Serie: Die anlaufenden Filme in deutschen Kinos von Mittwoch, 6. Juli 2022, Teil 4
Hanswerner Kruse
Siegheilkirchen (Weltexpresso) - Der Name des imaginären Ortes in Österreich verweist auf Nazireste und Spießertum in den Anfängen der 1960er-Jahre. Der Film basiert auf animierten, aber gerade noch wie echt wirken Figuren, des 2016 gestorbenen Karikaturisten Manfred Deix und ist auch für Menschen geeignet, die keine Animationsfilme mögen...
Rotzbub, der pubertierende Wirtshaussohn, zeichnet nackte Frauen, die zwei seiner geschäftstüchtigen Klassenkameraden als Wichsvorlagen verkaufen. Auf einem Bild fährt die nackte Nachbarin ihre riesigen Brüste im vorderen Fahrradkorb herum. Aus der üppigen nackten Bürgermeisterin wird eine hügelig-erotische Landschaft.
Zur Frage in der Schule - „was will ich als Erwachsener werden?“ - fällt dem Jungen nicht viel ein. Statt den geforderten Aufsatz zu schreiben, zeichnet er ein Daumenkino, in dem sich die Nachbarin mit Rubensfigur entkleidet. Künstler will der Zwölfjährige werden, das könnte er, meint auch der lüsterne Kunstmaler aus der Großstadt. Er soll die verblassten Nazisprüche am Rathaus übermalen, treibt es mit den ledigen voluminösen Frauen im Ort und nutzt den Bub als Helfer zum Farbe anrühren.
Drumherum treiben die Altnazis ihr Unwesen, der Friseur will endlich selbst einmal Führer werden. Der Dorfpolizist ist ständig besoffen, die Bürgermeisterin korrupt und der Pfarrer ein brutaler Despot. Als sich eine Romafamilie in der Nähe von Siegheilkirchen niederlässt, planen die Rechtsradikalen ein Attentat: „Weg mit dem Ungeziefer.“ Rotzbub verliebt sich in die Tochter eines Romaweibs, die jedoch seinen Avancen zurückweist: „Du Dorftrottel!“
Mutter und Tochter sind für Zigeunerinnen, wie man sie damals beschimpfte, erstaunlich emanzipiert. Im wirklichen Leben hätten sie diese Rechte in ihrer Sippe bestimmt nicht gehabt. Rotzbub versucht gemeinsam mit einem Freund der Romas und einem kiffenden Hippie, der in Siegheilkirchen eine neue Kneipe eröffnet, den Überfall auf das Lager der Roma zu verhindern...
Spießertum, Doppelmoral, Gewalttätigkeit, Rassismus und Sex sind die Zutaten, die bereits Deix in seiner grotesken Bildergeschichte „Rotzbub“ zusammen mixte. Allenfalls Liebe und Aufrichtigkeit ermöglichen in seiner coming-of-age-Erzählung hoffnungsvolle Auswege. Bis zu seinem Tod arbeitete der Zeichner an dem Streifen mit, später konnte Markus H. Rosenmüller als Regisseur gewonnen werden, der bereits in seinem Film „Wer früher stirbt ist länger tot“ einen ähnlichen Jungen cineastisch begleitete.
Der Film bringt die gesellschaftliche Situation vor der weltweiten 68er-Revolte derb, unanständig und provozierend auf den Punkt. Es gibt viel zum Lachen - das einem manchmal allerdings im Hals steckenbleibt. Deix und seine Filmemacher wussten, aber auch wir wissen, dass sich die Verhältnisse dann doch noch radikal wandelten. Darüberhinaus ist „Willkommen in Siegheilkirchen!“ eine hinreißende Hommage an den Karikaturisten, die autobiografische Elemente enthält.
Eigentlich sollte der Film bereits 2021 starten, doch bisher wurde er nur auf einigen Festivals gezeigt.
Foto:
Pandora-Film
Info:
„Willkommen in Siegheilkirchen! Der Deix-Film“ Marcus H. Rosenmüller & Santiago Lopéz Jover (Regie), Österreich / Deutschland 2013 - 2021, 85 Minuten, FSK 12