eine geradezu kulturgeschichtliche Tat, die auch einen kleinen Schuß von Melancholie erzeugt, einfach dadurch, daß das Leben so schnell vorbei geht.

 

Diese Erkenntnis spricht deutlich die Mutter Olivia (Patricia Arquette) von Mason (Ellar Coltrane) und Samantha (Lorelei Linklater) aus, als auch der Sohn das Zuhause Richtung College verläßt, was ja auch ihr Wunsch ist, das Haus nun zu groß ist und verkauft wird: Jetzt fühlt sie ihr Leben vorbeigeglitten und fragt sich, war das alles?, denn jetzt kann sie nur noch auf ihre Beerdigung warten, sagt sie. Der Vater Mason (Ethan Hawke) dagegen ist zu Beginn des Films der nette Chaot, der seine Frau mit den Kindern verlassen hatte, schon lange aber ein neue Frau und einen weiteren Sohn hat, die miteinander glücklich sind, und der zum Filmschluß äußerst: „Jetzt bin ich der kastrierte Langeweiler, den Olivia vor 20 Jahren wollte.“ Das sehen die Zuschauer anders, die den ganzen Film über in diesem Mason doch eigentlich die stabilste Figur kennenlernen, zumal einen Vater, der seinen Kindern ein echter Vater ist.



Die verantwortungsvolle Olivia dagegen, die mit den Kindern alleinerziehend ihr Studium beendete und erfolgreich als Lehrerin arbeitet und als sehr gefestigte Person mit durchaus strengen Grundsätzen erscheint, die gerät immer wieder an die falschen Männer. Männer, die sich erst um sie bemühen und dann den Tyrannen herauskehren, was mehrere Scheidungen bedeutet und erst einmal ein Alleinsein im Alter. Aber eigentlich geht es in diesem Film um die Kinder. Richard Linklater, dem wir schon die unterhaltsamen und soziologisch-psychologisch spannenden Filme der drei BEFORE-Filme verdanken – die alle auf Berlinalen liefen, BEFORE MITNIGHT 2013, immer mit July Delpy und Ethan Hawks – hatte die Idee, einer Filmfamilie beim Leben zuzuschauen und eben über 12 Jahre deren Entwicklung und die wichtigsten Ereignisse abzubilden. Samantha, die in Wirklichkeit die Tochter des Regisseurs ist, spielt ebenfalls eine große Rolle, smart und durchsetzungsfähig, aber der Film spricht aus den Augen und der Seele des Sohnes Mason, der ein verträumter Junge war und zu einem nachdenklichen und künstlerisch interessierten jungen Mann herangewachsen ist. Ihn nervt die quirlige Schwester und er denkt sich seinen Teil, aber er spielt bei allem mit und versucht, auf eigene Art zu dem zu kommen, was er wirklich will.

So erleben wir viele Erziehungssituationen, die den guten Willen von allen erfordern, wir erleben die Selbstsucht von Kindern, aber auch den Kontrollwahn von Erwachsenen. Tatsächlich ist jetzt nicht wichtig, die Geschichte, die im ländlichen Amerika, in Austin in Texas – wo auch der Regisseur herkommt – spielt, im einzelnen zu verfolgen, denn es hätten auch andere Ereignisse und Szenen sein können, die prototypisch für das Heranwachsen und die daraus resultierenden Konflikte sind.

Dem Film, dem man gerne zuschaut, könnte man höchstens kritisch vorhalten, daß er eine Mittelschichtsfamilie ohne weitere Probleme abbildet, denn tatsächlich gibt es kein einziges wirklich einschneidendes schreckliches Ereignis: kein Tod, kein Unfall, keine Krankheit; die Kinder sind nicht rauschgiftsüchtig, rauchen nicht mal und trinken höchstens einmal ein Glas zu viel. Andererseits sieht so genau der Alltag der allermeisten Familien aus. Zusammenfassend: eigentlich keine großen Krisen im Leben, außer Umziehen, Scheidungen, erneute Beziehungen, Vater am Anfang der Chaot, die Mutter die ordentliche mit Überblick. Am Schluß ist der Vater in einer glücklichen Beziehung und die Mutter unzufrieden und spricht davon, daß mit dem Auszug der Kinder, den sie befürwortete, dennoch alles zu Ende ist und nur noch ihre Beerdigung kommt.



Aus der Pressekonferenz:

Anwesend:

Richard Linklater, Regisseur Drehbuchautor und Produzent

Patricia Arquette, Mutter

Lorelei Linklater, Samantha

Ellar Coltrane, der junge Mason

Cathleen Sutherland, Produzentin



2002 begann er, er hatte den genauen Aufbau im Auge, grob einmal im Jahr gedreht, mal 18 Monate später, mal in kürzeren Abständen. „Ich wollte normales Leben zeigen, zum Beispiel den ersten Kuß, ein kumulativer Effekt kommt zum Tragen. Es geht natürlich um das Verfolgen des Lebens“.

Niemand hat Teile des rohen Films zu sehen bekommen. Die Mitwirkenden haben erst jetzt nach über 12 Jahren den fertigen Film gesehen. „Ich habe versucht, nicht zu selbstbezogen zu sein. Ich habe den Film erst vor zwei Monaten gesehen, das war sehr gefühlsgeladen“, sagt Ellar Coltrane, Lorelei fügt hinzu, das war wirklich sehr merkwürdig, sich da selbst zu sehen. Ich habe ein bißchen geweint.“ Selbst für Patricia war es merkwürdig: “Die Kinder sind erwachsen geworden und wir sind älter geworden. Es war sehr merkwürdig.“

Aus der Sicht der Produzentin ist das größte Risiko das Geld, „Wir hatten nur ein kleines Budget für den Film und wurden jährlich ausgezahlt. 200 000 Dollar pro Jahr.“ Der Regisseur hält fest: „Es gibt dabei natürlich einen gewissen Optimismus, allein, daß wir noch da sind. Man kann kein Kind dazu zwingen, weiter mitzuspielen und seine Tochter hatte zwischendrinnen die Lust verloren und vorgeschlagen, daß sie im Film stirbt, eine Dramatik, die gegen sein Konzept war bei diesem Film zwischen Dokumentation und Spielfilm.Das Gleichgewicht zu halten, war ihm wichtig und das ist eben Sache des Regisseurs.



Der Regisseur: Die Änderungen im Drehbuch ergaben sich nach nationalen Ereignissen, wie der Obamawahl 2008 u.a. und es war der Junge im Mittelpunkt, nicht das Mädchen, das mit seiner Tochter schon da war, die damals Schauspielerin werden wollte. Mit Absicht spielt die Geschichte im ländlichen Amerika, wo die überwiegende Mehrzahl der Amerikaner lebt, deren Erfahrungen dieser Film spiegelt. An Ethan Hawke hatte er bei der Besetzung der Vaterrolle sofort gedacht und Patricia war gerade Mutter geworden und war mit den 12 Jahren Drehzeit einverstanden. „Wir haben wirklich etwas Einmaliges gemacht. Ich bin zufrieden mit den jungen Erwachsenen, wie sie geworden sind. Ellar Coltrane ist der Sohn für mich geworden, den ich selbst nicht habe.“.

Das Vergehen der Zeit ist Thema, aber die kulturellen Änderungen sind unwesentlich. Es gibt die technischen Änderungen, die sind wesentlich, aber im Leben hat sich nicht so viel verändert. Natürlich sind die ausgewählten Szenen im Film willkürlich zusammengestellt.

Patricia Arquette: „Meine Rolle ist durch Linklater festgelegt, aber wir haben meine Rolle zusammen besprochen und das hat sie beeinflußt. Die Mutter ist ja durch das Verlassenwerden erst mal negativ eingestellt gegen den Vater und erkennt überhaupt nicht, welch toller Vater er ist, was sie ihm aber dann nach 20 Jahren sagen kann.

Ellar Coltrane hat beim Drehen gelernt, „wie man ein Sohn ist, die Verwundbarkeit von Olivia und die Szenen, wie sie geschrieben wurden, daraus habe ich für die Beziehung mit meiner Mutter viel gelernt.“ „Wie ist das, wenn der Vater einen ins eigene Filmgeschäft schleift?“, war eine Frage an Lorelei Linklater. „Ich bin nicht gezerrt worden, ich wollte gerne Schauspielerin werden, als Kind, jetzt nicht mehr, jetzt will ich bildende Künstlerin werden.“ Nach Patricia war Ellar ein Tagträumer und starrte Dinge an, sie sind ausgesprochen liebenswürdige Erwachsene geworden. Schöne Menschen, die große ethische Ansprüche an sich selbst haben.

Ein weiterer Journalist bekannte: Ein schöner Film, in den letzten Jahren viele Filme von Linklater gesehen, die zeigen, wie das Leben sein könnte. Die Mittelklasse zerbröckelt, Die Rolle von Olivia zeigt, daß die Bankenkrise auch sie angeht. Was behalten wir als Kinder in Erinnerung, hatte sich der Regisseur gefragt und gemutmaßt: „Ein Kind behält die Wahlen von Obama in Erinnerung, deshalb habe ich sie als Wahlunterstützer eingewoben, aber der Film hat keine andere spezifische Botschaft, als diese 12 Jahre darzustellen.“ Ja, die Mittelklasse trägt die Gesellschaft, diese Dinge kommen in die Welt der Kinder.“, meint Patricia und Linklater endet: „ Es geht eher um den Kampf der Arbeiterklasse und den Kampf einer alleinerziehenden Mutter.“















INFO:

USA 2013, 164 Min

Englisch

REGIE

Richard Linklater

DARSTELLER

Patricia Arquette
Ethan Hawke
Ellar Coltrane
Lorelei Linklater