Die Wettbewerbsfilme der 64. Berlinale vom 6. bis 16. Februar 2014, Film 21
Claudia Schulmerich
Berlin (Weltexpresso) – Konnte man am Vortag im Linklaterfilm BOYHOOD einer problemfreien Kindheit beim Heranwachsen zuschauen, so ist der elfjährige Ramasan aus Tschetschenien, der mit seiner Familie in dieser Enklave von Asylbewerbern namens Macondo am Rande des südlichen Wiens lebt, mit solchen geradezu eingedeckt.
Den Namen, der einen an das Dorf in HUNDERT JAHRE EINSAMKEIT von Gabriel García Marquez erinnert, haben die Bewohner selbst gefunden, wird später die Regisseurin Sudabeh Mortezai bekunden, die die Probleme kennt, denn sie ist das in Deutschland geborene Kind von emigrierten Iranern.Eingeklemmt zwischen Flughafengelände, Autobahn und Donauufer hat sich dort im Wiener Stadtbezirk Simmering hinter Wellblech- und Kasernenmauern eine eigene kleine Welt entwickelt: eine Flüchtlingssiedlung, in der rund 3000 Asylsuchende aus 22 Ländern untergebracht sind.
Einer von ihnen ist der elfjährige Ramasan. Gemeinsam mit seiner Mutter und den beiden jüngeren Schwestern ist er aus Tschetschenien hierhergekommen. Der Vater ist im Kampf gegen die Russen gefallen, so heißt es jedenfalls. Aber die für den Asylantrag notwendigen Papiere sind nicht aufzutreiben. Der Vater ist also tot, zumindest abwesend und Ramasan versucht, dessen Stelle einzunehmen: Er hütet die Schwestern und schiebt der Mutter auch mal das Haar unters Kopftuch und nutzt seine Rolle durchaus als kontrollierender Möchtegern. Die Mutter wiederum ist auf die Kooperation des Jungen angewiesen, denn sie arbeitet tagsüber.
Plötzlich erscheint Isa, ein schwermütiger Mann, der sich als Freund des Vaters ausgibt, es auch sein kann, den er bringt dessen Uhr dem Jungen und ein Familienbild dazu. Das Verhältnis zu diesem Isa ist für Ramasan zwiespältig. Zum einen zieht ihn dieser Mann als Freund- und Vaterersatz an, zumal er ihm ständig hilft, zum anderen sieht er ihn als eine Gefahr für seine Vorzugsrolle bei seiner Mutter, als potentiellen Nebenbuhler also, weshalb er ihm seine Hilfestellungen übel erwidert. Dann gibt es da noch die kleine Gruppe von bösen Buben, die mit Einbruch und Diebstahl angeben und Ramasan in ihre Fänge bekommen. Doch das Unheil naht rasch und seine Verbrecherkarriere ist nur kurz.
Wir erleben den Anfang der Geschichte und die ersten Konflikte, jedoch wird die Szenerie weitergehen und die Probleme für dieses Kind und alle anderen bestehen bleiben. Es ist der erste langen Spielfilm von Sudabeh Mortezai , in dem sie das Porträt eines muslimischen Jungen bringt, der über die Kluft zwischen Ideal und Wirklichkeit in Konflikte gerät. Dabei befindet sich die Kamera stets auf Augenhöhe des jungen Helden, der in einem schwierigen Lernprozess Fragen von Verantwortung und Ehre für sich beantworten muss. Ein Film der leisen Töne und genauen Beobachtungen jenseits von Didaktik und Klischees.
Aus der Pressekonferenz
Anwesend:
Sudabeh Mortezai, Regisseurin, Drehbuchautorin
Ramasan Minkailov, Ramasan
Aslan Elbiev, Isa
Kheda Gazieva, Mutter
Sabine Moser, Produzentin
Oliver Neumann, Produzent
Es geht um das Problem eines Jungen, der ohne Vater aufwächst, aber ein idealisiertes Vaterbild hat, was an mehreren Stellen problematisch wird, erläutert die Regisseurin, die mit Absicht den Film mit Nicht-Schauspielerin drehte.
Welche Erfahrungen sie mit dem Schauspielern gemacht hätten, wurden die Anwesenden gefragt, wobei der sehr selbstbewußte Junge Ramasan als erster antwortete: er sei mit dem Team sehr zufrieden gewesen, er ist 8 Jahre alt, ein Drehtag war nicht so stressig. Die Regisseurin erläuterte ihre Vorgehensweise, chronologisch zu drehen und den Mitwirkenden immer von Tag zu Tag den Inhalt zu transportieren und dann sofort zu spielen, also nicht weiter zu proben, sondern einfach anzufangen.,
Macondo, ein Spitzname für diesen Ort, in dem zuerst Ungarn, Tschechen und Slowaken kamen, erst die Tschetschenen haben es Macondo genannt. Die Regisseurin kommt von den Eltern her aus dem Iran, kam mit 12 Jahren nach Österreich, also hat sie auch eigene Erfahrungen eingebracht, aber vor allem resultiert daraus ihr Interessen, einen solchen Film zu machen.
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Frage nach dem Vater im Film, der die Mutter deren Familie durchaus gegen den Willen der Tochter geraubt hatte. Ein solches Kidnapping galt als normal, wenn Männer ihre Frauen einfach klauen, das war gang und gäbe, daß die Braut entführt wurde, bis vor 10 Jahren üblich, erzählt die Mutterdarstellerin. Warum sie die gute und schlechte Seite des Jungen so auserzählt habe, erläutert die Regisseurin: „Ich habe den Jungen in diesen Konflikt gebracht, um das übersteigerte heroische Bild des Vaters in Frage zu stellen. Er ist der Mann im Haus und kümmert sich um seine Schwestern.“ Das provozierte Fragen wie: Warum verhält er sich so? Warum klaut er in einer solchen Situation, wenn es um die Einbürgerung geht, was negativ ist. „Weil oft die Vernunft nicht bewahrt werden kann, wenn der Junge emotional reagiert.“, ist die Antwort.
Welche Absichten haben die Produzenten? Keine Absichten, den Film geschäftlich zu verwerten. Hier in Macondo ist eigentlich eine gute Situation, denn die Familien haben Wohnungen, eine Wohnsiedlung mit Helfern, die Regisseurin wollte keine klassische Flüchtlingsgeschichte, sondern einen Mikrokosmos entwickeln.